Ein Herz für Hausärzte 23.03.2006, Weltwoche

Ein Herz für Hausärzte
Geht es ihnen schlecht, fehlt uns allen etwas 23.03.2006, Weltwoche
Die Tribüne füllte sich, von oben im Wald hörte man schon die Kuhherde kommen, als Dr. Benedikt Horn, Hausarzt in Interlaken, sich hinter einer Mauer versteckte. Er wartete auf seinen Auftritt als Wilhelm Tell an den Freilichtspielen. Da kam eine Samariterin angerannt: Eine Frau sei am Ersticken.«Geht nicht, Sie müssen den Notfallarzt rufen, ich bin heute Abend Tell, nicht Arzt.»Nach einer Minute kam die Samariterin zurück, beim Notfallarzt sei das Telefon besetzt. «Kommen Sie um Himmels willen sofort.»Im Sanitätszimmer lag eine junge Frau, graublau, nach Luft schnappend, nicht mehr ansprechbar, der Puls schnell, aber gut. Dr. Horn stellte die Armbrust in die Ecke und begann sofort, die Frau zu beatmen. «Den Kopf hatte ich aber bei der Aufführung», sagt er. Da fiel ihm plötzlich ein, dass noch ein zweiter Hausarzt mitspielte. «Schaut nach, ob Urs schon in der Garderobe ist!», rief er zwischen zwei Atemstössen.

Jemand rannte zur Garderobe. In drei Minuten hätte Dr. Horn auf der Bühne stehen müssen. Und tatsächlich: Kollege Urs war da, eilte schon herbei, eingekleidet als Pfarrer.

«No priest», stöhnte der junge Mann, der bleich an der Wand stand, und brach zusammen. Es war der Ehemann, der sich mit seiner Frau, die gerade einen Asthmaanfall erlitt, auf Hochzeitsreise befand. Sofort übernahm Urs das Beatmen, während Benedikt Horn so schnell wie möglich zur Armbrust griff und nur wenig zu spät, aber aus einer falschen Himmelsrichtung kommend, auf die Bühne trat, wo Baumgarten, der soeben den Landvogt erschlagen hatte, auf seinen Retter wartete, der ihn im Föhnsturm über den See bringen wird.

Inzwischen ist Dr. Benedikt Horn pensioniert. Seine Praxis hat er geschlossen, einen Nachfolger konnte er nicht finden. Seinen vielen Patienten sei es gerade noch knapp gelungen, bei einem anderen Hausarzt unterzukommen.

«Wenn er will, steht alles still»

Ein Job, der vor kurzem noch als Traumjob galt, ist in Gefahr. Am 1. April werden die Hausärzte tun, was dieser Berufsstand bis jetzt noch nie getan hat: «Wir gehen auf die Strasse, jetzt reicht’s!» Und auch wenn Hausärzte von Berufs wegen gewohnt sein müssen, sich auf Neues einzustellen ­ für den demonstrativen Gang auf die Strasse unter dem Motto «Gegen den drohenden Hausärztemangel» muss man ihnen extra Mut zusprechen: «Sie haben als Hausarzt mehr Macht und Ansehen, als Sie glauben», appelliert Bernhard Stricker, der Medienbeauftragte der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Medizin (SGAM), im Verbandsorgan. «In Anlehnung an ein analoges Motto der Frauenbewegung liesse sich feststellen: ‹Wenn Hausarzt will, steht alles still.’»

Sein Bruder sei «nicht zwäg», sagt der Mann am Telefon. Letzthin sei er noch im Spital gewesen wegen eines Zwölffingerdarmgeschwürs. Annemarie B., Hausärztin in einem Dorf im Emmental, hat Notfalldienst, lässt sich die Adresse geben, den Flurnamen und die Telefonnummer, dann stöbert sie das Gehöft auf der Karte 1:25000 auf. Sie kennt die Gegend gut, von Hausbesuchen und Fusswanderungen. Es ist trotzdem nicht leicht, in der Finsternis die Abzweigung von der Bergstrasse auszumachen. Zum Glück hat der Mann das Licht draussen angelassen, wie ihn die Hausärztin geheissen hat.

Sein Bruder sei oben im Gaden. Heute Morgen habe er ihn noch mitnehmen wollen zum Holzen, er habe aber nicht gemocht, habe erbrochen. Die Treppe ist steil, eine einfache Gadentür, durch die Spalten zieht der eisige Wind. Der Mann liegt auf dem Bett. 40- oder 45-jährig, bärtig, zerzaust. Er ist tot, steif. Im ganzen Zimmer Blut, eine Lache auf dem Kissen.

Eben erst sei die Mutter gestorben, erzählt der Bruder unten. Er kann es kaum fassen. «Seit dem Tod der Mutter wohnen wir zwei hier allein. Ich war heute als Taglöhner unterwegs, habe beim Holzen und beim Bschütten geholfen.» In der Küche stehen zwei Holzschemel und ein kleiner Tisch mit einem schmutzigen Plastiktischtuch, darauf ein Radio, benutzte Teller und Zeitschriften. Die Ärztin hilft ihm organisieren: Sie ruft die Spitex-Schwester und den Schreiner, welche den Toten zurechtmachen und einsargen werden.

Unter dem Titel «Ein einsamer Tod» beschreibt Dr. med. Annemarie B. dieses Erlebnis kurz danach in der Schweizerischen Ärztezeitung. «Ein einsamer Zurückgebliebener. Alles ist nicht so wie sonst. Und doch irgendwie eine Ruhe, ein redliches Bemühen um Gefasstheit bei diesem einfachen Mann in kargen und unwirtlichen Verhältnissen.» Dann fährt die Hausärztin fort, hin und her gerissen zwischen Berufsstolz und Berufsfrust: «Nachdem ich alles erledigt habe, versuche ich mich an meiner Post. Obenauf die Weiterbildungsunterlagen der FMH. Obschon ich eine gründliche internistische Ausbildung habe und mich permanent weiterbilde, droht mir mein FMH-Titel abhanden zu kommen. Dies deshalb, weil ich nicht die Geduld und Zeit hatte, den Credits [den Belegen für Kurse] nachzurennen. Ob mit oder ohne Titel: Ich werde Ärztin bleiben. Bis jetzt konnte ich den Gedanken an eine Ärztin ohne Titel nicht ertragen, er kratzte an meinem Ego, ich hatte Angst, nicht mehr ‹dazuzugehören›. Doch heute Abend bin ich sicher, dass die Reglementierung, die Gleichmachung, die Schematisierung ­ dass das alles nichts mit dem Arztsein zu tun hat.»

Lernen mit sich selbst

Eine der vielen Forderungen an der Demo vom 1. April lautet: «Weniger Bürokratie!» Der ganze Papierkram absorbiere nur Kraft und Energie.

«Gibt es in zehn Jahren noch Hausärzte?», fragt Michael Deppeler, Jahrgang 1961, Hausarzt in Zollikofen bei Bern. Die Mehrheit der Hausärzte ist heute über 55 Jahre alt, und in Umfragen sagt jeder zweite von allen: «Wenn ich meine medizinische Laufbahn neu beginnen würde, würde ich eine andere Fachrichtung wählen.» Von den heutigen Medizinstudenten will gerade noch jeder zehnte Hausarzt werden.

Ein guter Hausarzt stellt Fragen, wartet auf Antworten, er erzählt Geschichten, und vor allem hört er Geschichten zu. In der Zeitschrift der Schweizer Hausärzte, die unter dem international gängigen Namen Primary Care erscheint, rief Dr. Deppeler seine Kollegen dazu auf, ihre Geschichten zu erzählen: «Wenn ich Sie fragen würde: ‹Was sind Sie für ein Arzt?›, wie würden Sie antworten? ­ Sie würden mir wahrscheinlich eine Geschichte erzählen. Ihre Geschichte. Wie und warum Sie Arzt geworden sind und was Sie als Arzt tun.»

«Als Kind», erzählt Dr. Deppeler seine Geschichte, «wurde ich gefragt, was ich einmal werden möchte. ‹Am liebsten Psychiater›, antwortete ich. Da müsse man nichts tun, nur dasitzen und spannenden Geschichten zuhören.» Als Hausarzt könne er sich diesen Wunsch wohl noch besser erfüllen. «Es ist ein lebenslanges Lernen mit mir selber, gemeinsam mit den Patienten.» Zuhören. Zuhören. Nochmals zuhören.

«Meinem Vater», erzählt Dr. med. Peter Marko, Hausarzt aus St. Gallen, «ging es trotz der Medikamente wieder einmal schlecht. So nahmen wir ihn und Mutter zu uns, um sie zu entlasten, und dachten, auch die Enkelkinder würden ihn etwas aufheitern. Mit dem Ergebnis, dass er jetzt nicht nur an Mutter, sondern an uns allen herumnörgelte. Er war weiterhin missmutig, sah alles schwarz. Es halfen keine Erklärungen, und auch alle Versuche, ihn abzulenken oder aufzumuntern, blieben ohne Erfolg. Seine Unzufriedenheit mit uns wurde schliesslich so gross, dass er einem Klinikaufenthalt widerstandslos zustimmte. Der Oberarzt liess sich von meinem Vater seine Lebensgeschichte erzählen; seine Krankengeschichte schien ihn kaum zu interessieren. Das lange Gespräch wurde immer aufregender, witziger und Vater immer gelassener. Am Ende sagte der Psychiater, es sei sehr interessant gewesen, mit Vater zu sprechen, er bewundere seine geistigen Fähigkeiten. Vater stelle für ihn ein schönes Beispiel dar für die Möglichkeit, sich auch im Alter noch eines ausserordentlich guten Zustands zu erfreuen. Ein Mensch in solcher Verfassung gehöre nicht in eine Klinik.»

Unter dem Titel «Familientherapie» schrieb Dr. med. Peter Marko in Primary Care: «Wir fühlten uns blossgestellt und dachten uns: Mal sehen, wie lange dieses Wunder dauert, wenn wir wieder zu Hause sind. Überrascht und erleichtert stellten wir dann jedoch fest, dass Vaters Verwandlung über längere Zeit anhielt. Vielleicht auch, weil wir mit ihm seither etwas anders umgingen.»

François Héritier, Hausarzt im Jura, Vizepräsident der SGAM, demonstriert am 1. April auf dem Bundesplatz in Bern, weil er seine Arbeit liebe, die Begegnung mit Menschen, das Gefühl des Miteinanders. «Ich liebe die Erinnerungen an Annas Lächeln, an die Falten ihrer Grossmutter, an die Tränen Pierres am Krankenbett seiner Frau, an die ruhige Zuversicht Maries am Abend ihres Todes, an das Glück Evas, als sie erfahren hat, dass sie schwanger war. Ich will an die Zukunft dieser Medizin der Nähe, der Verfügbarkeit, des Zuhörens und der Sinne glauben.»

Im Schnitt treffen auf einen Allgemeinpraktiker gut 1500 Einwohner, Tendenz steigend. Noch kommt es nirgends zu einer Unterversorgung. «Die Hausärzte ziehen sogar auch aufs Land!», beobachtet Dr. med. Franz Marty, Hausarzt in Chur. Er ist in der SGAM für die Statistik zuständig und widerlegt alle Vorurteile, die unter seinen Kollegen kursieren: «Aus unserer Sicht schnitten die peripheren Gebiete besser ab als erwartet. In den letzten acht Jahren wurden 258 Praxen in der Peripherie eröffnet.»

Krankengeschichten

Nehmen sich die Patienten allerdings ihre Hausärzte zum Vorbild, gibt es Letztere bald nicht mehr. Vier von fünf Hausärzten haben keinen Hausarzt, wie sie in Umfragen antworten; sie können sich auch selber zum Spezialisten einweisen. Im Notfall ist das nächste Spital nah, und bald jeder grössere Bahnhof bietet eine Walk-in-Klinik. Ihr Hausarzt, eine Reminiszenz an vergangene Zeiten?

«Dann folgt der Anruf der Kriminalpolizei», erzählt Dr. med. Reta Sandra Tschopp, Hausärztin in Muttenz bei Basel, aus ihrem Notfalldienst. «Ein junger Türke ist erschossen worden, und mir fällt die Aufgabe zu, die völlig verzweifelten Eltern zu beruhigen. Die Mutter will aus dem Fenster springen. Gott sei Dank ist bereits eine Übersetzerin da. Zu dritt müssen wir zuerst die Frau festhalten und so weit beruhigen, dass sie überhaupt zuhört, was wir zu ihr sagen. Schliesslich, nach zweistündigem Zureden und Trösten, gelingt es uns, der Frau ein Beruhigungsmittel zu verabreichen, welches sie zu Beginn mit Händen und Füssen verweigert hatte. Auch der Vater nimmt eine Tablette. Langsam beruhigt sich die Lage etwas. Nun kommt der zweite Sohn nach Hause und kümmert sich liebevoll um seine Eltern. Die Auflehnung weicht allmählich der Trauer, ich nehme die Frau in den Arm und streiche ihr sanft übers Haar. Ich spüre, wie sich ihre Muskeln entspannen. Sie lässt ihren Tränen freien Lauf. Ich denke an unser Kind und daran, wie schnell ein Glück zerstört werden kann.»

Nachzulesen sind solche Geschichten in der Schweizerischen Ärztezeitung, von Kollegen auch «das gelbe Heftli» genannt. «Um 8.00 Uhr beginnt die Sprechstunde mit der ersten Patientin», erzählt Dr. med. Susanne Zurfluh, Hausärztin in Wittenbach SG. «Es handelt sich um eine jüngere alleinstehende Frau mit Übergewicht, welche ich erst seit kurzem betreue. Ich rede mit ihr über die Gefährlichkeit von Übergewicht für den Stoffwechsel und schlage ihr vor, den Bauchumfang zu messen. Das sei eine einfache, günstige, nicht invasive [in den Körper eindringende] und doch recht aussagekräftige Untersuchung. Dabei klagt mir die Patientin beiläufig ihr Leid bezüglich ihres Nabels: Seit Jahren käme da manchmal so weisses krümeliges Zeugs heraus, manchmal fliesse es richtig. Bei der vertieften Exploration des Nabels stosse ich auf eine nicht enden wollende Ansammlung von Detritus [Überreste zerfallener Gewebs- und Zellteile, auch Haut, womöglich mit Bakterien besiedelt]. Dieser Nabel ist vermutlich seit früher Kindheit nie mehr gereinigt worden! Zwanzig Minuten später ist das Gröbste erledigt, und ich muss meine Meinung bezüglich Messung des Bauchumfangs revidieren: von wegen ’nicht invasiv›!»

Im Alltag ist der Hausarzt mit eher unspektakulären Geschichten konfrontiert. «Viele Leute sind langsamer, unflexibler, weniger fit, als es die heutigen Anforderungen verlangen. Diese Leute sehen wir in der Praxis. Dazu gehören nicht nur Asylanten und IV-Anträger, sondern auch das mittlere Kader grosser Firmen, überforderte Familienväter und -mütter, Jugendliche, die keine Arbeit finden, Frühpensionierte, die ein halbes Leben ohne Aufgaben vor sich sehen. Alte Leute, die mir sagen, dass sie ja nur kosten und eine Last für die Jungen seien.» Michael Deppeler ortet einen cri du c¦ur seiner Patienten: «Wir Hausärzte kümmern uns zunehmend um diese ‹zweite Klasse› in der Medizin.»

Und die Hausärzte tun dies sogar «kostengünstig», wie sie am 1. April in Bern auf Transparenten darlegen wollen. Nicolas Siffert, Statistiker im Bundesamt für Gesundheit, bestätigt mit seinen Grafiken, dass die Zahl der Allgemeinpraktiker keinen direkten Einfluss auf die Höhe der Krankenkassenprämien habe. Hingegen steigen die Prämien in den meisten Kantonen schön parallel zur Dichte an Fachärzten. So gesehen ergibt die Hausarztmedizin bereits Sinn, wenn es ihr gelingt, etwas zu verhindern: dass noch mehr Patienten zum Spezialisten oder zum Psychiater rennen, wenn nicht gleich ins Spital. Dann wird’s erst richtig teuer. Ein Augenarzt sorgt im Schnitt für einen Jahresumsatz von 444000 Franken, ein Kardiologe von 377000 Franken, ein Urologe von 325000 Franken, ein Dermatologe von 320000 Franken, während der Allgemeinmediziner in der Statistik des Krankenkassenverbands Santésuisse mit 257000 Franken Jahresumsatz fast bescheiden dasteht.

Tiefere Umsätze schlagen sich nieder in tieferen Löhnen, welche den Hausärzten natürlich ein Dorn im Auge sind. Deswegen demonstrieren sie: weil sie sich als Ärzte zweiter Klasse fühlen, weniger Ansehen geniessen und weniger Lohn verdienen. Mit dem neuen Tarif, dem so komplizierten wie verhassten «Tarmed», hätten die Spezialisten Einbussen in Kauf genommen und die Allgemeinmediziner etwas aufholen sollen. Das wurde den Hausärzten versprochen; aber nicht eingehalten. Auf Anfang dieses Jahres hat Bundesrat Pascal Couchepin auch noch den Labortarif gesenkt. Das brachte das Fass zum Überlaufen.

Schmerz muss sein

«Ich möchte mich kurz vorstellen: Pascal Kissling, Medizinstudent im 6. Jahreskurs an der Universität Basel.» So beginnt ein Leserbrief, publiziert in der Schweizerischen Ärztezeitung. «Ich möchte Hausarzt werden, am besten irgendwo in einer Landpraxis. Schon sehr früh begann ich, mich für meine späteren Absichten zu interessieren, und las auch regelmässig die Schweizerische Ärztezeitung. Seit ich aber nun Woche für Woche diese demütigenden, niederschmetternden Schlagzeilen der armen und immer ärmer werdenden Hausärzte lese, bin ich von meiner initialen Euphorie gehörig heruntergekommen. Die Hausärzte klagen über zu viel Arbeit, schlechte Dienstbedingungen und zu wenig Nachwuchs. Apropos ‹zu wenig Nachwuchs›: Wer will bei diesen Schlagzeilen schon Hausarzt werden? Die Hausärzte sägen mit dieser Propaganda am eigenen Ast.»

Inzwischen ahnen selbst jene Hausärzte, die die Demo in Bern organisieren, dass sie besser nicht zu sehr auf dem Thema Löhne herumreiten, sonst geht der Schuss am 1. April nach hinten los. Die Hälfte der Hausärzte verdient mehr als 178000 Franken (AHV-pflichtiges Einkommen, also vor allen Abzügen für Pensionskasse etc.). Das bleibt aus Sicht der normalverdienenden Patienten ein anständiger Lohn.

Wie viel sie dafür leisten, hängt vom einzelnen Hausarzt ab ­ und auch von der Zahl seiner Patienten. Ist der Terminkalender nicht ganz voll und auch das Wartezimmer nicht, dann nimmt sich der Hausarzt eher etwas mehr Zeit für eine Konsultation. Ob das dem Patienten wirklich dient, darüber streiten sich die Gelehrten. «Wir Hausärzte haben ein heimliches Interesse daran, auch leichte Störungen als Krankheiten zu handhaben», schreibt der deutsche Buchautor und Hausarzt Wilfried Deiss. «Harmlose Muskelverspannungen und Cholesterinerhöhungen werden zu Gründen für regelmässige Arztbesuche.» Oft komme dann ein verhängnisvoller Prozess in Gang: «Menschen reagieren auch bei leichten Störungen mit übertriebener Sorge und Angst, verlieren das Vertrauen in ihren Körper und glauben fortan, bei jeder nur erdenklichen Störung des Wohlbefindens ärztliche Hilfe aufsuchen zu müssen.» Am Ende gehe «die Fähigkeit verloren, mit Krankheiten zu leben, anstatt dauernd und chancenlos gegen sie anzukämpfen. Wir vergessen, dass trotz eines noch so erfolgreichen Medizinsystems das Leiden unabänderlich zum Menschsein gehört.»

Gleiches beobachtet Dr. Deppeler. Viele seiner Patienten haben Rückenweh und zugleich Angst. Die wünschen sich dann «die Röhre» (eine Computertomografie, abgekürzt CT), obwohl er ihnen oft davon abrät. Einerseits, weil ein neuer Befund auftreten könnte, der mit den Schmerzen, die der Patient zurzeit spürt, nichts zu tun hat. Andererseits, weil jene Schmerzen, welche der Patient spürt, oft gar nicht sichtbar werden, selbst mit den besten technischen Hilfsmitteln nicht.

Der leitende Patient

«Seit Mitternacht quälen mich Schmerzen im Unterbauch sowie ständiger Harndrang, zudem brennt es beim Wasserlösen stark. Ich habe auch etwas Blut im Wasser gesehen. Ich möchte, dass Sie etwas dagegen tun. Wann kann ich zu Ihnen kommen?» ­ Was soll Conrad Eugster, Hausarzt in St. Gallen, der Notfalldienst hat, mitten in der Nacht tun? Zu einem Medikament raten, viel Tee und warmen Wickeln? Die jüngere Frau am andern Ende der Leitung kommt der Antwort zuvor: «Wissen Sie, ich habe bereits sehr viel Tee getrunken, und Medikamente zur Behandlung habe ich nicht bei mir. Eigenartigerweise sind genau gleiche Beschwerden vor Monatsfrist aufgetreten, ebenfalls um Mitternacht, auch damals brauchte ich einen Notfallarzt.»

Dr. Eugster offeriert einen Termin in einer halben Stunde, morgens um vier in der Praxis. Er macht eine Urinprobe, im Schnelltest sind mehrere Parameter positiv. Fieber hat die Patientin nicht, und Flankenschmerzen verneint sie. Eine Blasenentzündung.

«Besser, Sie nehmen gleich eine grössere Schachtel des Antibiotikums mit.» Für die Behandlung jetzt reiche zwar die eine Hälfte des Inhalts. «Aber die andere Hälfte wollen Sie bitte dann gebrauchen, falls sich wieder eine nächtliche Blasenentzündung ankündigen sollte.»

«Gute Idee, Herr Doktor. Dann meinen Sie, dass ich vielleicht nächstes Mal keinen Notfallarzt zu beanspruchen brauche?» Der Arzt nickt, seine Patientin scheint ihn verstanden zu haben. Etwas später, es ist noch dunkel, klingelt das Telefon erneut. «Herr Doktor, ist es normal, dass ich immer noch ständigen Harndrang sowie Brennen beim Wasserlösen spüre?» Völlig normal. Die Medikamente wirken in zwei bis drei Stunden.

So läuft das: Der Patient entscheidet, wann ein Notfall vorliegt, und der Arzt findet adäquate Antworten. Es ist auch oft der Patient (oder ein Angehöriger), der sich zur Konsultation anmeldet. Hat ein Hausarzt eine florierende Praxis, sieht er pro Tag zwanzig bis dreissig, manchmal noch mehr Patienten. Hinzu kommen zwei, drei Hausbesuche. Am Abend, nicht selten auch in der Nacht, klingelt das Telefon. Diese vielen Konsultationen, oft im 15-Minuten-Takt, bedeuten: Jedes Mal trifft der Arzt mindestens einen Entscheid. Auch Nichtstun ist ein Entscheid.

Berufsrisiken und -nebenwirkungen

10. April 2003. Eine Frau aus der Region Interlaken-Oberhasli teilt dem diensthabenden Pikettarzt mit, ihr Mann klage seit einigen Stunden über wiederkehrende dumpfe Schmerzen entlang des Schlüsselbeins bis in die Oberarme. Der Arzt bietet sofort einen Hausbesuch an, was die Frau ablehnt. Kurz danach taucht der Mann, es ist halb elf abends, in der Praxis auf. Statt wie empfohlen den Lift zu nehmen, steigt der 58-Jährige die 42 Treppenstufen zu Fuss hoch und kommt, so sein Arzt, «mit leichter Atemnot» oben an.

Im Lauf der dreiviertelstündigen Untersuchung stellt sich heraus: Der Mann leidet an Übergewicht, zu hohem Blutdruck, an Zuckerkrankheit und beruflichem Stress. Der Arzt macht ein Elektrokardiogramm (EKG), das er als «unauffällig» einstuft. Abschliessend ermahnt er seinen Patienten, dringend den Hausarzt aufzusuchen, um die Sache gründlich abzuklären. Dann schickt er ihn mit einem Rheumamittel nach Hause. «Ich dachte, die Schmerzen kommen vielleicht von einer Gsüchti her.» Eine gute Stunde später war der Patient tot. Zu Hause im eigenen Bett erlag er einem akuten Herzversagen.

Im Januar dieses Jahres fand der Prozess statt. Der Arzt gab zu bedenken, er habe damals einen «sehr strengen Tag» mit sechzehn Notfällen und vierzehn gewöhnlichen Patienten hinter sich gehabt. Aber er stand offen zu seinem Fehler: «Ich hätte den Mann ins Spital schicken müssen.» Ein Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern besagte, dass der Arzt beim EKG «gewisse Auffälligkeiten» hätte erkennen können und dass er «die Risikofaktoren» hätte zum Anlass nehmen müssen, den Mann umgehend ins Spital einzuweisen, was «den Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte». Der Einzelrichter verurteilte den Arzt wegen fahrlässiger Tötung zu zehn Tagen Gefängnis bedingt und einer Busse von zweitausend Franken.

Dem Verurteilten macht sein Versagen noch heute zu schaffen. Seither biete er bei Notfällen im Zusammenhang mit Brustschmerzen in jedem Fall gleich eine Ambulanz auf. Ob das geholfen hätte? Ein Berufskollege, Dr. med. Kurt Bettler aus Herzogenbuchsee, meldet sich mit einem Leserbrief in der Zeitung Bund: «Ich möchte in diesem Zusammenhang die Fortsetzung einer sehr ähnlichen Geschichte erzählen, die ich als Assistenzarzt in einem renommierten Spital unseres Kantons erlebt habe. Der Anfang beider Geschichten ist praktisch identisch; hier hat der Hausarzt den Patienten aber unverzüglich ins Spital eingewiesen. Der Patient war absolut nicht einverstanden, mit der Ambulanz mitzukommen, fuhr mit dem Auto selber hin, erschien dann zu Fuss in der Spitalaufnahme, wo er zusammenbrach. Obschon er innert Sekunden vom Notfallteam reanimiert wurde und sofort auf die Intensivstation kam, konnte er nicht gerettet werden.» Dann setzte der Arzt seine Schlusspointe: «Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit können auch Richter irren.»

Den Stress im Beruf erachten 44 Prozent der Hausärzte als «stark» beziehungsweise «sehr stark». Einer von fünf Hausärzten zeigt Burnout-Symptome. Das ergab eine epidemiologische Studie, die das Kollegium für Hausarztmedizin, unterstützt von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, quasi «in eigener Sache» durchgeführt hat. Der Arzt und sein Patient sind sich manchmal näher, als beide denken.

38 Prozent der männlichen Hausärzte deklarieren, «sechs oder mehr Standardgetränke [ein Glas Wein, eine Stange Bier] aufs Mal» zu trinken. 65 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte, deutlich mehr als die übrige Bevölkerung, geben an, im Laufe der vorangegangenen Woche irgendein Medikament eingenommen zu haben, in neun von zehn Fällen in Form von Selbstmedikation. Am häufigsten verabreichen sich Hausärzte Schmerz-, Blutdruck-, Beruhigungs-, Schlafmittel und Antidepressiva.

«Medikamente nicht nur schlucken ­ auch im Garten verwenden», rät gar Thomas Walser, Hausarzt in der Stadt Zürich, auf der Internet-Seite www.hausarzt.ch seinen Berufskollegen. «Serbelnde Pflanzen sollen mit etwas Aspirin im Giesswasser wieder besser gedeihen! Digitalis, ein Herzmittel, soll das Wachstum der Bäume anregen.» An einem andern Tag ermuntert Dr. Walser seine Berufskollegen: «Nehmen Sie den Chloräthyl-Kühlspray in den Sack, wenn Sie Ihren Fifi Gassi führen. Muss Fifi seine animalische Notdurft befriedigen, zücken Sie locker den Spray und lassen die weiche, duftende Scheisse in Kälte erstarren. Dreimal Pfff, und Sie fassen zu, ohne den kleinsten Kackefleck auf Ihren wertvollen Docfingern!»

Zu jenen Fragen, mit denen sich die Hausärzte in den letzten Jahren vermehrt befassen müssen, gehört jene nach der Invalidität. Wann ist ein Patient arbeitsunfähig und zu wie viel Prozent? Dr. Deppeler erzählt: «Eine 62-jährige Sizilianerin mit kaum einstellbarem metabolischem Syndrom leidet seit einer schweren Nierenbeckenentzündung an ängstlich-depressiven Zuständen. Sie hat Angst, dass mehr dahintersteckt als ’nur› eine Entzündung, vielleicht ein Tumor, so wie bei ihrem Ehemann vor über sieben Jahren. Nun ist noch eine ‹frozen shoulder› [Kapselschrumpfung in der Schulter] dazugekommen; für sie ein Zeichen, dass ihr Körper nun so verbraucht sei, dass sie eigentlich nicht mehr arbeiten möchte, sonst sei sie bis zur Pensionierung endgültig ein körperliches Wrack und reif für das Pflegeheim, wenn sie überhaupt noch leben würde. An eine Putzarbeit im Behindertenheim war vorerst nicht mehr zu denken, eine längere 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit die Folge. Nach aufbauenden Gesprächen, intensiver Physiotherapie sowie Einsatz verschiedener Medikamente schien eine 50-prozentige Arbeitsfähigkeit realistisch, allerdings hätte der Arbeitgeber zumindest vorübergehend eine entsprechende leichtere Beschäftigung innerhalb des Betriebes anbieten müssen.

Nach zwei Gesprächen wurde klar, dass dies nicht möglich war. Der Arbeitgeber unterstützte die Patientin und mich als Hausarzt, die Patientin doch bis zur Pensionierung auf eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit geschrieben zu lassen, zeitlich würde es gerade gut aufgehen.»

So geschah es. «Ein stiller Kompromiss, ein fast schon optimales Case-Management», wie Hausarzt Dr. Deppeler kritisch kommentiert. Die Krankentaggeldversicherung zahlt noch immer, im September feiert die Frau ihren 64. Geburtstag. Allerdings sei sie «noch immer verunsichert und depressiv».

«IV-Berichte stressen mich, alle, immer», schreibt der Berner Hausarzt und Chefredaktor von Primary Care, Dr. med. Bruno Kissling, denn das ganze Umfeld sei «verlogen». Die Medien reden von «Scheininvaliden» und «Gefälligkeitsgutachten der Ärzte», während die Patienten ausgebootet werden wegen eines Handicaps, «das für sich allein nie zu einer Dauer-Erwerbsunfähigkeit führen müsste», wie jeder Arzt wisse. Der Hund liege doch meist darin begraben, dass es heute die «nötigen Arbeitsnischen» nicht mehr gebe.

Der Arzt ist Partei. Und wenn er bisweilen nichts anderes tut, als Geschichten zuzuhören, dann hört er diese Geschichten natürlich immer aus der Optik der Opfer. Klar kann er nachfragen, klar kann er zweifeln. Aber er wird immer eine einseitige Sicht der Dinge haben, von Berufs wegen. Das weiss jeder Hausarzt, das weiss auch jeder Patient. Gerade deswegen kann zwischen diesen beiden etwas entstehen, was es sonst kaum mehr gibt: Nähe. Kein anderer Berufsstand kommt so dicht ans Leben heran wie Ihr Hausarzt.

Übersicht