Frischgepflasterter Lebenslauf Assessment bei einer Kaderschmiede: Ein Selbstversuch 03.08.2006, Weltwoche

Frischgepflasterter Lebenslauf
Assessment bei einer Kaderschmiede: Ein Selbstversuch 03.08.2006, Weltwoche
Die Angst vor der Prüfung fängt damit an, dass man sich nicht vorbereiten kann. «Wir empfehlen Ihnen, sich frisch und ausgeruht in unseren Räumlichkeiten einzufinden.» Das ist alles, was die Einladung hergibt. «Wir wollen Sie als Menschen verstehen», sagen Herr Schmid und Frau Bürgi zur Begrüssung. «Dafür haben wir genau einen Tag lang Zeit.» Ziel ist eine Standortbestimmung ­ von mir, Markus Schneider. Am Abend werden mich die beiden einschätzen, und zwar in dreifacher Hinsicht: sozial, konzeptionell, individuell. Wobei sie mit der dritten Dimension nichts Geringeres als mein Persönlichkeitsformat meinen.Die Räumlichkeiten befinden sich in einer alten Villa in Zollikon an der Zürcher Goldküste. Eine der ersten Adressen für «Assessments und Entwicklung von Individuen». Hier werden fast jeden Tag Leute eingeschätzt: nicht Journalisten wie ich, sondern Führungskräfte, oberste Etage. «Manres» heisst die Firma, das englische man steht für Mensch, das lateinische res für Sache. Auch der Slogan auf der Homepage ist international: «We help business leaders to transform successfully.» Im Zimmer, in dem die Prüfung stattfinden wird, fühlt man sich eher in einer Stube als in einem Büro. In der Mitte ein antiker Tisch, vier Stühle. In der einen Ecke ein Computer, in der andern ein Flip-Chart. Das grosse Bild an der Wand zeigt einen Stich der Stadt Zürich im Mittelalter. Aus dem offenen Fenster hinaus gibt’s die freie Sicht auf den See.Herr Schmid ist ein Walliser, der auch so spricht und ohne viel amerikanischen Slang auskommen wird. Er tritt auf, wie die meisten Leute, die hierher kommen, gern auftreten möchten: offen, bereit, direkt, tough. Frau Bürgi wirkt nicht so geschliffen wie eine Business-Woman. Aber dass sie psychologisch geschult ist, spüre ich sofort. Die beiden suchen meinen Augenkontakt, dann erklären sie mir den Tagesablauf. Man werde verschiedene Übungen und Tests durchführen. Kernstück wird ein mehrstündiges Interview sein: am Vormittag eher übers Persönliche, am Nachmittag eher übers Berufliche. Die Spielregeln: Alles, was auf den Tisch kommt, bleibt hier drinnen. «Und wenn es Ihnen zu persönlich wird, haben Sie jederzeit das Recht, ‹Stopp› zu sagen.» Das werde nicht negativ bewertet. Dasselbe, wenn ich eine Pause brauche, da soll ich mich einfach melden.Nach dieser Einführung verlassen sie den Raum. Frau Steinmann tritt ein, die zuvor als Empfangsdame gewirkt hat. Jetzt erklärt sie mir die erste Aufgabe. Die Fallstudie. Ich sei der externe Berater, erhalte nun die Unterlagen und 75 Minuten Zeit, mich vorzubereiten, um anschliessend vor Herrn Schmid und Frau Bürgi eine 15-minütige Präsentation zu halten.

In der Mappe etwa zwanzig lose A4-Seiten. Organigramm, Umsatz- und Mitarbeiterzahlen, einzelne Mails, Memos, einige Zeitungsartikel, Firmenpost an die Mitarbeiter, Anfragen von Kunden, Leitsätze. Alles durcheinander, chronologisch ungeordnet. Drei Firmen unterhalb des Holdingdachs, alles Kunstnamen. Ort: irgendwo in Südostasien. Ich, allein im Zimmer, brauche lange, bis ich genug Übersicht habe, um Notizen zu machen. Dann ist es aber schon so spät, dass ich gleich systematisch werden muss: Problem 1 bis 4, Lösung 1 bis 4, ein kurzer Gang auf die Toilette, und die Zeit ist um.

«Selamat pagi», begrüsse ich Schmid und Bürgi (so stand es in einem Mail, und von meinen Indonesienreisen wusste ich: das heisst «Guten Morgen»). «Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.» Der Einstieg ist geglückt; doch was danach folgt, ist ein unpräzises Gerede über die Stärken der Firma, wo ich doch gerade darüber nichts sagen wollte («die Stärken kennen Sie besser als ich»), bis ich spät, zu spät auf den Punkt komme: «Gestern gab’s diese Explosion in der Fabrik.» Dann kurve ich um die vorbereiteten vier Probleme und vier Lösungen, aber wie gesagt: ich kurve, etwa indem ich Tipps zu einer Reorganisation gebe, die «auf später» zu verschieben sei. Zur Schlusspointe («Terimah kasih banyak») habe ich den Mut verloren; also danke ich auf Schweizerdeutsch.

Herr Schmid hebt den Finger: «Sie sagen, wir sollen in den nächsten Tagen unsere volle Kraft in die Produktion unserer neuen Kollektion legen. Aber seit gestern stehen diese Maschinen doch still.» ­ Ich, der begossene Pudel, bringe kein Wort heraus. Pause. Habe ich überlesen. «Doch, das steht in den Unterlagen.» Ich stammle herum und lege offen, wie ich reagiere, wenn ich unter Druck gerate.

Feinpsychologische Tiefenbohrung

Frau Steinmann bringt die nächste Aufgabe, diesmal nur ein A4-Blatt. Das Mitarbeitergespräch. Ich bin der neue CEO, seit drei Wochen im Amt, und bitte nun einen Kadermitarbeiter zum Gespräch. Der Anlass: ist in den Unterlagen kurz skizziert und schon beim ersten Lesen klar. Trotzdem erhalte ich 15 Minuten Zeit, mir eine Strategie zu überlegen und Notizen zu machen. Dann kommt Frau Bürgi, und mit ihr bespreche ich vor, welche Ziele ich im Gespräch erreichen will. Anschliessend setzt sie sich in die Ecke; sie werde zuhören, beobachten ­ und nur einschreiten, falls es mir nicht gelinge, das Gespräch nach 15 Minuten zu beenden.

Herr Schmid tritt ein, als Leiter Business Unit noch tougher als zuvor. Prompt verhasple ich den Start. Vor lauter Vorbereitung mit Frau Bürgi über Absichten und Gefahren («es soll unter keinen Umständen eskalieren!»), habe ich die Worte vergessen, mit denen ich das Gespräch so locker wie möglich eröffnen wollte. Ich bin nervös, mein Gegenüber wird forsch. So forsch, dass ich allmählich etwas Tritt fasse, indem ich nachfrage. Also muss er konkret werden, Vorschläge bringen ­ und ich schiebe alle Entscheidungen hinaus. Obschon ich wie üblich keine Uhr trage, bringe ich das Gespräch rechtzeitig zu Ende.

Jetzt beginnt das Kernstück. Das Interview. Die erste Frage ist sehr allgemein. Ich hole aus, rede, so offen mir das möglich ist, über meine frühe Kindheit, die soziale Herkunft, die späte Pubertät. Über meine Mutter rede ich sogar ausführlich. Dann komme ich zum Beruflichen und am Ende zu meinen Kindern, 12 und 14, die an sich selber fast schon so hohe Ansprüche stellen wie ich an mich. Herr Schmid und Frau Bürgi lassen mich reden; wenn sie nachhaken, tun sie es sachte und einfühlsam. «Was können Sie wirklich gut?» «Was macht Ihnen echt Freude?» «Wo können Sie Ihre Zeit vergessen?» Und gegen Ende: «Wenn Sie in einer Skala von 1 bis 10 messen müssen, wie viel haben Sie bis jetzt von Ihrem Potenzial ausgeschöpft?» ­ Ich antworte mit «6».

Obwohl das Assessment seit 8.30 Uhr andauert, traue ich mir zu, noch vor dem Mittagessen den ersten von zwei dreissigminütigen Computer-Tests einzuschieben. «Zahlen oder Wörter?» Als Zahlenmensch sage ich «Zahlen». Frau Steinmann zeigt mir den Test, lauter Dreisatz- und Prozentrechnungen, mein Spezialgebiet. Wenn ich etwas kann, dann das. Doch ausgerechnet jetzt will und will mein Kopf nicht. Ich bin müder, als ich dachte. Als die Zeit vorbei ist, habe ich gerade die Hälfte der Aufgaben gelöst. Es ist 13.10 Uhr, um 13.40 Uhr gehe es weiter. Mittagspause. In «Louis› Bistro», oben auf dem Dorfplatz, wähle ich das Menü, das am schnellsten auf dem Tisch ist (Rehgeschnetzeltes), und bin pünktlich zurück.

Frau Steinmann bringt mir einen «Psycho-Test». Den Persönlichkeitsfragebogen. Aus vier Alternativen muss ich jeweils zwei Aussagen ankreuzen: diejenige, die «am besten», diejenige, die «am wenigsten» zu mir passt. Es gibt vierzig Blöcke mit je vier Aussagen, die schon bald immer gleich oder ähnlich tönen. «Gehe ich an eine Party, stehe ich meistens etwas abseits»: Trifft diese Aussage «am besten» oder «am wenigsten» zu? Um zu antworten, muss ich auf die drei andern Aussagen achten, welche mit der Zeit ebenfalls immer gleich oder ähnlich tönen.

Es beginnt das Interview, zweiter Teil. Nun fragen Herr Schmid und Frau Bürgi härter, zum Beispiel rund um meine selbstgewählte Rolle als Einzelkämpfer. Ob es Momente gebe, in denen ich kein Einzelkämpfer sei? Warum traue ich mir beim schriftlichen Ausdruck so viel zu, beim mündlichen Ausdruck so wenig? Oder: «Was fehlt Ihnen, um Referate zu halten, mit denen Sie zufrieden sind?» Mir fehlt die Souveränität, das Charisma, die Schlagfertigkeit, die Freude, ja der Genuss am Auftritt. «Können Sie auch spontan sein?» Über diese Frage muss ich so verdammt lang nachdenken, dass ich mir eine Antwort ersparen kann. Dann zähle ich auf, was mir alles zum Chef fehlt: dass ich nicht motivieren, Esprit versprühen, Begeisterung auslösen könne, dass ich Konflikte kaum früh genug erkennen und damit zu spät reagierten würde. «Für was wurden Sie als Kind gelobt?» Mit der Zeit beginnt Herr Schmid, mir einzelne Worte aus dem Mund zu pflücken: «ein bisschen», «vielleicht», «eher», «nicht ganz», «eigentlich», «mehr oder weniger». Immer diese Relativierungen, ich sag’s ja, ich hinterfrage mich dauernd selber, und darum eigne ich mich auch nicht, vor vierzig oder fünfzig Leuten aufzutreten, sondern allenfalls vor vier oder fünf. Woher ich das wisse, wenn ich das andere nie getan habe? Irgendwann sagt Herr Schmid: «Sie sind eine Diva.» Er ist nicht der Erste, der mir das sagt, da wird was dran sein. Zum Schluss des zweiten Interviews sagt er: «Ich glaube, ich habe Sie jetzt verstanden», und schaut zu Frau Bürgi hinüber. «Ich bin auch so weit», sagt sie.

Jetzt noch der zweite Computer-Test. Ich muss einen kurzen, gestelzten Text lesen. Anschliessend folgen drei Aussagen, und die sind ­ immer bezogen auf den Text ­ entweder a) «richtig», b) «falsch» oder c) «unklar, da die Antwort nicht aus dem Text hervorgeht». Nach meinen Erfahrungen mit dem Zahlentest kurz vor Mittag antworte ich schneller, als ich denken kann. Prompt bin ich zu früh fertig. Ich darf die Zeit nutzen, ändere etwa jede fünfte meiner Antworten ab, völlig unsicher, ob ich sie verbessere oder verschlechtere.

Um 17 Uhr ist es Zeit für eine erste Bilanz. Wie es mir ergangen sei. ­ «Ich fand es angenehm», antworte ich; schliesslich kennen mich Herr Schmid und Frau Bürgi jetzt so gut, dass sie wissen, dass ich mich nicht anbiedern will. Ich fand es tatsächlich angenehm, nichts von «ekligem» Examen. Was ich darauf zurückführe, dass ich freiwillig kam, während die meisten Leute hierher geschickt werden ­ zur Selektion. Die empfinden es womöglich anders, weil nun eine unabhängige Stelle abklärt, ob sie für einen Topjob geeignet sind oder nicht. Also darf ein Assessment auch etwas kosten (zwischen 6000 und 15000 Franken). So gesehen war mein Fall untypisch: Ich bin ja nur ein Journalist, der es aber immerhin ernst meint und herausfinden will, was er in seinem Leben noch alles anstellen kann.

Die Antwort erhalte ich jetzt: Das Kurz-Feedback. Herr Schmid beginnt mit meinen «Stärken», denn ich hätte «sehr viele Stärken», die er mit Worten beschreibt, die ich sofort als übertrieben empfinde: Ich sei eine «Respektsperson», könne «unglaublich vernetzt denken», sei «empathisch», verfüge über ein «enormes Mass an gesundem Menschenverstand», und so weiter. Frau Bürgi ergänzt: «Sie sollten sich sozial mehr einbringen, Ihre Mitwelt an Ihren Qualitäten teilhaben lassen.» Die beiden reden weiter und weiter, bis Herr Schmid zu meinen Schwächen kommt, «endlich», weil er wisse, dass ich ihm erst jetzt richtig zuhören werde. «Sie schöpfen Ihr Potenzial auf der Skala von 0 bis 10 maximal bis zur 4 aus.» Er redet weiter, ich höre zu, aber Herr Schmid täuscht sich: ich höre zwar zu, aber ich nehme nichts mehr auf. Ich bin nudelfertig, k.o. ­ erschlagen vom Lob dieser beiden Psychologen.

Entwicklungsschwerpunkt Ego-Kräfte

Auf dem Heimweg fühle ich mich geradezu euphorisch. Das macht mich natürlich sofort misstrauisch: Die haben mir den Kopf verdreht, das Gehirn gewaschen. Doch überraschenderweise dauert diese Euphorie an. Vier, fünf, sechs Tage.

Am siebten Tag überreicht mir Herr Schmid den schriftlichen Bericht. Zehn Seiten stark, ohne das Wort «Diva» drin. Es gibt sogar Noten: nicht von 1 bis 6 wie in der Schule, sondern von A bis D. Hier kann sich kein Kandidat mit einem «genügend» durchmogeln, in diesem Assessment kommt man entweder an (Noten A und B), oder man blitzt ab (Noten D und C), was positiv ausgedrückt heisst: Diese Kandidaten erhalten ihr Entwicklungspotenzial formuliert. «Die Bestnote A vergeben wir wirklich nur bei Topleistungen, wer fünf B und ein C hat, ist schon hervorragend», erläutert Herr Schmid. Ich bekomme drei B und drei C und bin fast stolz.

Ein Espresso wird serviert, dann werde ich allein gelassen. Das Fazit des Berichts lautet im ersten Abschnitt: «Herrn Schneiders[45] Stärken liegen in seinem lupenreinen und substantiellen Output, seiner Eigenständigkeit, seinem Pragmatismus in Drucksituationen, seiner Bescheidenheit als Individuum und seinen Qualitäten als anschlussfähiges Teammitglied.» Im zweiten Abschnitt: «Wenig ausgeprägt sind seine interaktiven und sprachlichen Möglichkeiten in Ad-hoc-Situationen ­ insbesondere Präsentationen, die Integration seiner emotionalen Anteile sowie seine Ego-Kräfte ausserhalb seiner Rolle als Fachmann.» Im dritten Abschnitt: «Entwicklungsfelder liegen im Bereich seiner Persönlichkeit: Indem er seine emotionalen Anteile vermehrt integriert, seinen Selbstanspruch und situativ Mögliches in Einklang bringt und seine Ego-Kräfte offensiver nutzt, gewinnt er sowohl an Impact wie auch an Flexibilität bei spontanen Interaktionen.» Ich ärgere mich nur über die Sprache, diese Mischung aus Manager- und Psychologen-Slang, ansonsten könnte ich den Bericht glatt unterschreiben.

Herr Schmid sieht, dass ich den Espresso nicht angerührt habe. Offensichtlich war der Bericht spannend. Was ich daraus lernen könne? Brav weise ich auf die Empfehlungen auf der letzten Seite. Ein Assessement, wird mir erklärt, sei eben nur eine Standortbestimmung und damit erst der Anfang. Herr Schmid, Frau Bürgi und die andern sieben Berater von Manres wollen ihre Kunden nicht nur einschätzen, sondern anschliessend coachen und entwickeln, damit diese wachsen und am Ende, wie der Firmenslogan verspricht, «erfolgreich transformieren». Zu mir sagt Herr Schmid: «Wenn Sie einmal 80 Jahre alt sind, dann fragen Sie sich bitte: Habe ich etwas verändert, als ich am 30.6.06 das Development Center durchlaufen habe, oder habe ich nichts verändert?»

Damit ich diese Frage dereinst mit «Ja» beantworten kann, muss ich ab sofort «als Integrationsfigur agieren», mich «als Individuum einbringen, eigene Bedürfnisse kommunizieren», «Risiken eingehen, auch im Zwischenmenschlichen», meine «Potenziale als seniore Respektsperson nutzen und vermehrt als Coach fungieren», «Emotionen einsetzen», «Mut zum ‹Halbfertigen’» zeigen und «eigene Visionen und Zukunftsbilder proaktiv kommunizieren». Selbstverständlich muss ich «Presentation Skills entwickeln», und zuletzt wird mir empfohlen, mich «unabhängig von äusseren Erwartungen» zu machen und insbesondere vom «Mangelfokus» auf den «Entwicklungsfokus» umzustellen. Alles klar, ich soll endlich damit aufhören, stets nur darauf zu schauen, was ich nicht kann; das behindert mich bei allem andern, was ich könnte.

Wie ich mich diesmal auf den Heimweg mache, ist die Euphorie weg. Aber ich wage zu behaupten, dass ich bereits begonnen habe, gewisse Empfehlungen umzusetzen.

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