Gefangene eines komplizierten Systems Nach Swissfirst reden alle von der freien Wahl der Pensionskasse. Schön. Nur: Diese Wahl zur freien Wahl haben wir nicht. 24.08.2006, Weltwoche

Gefangene eines komplizierten Systems
Nach Swissfirst reden alle von der freien Wahl der Pensionskasse. Schön. Nur: Diese Wahl zur freien Wahl haben wir nicht. 24.08.2006, Weltwoche
Das Problem mit der Pensionskasse beginnt damit, dass wir uns nicht für sie interessieren. Viel zu kompliziert. Und selbst wenn wir uns einarbeiteten, würden wir erfahren, dass wir ohnehin nichts ändern können, selbst wenn wir wollten. Als Arbeitnehmer sind wir gefangen ­ in der Kasse der Firma, bei der wir angestellt sind.«Wir sorgen vor», heisst es, aber das ist eine kollektive Illusion. Wir sorgen nicht vor, für uns wird vorgesorgt. Weder können wir sagen, wie viel Geld wir auf die Seite legen wollen, noch können wir bestimmen, wie unser Geld investiert wird, ob aggressiv oder konservativ. Alles geht automatisch, schön nach der Praxis in der Kasse unserer Firma. Zwar muss sich diese Kasse an ein Gesetz halten, von dem wir nur die Abkürzung kennen (BVG). Dieses Gesetz regelt die minimalen Leistungen, doch gehen die meisten Kassen über dieses Minimum hinaus ­ freiwillig, während wir Versicherten diesen Schritt zwangsweise mitmachen. Schon damit wird klar: Die Vielfalt ist gross, fast jede Kasse erfüllt das BVG auf ihre Weise.Uns bleibt, zu tun, was wir tun müssen. Wir zahlen ein ­ blind und brav. Laut BVG wird der Lohn bis maximal 77400 Franken versichert; bis hierher geht der «obligatorische Bereich». Was darüber hinausgeht, wird «überobligatorisch» genannt ­ aber «obligatorisch» von uns verlangt. Wir müssen weiter zahlen und haben weiterhin nichts zu sagen.Wie hoch unser Beitrag ist, sehen wir dann auf dem Lohnausweis (z.B. 500 Franken). Was wir nicht sehen, ist die Tatsache, dass der Arbeitgeber für uns nochmals mindestens dieselbe Summe einzahlt. Und wer nun denkt, er spare 2 · 500 = 1000 Franken für sein Alter, liegt falsch. Jede Pensionskasse deckt zusätzliche Risiken ab. Kommt es infolge einer Krankheit zu Invalidität oder gar zum Tod, gibt es eine Pensionskassenrente; wäre hingegen ein Unfall die Ursache für die Invalidität oder den Tod, wäre die Unfallversicherung zuständig. Es wird also schnell kompliziert. Sicher ist, dass von jedem Tausender, den wir in die Pensionskasse[33] einzahlen, nur 600 bis 750 Franken in die Altersvorsorge gehen; mit dem Rest werden Invaliden-, Witwen- und Waisenrenten finanziert, je nach Firma, je nach Branche.

Trotzdem summieren sich die Tausender, die wir in die Pensionskasse einzahlen. Pro Jahr überweisen wir Arbeitnehmer, unterstützt von den Arbeitgebern, 30 Milliarden Franken, Tendenz stark steigend (die AHV erhält viel weniger Prämien von uns). Das Geschäft läuft. Sogar die Besserverdiener rebellieren nicht, wenn ihre Löhne übers Minimum hinaus bis auf ein Maximum von 77400 Franken versichert werden. Auch sie zahlen so blind und so brav wie wir Normalverdiener. Ja, es gibt Karrieristen, die versichern ihren neuen, laufend höheren Lohn nach, indem sie die dafür notwendigen Prämien nachzahlen, ausnahmsweise freiwillig. Warum bloss? Interessieren sich Topverdiener für so komplizierte Dinge wie eine Sozialversicherung? Kaum. Aber sie sehen, dass dank den Zahlungen in die Firmenpensionskasse ihr Nettolohn sinkt. Das ist der einfachste, sicherste und effizienteste Weg, Steuern zu sparen.

So weit die Ausgangslage. Wir Kunden interessieren uns für andere Dinge und geben damit dem Verwalter der Pensionskasse freie Hand. Er darf das viele Geld, das wir einzahlen, investieren. Dabei darf, ja muss er Risiken eingehen, denn er muss uns Leistungen garantieren, zumindest für den «obligatorischen Bereich». Bis hierher gilt ein fixer Mindestzins, bis hierher muss unser Kapital mit einem fixen Umwandlungssatz in eine Rente umgewandelt werden; solche Leistungen könnte uns kein Verwalter garantieren, der unser Geld in mündelsicheren Bundesobligationen anlegt.

Insgesamt geht es um enorm viel Geld. Gut 600 Milliarden Franken werden zurzeit von 8000 Kassen, die zum Teil sehr klein sind, verwaltet. Prompt wird ein jeder Verwalter zum begehrten Mann. Finanzboutiquen buhlen um ihn, wollen ihm Aktien «verkaufen», etwas seltener wieder «abkaufen» ­ mit allem, was dazu gehört. Events samt Speisen und Reisen. Fliesst das Geld, gibt’s Provisionen, Rabatte, offenbar zum Teil direkt in die Taschen der Pensionskassenverwalter. Und dank den Wirren um Swissfirst weiss auch bald jedes Kind, was «Frontrunning» ist oder eine «Retrozession».

Was offensichtlich fehlt, ist die nötige Kontrolle. Wir Versicherten kommen dafür nicht in Frage. Selbst wenn wir uns für diese Dinge interessierten, könnten wir keinen Druck ausüben, unsere Kasse nicht wechseln. Wir dürfen unsere Arbeitnehmervertreter in den Stiftungsrat wählen, damit hat es sich. Dieser Stiftungsrat ist paritätisch zusammengesetzt, womit klar wird, dass nicht in erster Linie eine professionelle Kontrolle gefragt ist, sondern eine Austarierung der Interessen zwischen den Arbeitgebern und uns Arbeitnehmern.

Herrscht schönes Wetter wie in der Rieter-Pensionskasse (Deckungsgrad: 140 Prozent), wird der Verwalter zum Star; da schaut man gern über vieles hinweg. Ernst wird es erst, wenn eine Kasse in eine Unterdeckung rutscht. Jetzt beginnen sogar wir Versicherten, uns ausnahmsweise für unsere Pensionskasse zu interessieren. Wer füllt die Lücken auf?

Zum Beispiel werden die Leistungen im «überobligatorischen Bereich» gekürzt (kein Mindestzins mehr, tieferer Rentenumwandlungssatz); da rebellieren bald die Besserverdiener. Oder es werden von den jüngeren Arbeitnehmern Extraprämien verlangt, während die heutigen Renten der heutigen Rentner in jedem Fall voll weiterbezahlt werden; dagegen rebellieren die jüngeren Mitarbeiter, aber weil diese nicht die Kasse wechseln können, wechseln sie dann die Firma. Also kommt es früher oder später immer darauf hinaus, dass die Firma, sofern es ihr gutgeht, ihren Beitrag zur Sanierung einer Pensionskasse leisten muss. Zumindest im «obligatorischen Bereich» ist eine Mithaftung des Arbeitgebers sogar explizit im BVG festgehalten.

Diese Losung ­ «im Notfall zahlt die Firma» ­ wirkt auf die Machtverhältnisse im Stiftungsrat. In schlechten Zeiten haftet der Arbeitgeber mit, in guten Zeiten kassiert er mit. Bekanntlich wurden in der Vergangenheit viele überzählige Mitarbeiter durch vorzeitige Pensionierung oder Invalidisierung zu Lasten der Pensionskasse «entsorgt». Gängig sind auch Gegengeschäfte: etwa indem sich die Firma bei einer neuen Bank für einen neuen Kredit damit bedankt, dass sie die Anlagegeschäfte der Pensionskasse ebenfalls zur neuen Bank zügelt.

So oder ähnlich eröffnet unser jetziges System an allen Ecken und Enden unschöne Grauzonen. Das unvorstellbar grosse Vermögen unserer Kassen lädt alle Beteiligten ein, sich selber auch ein wenig zu bedienen. Was also tun? Einen radikalen Systemwechsel vorschlagen. Liest man in diesen Tagen die Kommentare in den Zeitungen, lautet das Patentrezept: Man müsse wie in Chile eine freie Wahl der Kasse einführen. Dann könnten wir zu jener Kasse wechseln, die uns sympathisch ist und den grössten Erfolg verspricht. Auch dürften wir dann aus einer ganzen Palette von Produkten auswählen, in welcher Form wir unser Geld «arbeiten» lassen wollen (aggressive Anlagen, moderate, defensive).

Theoretisch ist das richtig. Doch in der Praxis sind wir leider gefangen. Wir können nicht auf einem Reissbrett ein neues System konstruieren. Wir führen bereits Pensionskassen, die uns «minimale» Leistungen garantieren, die in Wahrheit grosszügig sind. Sobald wir eine freie Kassenwahl einführen, kommt es zu einer Entkoppelung zwischen Kasse und Firma. Das hätte Vorteile, aber auch Nachteile. Der Firma wäre es ab sofort egal, welche Leistungen die freien Pensionskassen anbieten; darum müssten wir uns dann selber kümmern. Also würde die Verantwortung abwandern ­ von der Firma, die uns nahesteht, zu anonymen Finanzgesellschaften, die uns ihre Dienste zur Altersvorsorge anbieten.

Politisch hat die freie Pensionskassenwahl somit keine Chance. Sowohl die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber lehnen sie ab, kategorisch. Sie haben lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Denn es bleibt trotz Swissfirst-Wirren festzuhalten: Das System eröffnet Grauzonen, aber es bewährt sich. Die angeblich «minimalen» Leistungen (Mindestzins, Umwandlungssatz) sind bis jetzt voll und ganz garantiert worden, zumindest im obligatorischen Teil. Unsere Zweite Säule, so kompliziert sie sein mag, funktioniert. Bis jetzt gab es keinen einzigen Crash. Noch nie wurde auch nur eine einzige Rente nicht ausbezahlt.

Hinzu kommt ein technischer Nebenaspekt, den man leicht übersieht. Ginge es nur um die Altersvorsorge, wäre eine freie Wahl der Kasse leicht möglich. Eine Pensionskasse nach Schweizer Art muss aber, wie gesagt, mehr bieten ­ zusätzlich auch die Absicherung gegen Invalidität und Tod (im Krankheitsfall). Diese Aufgabe ist anspruchsvoll, Risikoprämien müssen berechnet werden. Das geschah bis jetzt «intern» ­ zwischen der Firma und ihrer Pensionkasse. Gäbe es eine freie Wahl der Kassen, müsste die Firma an diese Kassen alle ihre Daten liefern, damit diese auf mühsame Art für jeden einzelnen Kunden die nötige Risikoprämie ausrechnen könnten. Ein administrativer Irrsinn.

Also müssten unsere Politiker, bevor sie grosse Reden halten über eine freie Wahl der Pensionskasse, etwas Konkretes tun: Sie sollten den ganzen Risikoteil (also die Invaliden-, Witwen- und Waisenrenten) neu regeln. Heute sind die Pensionskassen für Krankheitsfälle zuständig (BVG), die Unfallversicherungen für Unfälle (UVG); diese Zweiteilung ist willkürlich und unsinnig, diese beiden Dinge gehören zusammen. Erst wenn diese Übung gelingt, erst wenn die Absicherung des Gesundheitsrisikos aus der Pensionskasse herausgelöst sein wird, ist eine freie Wahl der Pensionskasse denkbar.

Und bitte nicht unterschlagen: Wer eine freie Wahl seiner Pensionskasse wünscht, muss bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Sobald wir mitreden, wie unsere Gelder angelegt werden sollen, machen die heutigen Garantien des BVG keinen Sinn mehr. Wer eine Kasse und ein Produkt wählen will, mit denen er etwas weniger Risiken eingeht, muss mit tieferen Renten rechnen. Wer eine Kasse und ein Produkt mit maximalen Risiken wählt, erhält hoffentlich mehr Rente ­ aber keine Garantie mehr. Wer will das?

Somit sind wir zurück auf Feld eins. Das Problem mit der Pensionskasse endet damit, dass wir uns nicht für sie interessieren. Denn selbst wenn wir uns durcharbeiten würden: Wir könnten trotzdem nichts ändern.

Wir müssen die Worte wieder ernst nehmen. Wer «überobligatorisch» sagt, meint wohl, dass etwas nicht mehr obligatorisch ist. Damit lösen sich einige Probleme bei der Zweiten Säule wie von selbst.

Und das geht so: Wir erklären den ganzen «überobligatorischen» Bereich einfach für «freiwillig». Nach jetziger Skala ziehen wir die Grenze bei einem Jahreslohn von 77400 Franken. Jener Teil des Jahreslohns, der darüber hinausgeht, wäre dann nicht mehr «überobligatorisch», sondern «freiwillig» versichert. Also von jedem Zwang befreit. Wir dürfen dann selber entscheiden, wie viel Geld wir von diesem Teil des Lohnes fürs Alter sparen wollen, in welcher Form wir dieses Geld anzulegen wünschen und bei welcher Kasse. Ob wir allenfalls auch eine private Zusatzversicherung abschliessen wollen, damit wir im Krankheitsfall höhere Invalidenrenten erhalten oder im Todesfall höhere Witwen- oder Waisenrenten hinterlassen.

Sozialpolitisch wäre das gut verträglich. Denn wir bewegen uns wie gesagt in einem Lohnbereich, der über 77400 Franken hinausgeht, also in einer Sphäre, in der eher das Wort «Luxus» am Platz ist. Wer hier zusätzliche Sicherheiten wünscht, braucht dazu keine staatlichen Garantien mehr. Dafür gibt es sofort genügend private Angebote.

Wer allerdings «freiwillig» sagt, muss auch freiwillig meinen. Noch werden Einzahlungen in die Zweite Säule von der Steuer befreit, auch im «überobligatorischen Bereich». Damit zwingt der Staat alle Spitzenverdiener geradezu in eine Luxusaltersvorsorge: Nur wer mitmacht und möglichst viel in eine Pensionskasse einzahlt, spart Steuern. Das ist absurd. Die «freiwillige» Vorsorge wird erst dann wirklich freiwillig sein, wenn das Steuerprivileg fällt.

Der ganze «obligatorische Bereich» übrigens bliebe, was er ist: obligatorisch. Damit erhalten wir auch die heutigen Betriebskassen. Damit gilt bis zu einem Lohn von 77400 Franken weiterhin der Beitragszwang, und das ist gut so.

Denn bis hierher erfüllen die heutigen Betriebskassen ja auch ihren sozialpolitischen Sinn und Zweck. Bis hierher geht es um eine minimale, aber garantierte Altersvorsorge sowie um eine minimale, aber garantierte Risikovorsorge. Freiwillig wäre nur der Rest, der Luxusbereich.Freie Wahl der Pensionskasse. Forschungsbericht Nr. 9/05, Bundesamt für Sozialversicherung. Als PDF unter www.bsv.admin.ch

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