Subventionitis Was die Schweiz zusammenhält – und wer dafür bezahlt 30.08.2006, Bilanz

Subventionitis
Was die Schweiz zusammenhält – und wer dafür bezahlt 30.08.2006, BilanzEine schöne Bescherung warte auf die Bewohner der Oberwalliser Gemeinde Inden. Ab kommendem Jahr offeriere die Gemeinde ihren steuerpflichtigen Einwohnern nicht nur die freie Benutzung von Bädern, Bahnen und Bussen, sie gewähre sogar 20 Prozent Rabatt auf Einkäufe im Dorfladen und einen Beitrag an die Krankenkassenprämien.So der Inhalt einer Pressemeldung aus dem Sommer 2006 unter dem Titel «Bewohner Indens feiern das ganze Jahr Weihnachten». Verschickt wurde diese Meldung nicht etwa vom Indener Gemeindeverwalter, sondern von der PR-Agentur Klaus J. Stöhlker AG aus Zollikon ZH. Was belegt: Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ist hierzulande ein Geschäft, und zwar für beide Seiten. Das dazu nötige Kleingeld fällt nicht etwa vom Himmel, sondern stammt aus dem Stausee: «Dank den Einnahmen aus den Wasserzinsen und der Beteiligung an der Kraftwerksgesellschaft Dala AG kann es sich Inden leisten», steht in der Pressemeldung. «Ziel ist es, neue Bewohner anzuziehen und damit das langfristige Überleben der 105-Seelen-Gemeinde zu sichern.»Diese beiden letzten Sätze sagen schon (fast) alles über den nationalen Zusammenhalt der Schweiz.

Erstens werden Geschenke verteilt, oft auf verschlungenen Pfaden. Hinter jeder Stromrechnung zum Beispiel versteckt sich eine Botschaft: dass wir Schweizer solidarisch sind. Auch wenn von jeder Kilowattstunde nur ein halber Rappen abgezweigt wird, laufen solch kleine Taten in der Summe dann darauf hinaus, dass der Kanton Uri 22 Prozent seiner gesamten Steuereinnahmen aus Wasserzinsen und aus der Wasserkraft bezieht, Graubünden 16, das Wallis 12 Prozent. «Alpen-Opec» wurde diese Macht schon genannt.

Zweitens ist zumindest der Zweck durchsichtig, der mit den Geschenken verfolgt werden soll. Ein jedes Dorf, auch Inden im Oberwallis, soll eine lebenswerte Perspektive haben. Die Schweiz sei ein dicht besiedeltes Land, lernen unsere Kinder in der Schule. Nur ist das ein Mythos. Unser Land wird nicht dicht, es wird dezentral besiedelt.

Just diese dezentrale Besiedelung soll Sinn stiften. Heimat ist dort, wo man ist, und überall dort darf jeder Mensch auch bleiben und sein Leben frei und würdig gestalten. «Unsere Fahne», sprach Joseph Deiss, Bundespräsident im Jahr 2004, zum 1. August, «steht für solidarisches Zusammenleben, für Rücksichten auf Minderheiten und für den sozialen Ausgleich.» Ganz ähnlich Moritz Leuenberger, der diesjährige Bundespräsident, als er in seiner Neujahrsansprache, vor einem grossen Schweizerkreuz stehend, an die Leute im Land appellierte: «Wir müssen vieles ändern, aber wir sollten nicht leichtfertig gefährden, was wir erreicht haben: den inneren Zusammenhalt, den Ausgleich zwischen allen Regionen, die gleichen Rechte für alle und einen starken, demokratischen Staat, der das alles garantiert.»

Der Wille zum starken Staat, der den sozialen und regionalen Ausgleich erst möglich macht, hat durchaus eine topografische Dimension. Um das zu begreifen, muss man nicht unbedingt bis nach Inden ins Oberwallis wandern. Man lege sich hin, tue nichts, schaue der Natur zu und beobachte: Das Gras wächst. Aber die Schweiz ist kein Grasland. Mähen wir den Rasen nicht mehr, heut der Bauer eine Wiese nicht mehr, wächst und wächst das Gras, bis es verbuscht. Lässt der Bauer eine Wiese nicht mehr beweiden, von keiner Kuh, keinem Schaf, keiner Ziege, wächst und wächst das Gras ebenfalls, bis es verbuscht. Aus den Büschen werden Sträucher, aus den Sträuchern Bäume, aus den Bäumen Wald ­ und aus der Schweiz ein Urwald.

Und man stelle sich vor: Wir Schweizerinnen und Schweizer würden uns auf die Areale konzentrieren, auf denen wir wohnten, arbeiteten, einkauften, uns vergnügten, Bahn und Auto führen, Autos abstellten und so weiter. Dann wären diese Zonen überbaut, aber das übrige Umland wäre Wald, Urwald. Die bebauten Zonen könnten auf eine einzige Stadt konzentriert werden, auf eine Art London ­ London gefällt uns Schweizerinnen und Schweizern ja ganz gut, als Touristen reisen wir gerne dorthin. Eine überschaubare Stadt, einige wenige Wolkenkratzer in der City, gleich daneben schön herausgeputzte Reihenhaussiedlungen. Auch ist der gesamte Grossraum London klein, kleiner als der Kanton Zürich. Trotzdem wohnen dort 7,3 Millionen Menschen, alle mit Zugang zu einem Park in nächster Nähe, und genügend Raum gibt es dort für 4,5 Millionen Arbeitsplätze.

Das zeigt, dass rein theoretisch bereits der Kanton Zürich genügend Platz bietet für alle Schweizerinnen und Schweizer, und zwar fürs Wohnen, fürs Arbeiten wie für die Freizeit.

Freilich wollen wir nicht alle zusammen im Kanton Zürich wohnen. Darum besiedeln wir unser Land nicht dicht wie in London, sondern dezentral vom Bodensee bis zum Lac Léman. So weit unser Auge reicht, haben wir uns ein mehr oder weniger zusammenhängendes Siedlungsgebiet geschaffen, das sich nicht etwa aufs flache Mittelland beschränkt, sondern bis in jedes Tal reicht und hinauf bis auf fast jede Höhe.

Folglich gibt es in der Schweiz nicht eine grosse Stadt, sondern fast 2900 Gemeinden. Praktisch jede von ihnen verfügt über eine Post, ein Schulhaus, einen Sportplatz, eine Feuerwehr. Bei Nacht sieht man vom Flugzeug aus fast überall einzelne Lichter. Bei Tag sieht man überall einzelne Gärten, daneben kleine Wiesen, die landwirtschaftlich genutzt werden, angrenzend kleine Wälder, die forstwirtschaftlich genutzt werden. Alles wird überall gehegt und kleinräumig gepflegt und kleinräumig bebaut und kleinräumig bewohnt.

«Über der Schweiz hängt bis heute eine riesige ideologische Blase», sagt Philipp Sarasin, Geschichtsprofessor an der Uni Zürich. «Wir sind ein Bauernvolk.»

Allerdings ist der typische Bauer nicht mehr das, was er früher war: ein freier Bauer, «der sich nicht auf die Kappe machen lässt, weder von Gessler noch von andren Vögten», so Sarasin. 1848, als der Bundesstaat gegründet wurde, stellten die Bauern noch keine Ansprüche an den Staat. Während Jahrzehnten beschäftigten sich 60 Prozent des Volks mit der Landwirtschaft, doch in Bern in den Büros befassten sich gerade drei Bundesbeamte mit diesem primären Wirtschaftssektor. Der Zweite Weltkrieg löste die so genannte «Anbauschlacht» aus, und seither sind schätzungsweise 500 Beamte beim Bund und in den Kantonen damit beschäftigt, Direktzahlungen abzurechnen, Milchprodukte zu verbilligen, Preise zu kontrollieren, Importe mit Zöllen zu verteuern, Hangbeiträge auszuschütten, Extra-Familienzulagen zu kalkulieren oder die Mineralölsteuer zurückzuerstatten.

Der Zweck dieser Übungen besteht darin, dass die letzten der einst «freien» Bauern, die gerade noch vier Prozent der Erwerbstätigen ausmachen, als staatsabhängige Landschaftsgärtner überleben. Dank ihnen sieht die Schweiz weiterhin wie ein Grasland aus, dank ihnen wird die ganze Fläche dezentral besiedelt ­ bis und mit Inden im Lötschental. «Die Bauern», lehrt Bundesrat Christoph Blocher, der selber ein gelernter Bauer ist, «sollen dafür sorgen, dass das Land nicht vergandet.» Genau dasselbe sagt Moritz Leuenberger, der sich selber als Urbanist gefällt, aber bekennt: «Wir wollen einfach verhindern, dass ganze Bergtäler verwalden.» Von rechts bis links ruft ein einig Volk nach dem Staat ­ im Namen der Verfassung. Die Landwirtschaftspolitik soll «zur dezentralen Besiedelung des Landes einen wesentlichen Beitrag leisten».

Also leisten wir uns einen Wirtschaftssektor, der von Bern aus mittels Vier-Jahres-Plänen zentral gesteuert wird und pro Vier-Jahres-Periode 16 Milliarden Franken Steuergelder kostet. Ferner leisten wir uns eine Strompolitik, die so organisiert ist, dass nebenbei die Berggemeinden und -kantone profitieren. Zudem leisten wir uns eine Swisscom, die nicht privatisiert werden darf, weil sonst die Gefahr bestünde, dass die abgelegenen Regionen benachteiligt würden. Vor allem aber leisten wir uns eine SBB, in die wir jedes Jahr fast zwei Milliarden öffentliche Gelder einschiessen, damit diese SBB weiterhin fast alle Täler erschliesst, während sie kaum Menschen transportiert. In Zahlen: Der Grad der Nichtauslastung im SBB-Regionalverkehr beträgt 84 Prozent.

All das mag eine Verschleuderung von Steuermitteln sein, aber sie macht politisch Sinn. Dadurch erkaufen wir uns den nationalen Zusammenhalt. Oder wie es die Urner Nationalrätin Gabi Huber sagt: «Es müssen auch Gebiete gefördert werden, die strukturelle Nachteile haben.»

Dieser politische Imperativ durchdringt das Land von Osten nach Westen, von Norden nach Süden und löst Folgen aus, die bis an die Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne reichen. Ein Student für Agrar- und Forstwissenschaften kostet heute 111 000 Franken im Jahr und damit fast doppelt so viel wie ein Student für Maschinen- und Ingenieurwissenschaften, siebenmal so viel wie ein Geschichtsstudent oder fast zehnmal so viel wie ein Jus-Student an einer Universität. Misst man das Betreuungsverhältnis ­ Studenten pro Professor ­ und vergleicht man die ETH mit amerikanischen Eliteuniversitäten, kann die ETH nirgends mithalten, es sei denn, man halte sich an das Fach Agrar- und Forstwissenschaften.

Eine solche Binnenfokussierung der nationalen Forschungspolitik im 21. Jahrhundert belegt, wie hierzulande die Prioritäten gesetzt wurden und werden. Der Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner hat vor zwei Jahren ausgerechnet, dass uns die Haltung dreier Kühe genau gleich viel wert sei wie die Ausbildung eines Primarschülers. Auch diese Gegenüberstellung löste kaum ein Echo aus. Journalisten und Politikerinnen gingen bald zur Tagesordnung über, die dafür sorgt, dass die Schweiz ein Kuhland bleibt.

Zum Beispiel Saas GR: ein Dörflein, fast zuhinterst im Prättigau gelegen, durch das eine zweispurige Landstrasse führt. Um die wenigen lokalen Bewohner vor dem Verkehr zu schützen, wird diese Strasse nun in einen Umfahrungstunnel verlegt, der 290 Millionen kosten darf und, weil es sich bei dieser Landstrasse offiziell um eine «Nationalstrasse» handelt, zu 92 Prozent vom Bund finanziert wird. Zum Vergleich: In der Stadt Zürich wird der ganze Stadtteil Schwamendingen von einer sechsspurigen Nationalstrasse zerschnitten. Hier leiden viel mehr Menschen unter viel mehr Autos und Lastwagen als in Saas im Prättigau. In Schwamendingen wäre eine Überdachung der Autobahn vergleichsweise günstig für 180 Millionen Franken zu haben, wobei der Bund nur 63 Prozent der Baukosten übernehmen müsste, den Rest würde Zürich zahlen. Trotzdem ist diese Überdachung erst geplant ­ seit Jahrzehnten schon ­, während am Tunnel um Saas fleissig gebaut wird. Das ist übrigens kein Einzelfall. In Obwalden werden gleich drei Dörfer (Sachseln, Giswil, bald auch Lungern) durch neue, teure Tunnels umfahren, die, weil es sich auch bei dieser zweispurigen Kantonsstrasse offiziell um eine «Nationalstrasse» handelt, zu 97 Prozent vom Bund finanziert werden.

Wie viel Geld wird in der Schweiz vom Zentrum hinaus aufs Land verteilt, wie viel vom Tal hinauf auf den Berg? Das weiss niemand, ja das will gar niemand wissen. Kein Universitätsinstitut, kein Think Tank wagt es, Übersicht zu schaffen, Zahlen zu nennen. Damit aus dem Land nirgendwo ein Urwald wird, leisten wir uns einen Dschungel von Subventionen und Quersubventionen, unüberblickbar selbst für die Spezialisten. «In der Schweiz gibt es heute keine Politik, die nicht auch Regionalpolitik wäre», lautet ein Bonmot von Peter Siegenthaler, dem Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung.

Die feinmaschig gestrickte Regionalpolitik mag typisch schweizerisch erscheinen. Aber: Sie ist relativ neu. So wie die Bauern am Anfang «freie» Bauern sein wollten, so sind die bergigen und hügeligen Kantone erst seit neuester Zeit von Subventionen «abhängig» geworden. Am Anfang des Bundesstaats gab es keinerlei spezielle Förderung von Regionen. Erst 1959, also spät in der Geschichte, wurde der innerschweizerische Finanzausgleich erfunden. Seither finanzieren die reichen Kantone die armen Kantone auf sehr komplizierte Art und Weise in ständig wachsendem Ausmass. Die Regionalpolitik, die den speziell abgelegenen Regionen dienen soll, setzte noch später ein, nämlich erst 1974. Von der Förderung des Tourismus über die Subventionierung von Hotelkrediten bis zur Zahlung an Lawinenüberbauungen ­ all das sind neue Instrumente.

Zugleich dient der regionale Ausgleich den drei sprachlichen Minderheiten. Musterbeispiel dafür ist die SRG, deren «Idée suisse» darin besteht, dass 4 Prozent der Bevölkerung, nämlich die Tessinerinnen und Tessiner, 23 Prozent aller Mittel erhalten. Die SRG ist eben keine normale Firma, die darauf abzielt, möglichst viele Kunden zu erreichen, sonst würde sie das Tessin links liegen lassen. Stattdessen versorgt die SRG diesen Kanton mit zwei Fernseh- und drei Radiokanälen. Dieser wohl weltweit einzigartige Medienschwerpunkt schlägt sich in der lokalen Erwerbsstatistik nieder: Im Tessin ist die SRG der drittgrösste Arbeitgeber überhaupt, hier treffen fünf Radio- und TV-Journalisten auf einen einzigen Zahnarzt, wobei bisher noch niemand geklagt hätte, dieser Kanton sei mit Zahnärzten unterversorgt.

Zurzeit geben gerade noch 35 095 Personen an, Rätoromanisch zu denken und diese Sprache am besten zu beherrschen. Dabei geht oft vergessen, dass diese schwindende Minderheit nicht eine Sprache spricht, sondern fünf romanische Idiome in mündlicher und schriftlicher Form, die alle gleichberechtigt als «Landessprache» gelten. Erst vor zwei Jahrzehnten wurde die neue Hochsprache Rumantsch Grischun geschaffen, die bei den Betroffenen aber kaum akzeptiert wird. Alle Studien und Statistiken deuten darauf hin, dass eine derartige rätoromanische Sprachenvielfalt keine Zukunft hat. Doch sie ist uns «sontg», also heilig, und sie wird demnächst national gefeiert: Die Eidgenössische Bundesversammlung hält ab Mitte September in Flims ihre «sessiun» ab.

Was hält die Schweiz zusammen? Solidarität. Wir leben ein Miteinander, und zwar in einem universellen Sinn. Der Publizist Roger de Weck zählte einmal auf: «Das Austarieren der Interessen zwischen sozialen Schichten, Arbeitgebern und Lohnabhängigen, zwischen Stadt und Land, zwischen Sprachregionen und in der Konkordanz auch zwischen den Parteien ist die Raison d’être der vielfältigen Schweiz, die Voraussetzung ihres Daseins und Zusammenseins.»

Von all diesen hehren Absichten haben die einstigen Gründer der Schweiz noch keine Ahnung gehabt. Den Bundesstaat gibt es seit 1848, Motiv zur Gründung war die gemeinsame Abwehr der Mächte ringsum. Alle andern inneren Werte haben sich erst im Laufe der Zeit so ergeben. Konkordanz? In den ersten vier Jahrzehnten besetzten die Freisinnigen sieben von sieben Sitzen des Bundesrats. Erst 1891 erhielt die CVP den ersten, 1919 den zweiten Sitz, und 1929 wurde die damalige Bauernpartei, die heutige SVP, mit einem Sitz beehrt; 1943 endlich erhielt die SP einen Sitz, wobei sich die Linke später freiwillig zurückzog. Die Zauberformel mit zwei sozialdemokratischen Sitzen ist seit 1959 in Kraft.

Das gleiche Missverständnis beim Sozialstaat. Die Eidgenossenschaft von 1848 war, wie wir heute sagen würden, eine völlig «asoziale» Schweiz. Am Anfang waren die wehrhaften Eidgenossen lediglich bereit, die «im Militärdienst Verunglückten oder ihre Angehörigen» durch eine Militärversicherung solidarisch zu schützen. Ansonsten gab es keine einzige Sozialversicherung. Es verstrichen Jahrzehnte, bis 1918 die staatliche Unfallversicherung Suva geschaffen wurde. Und es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet das Unfallrisiko auserwählt wurde, ist doch ein Unfall etwas Schicksalhaftes, etwas, das jedem passieren kann, ohne eigene Schuld.

Noch lange nicht mehrheitsfähig war hingegen die Alters- und Hinterlassenenversicherung, besser bekannt unter dem heute populären Kürzel AHV. Sie wurde erst hundert Jahre nach Gründung des Bundesstaats, 1948, geschaffen, zum Start mit knausrigen Leistungen. Dann ging es Schlag auf Schlag, Sozialwerk für Sozialwerk. 1952 folgte die Arbeitslosenversicherung, 1960 die Invalidenversicherung, eine Institution, in der zurzeit 8 Milliarden Franken Schulden angehäuft sind, wobei jedes Jahr 1,5 Milliarden neue Schulden hinzukommen. Noch später, 1985, wurde die berufliche Vorsorge der zweiten Säule für obligatorisch erklärt, 1987 die steuerlich privilegierte Vorsorge der dritten Säule für fakultativ. Gleichzeitig wurde die AHV von Revision zu Revision ausgebaut. 1996 wurde die Krankenversicherung auf wirklich alle Einwohner ausgedehnt und 2004 schliesslich ein Mutterschaftsurlaub bewilligt.

Dieser «Weg zur Schweiz» passt zur Entwicklung der Staaten im europäischen Umfeld ­ mit dem einzigen Unterschied, dass die Schweizer Politikerinnen und Politiker zeitlich etwas hinterherhinkten. Das 19. Jahrhundert gilt als das «liberale Jahrhundert», das gemäss dem grossen deutschen Soziologen Lord Ralph Dahrendorf in Europa 1914 zu Ende gegangen sei. In der Schweiz dauerte es etwas länger, bis zum Zweiten Weltkrieg. Dann erst folgte das «sozialdemokratische Jahrhundert», das nicht parteipolitisch, sondern wertepolitisch von Ralph Dahrendorf so definiert wird: «Armut und unverschuldete Not sind nicht mehr vereinbar mit einem gerechten, fairen Gemeinwesen. Alle Bürger verdienen zu allen Zeiten einen anständigen Grundstatus.» Dieses sozialdemokratische Zeitalter sei in Europa im Jahr 1989 mit der Revolution im Ostblock zu Ende gegangen, so Dahrendorf.

Bei uns dauerte auch das «sozialdemokratische Jahrhundert» etwas länger. Noch im Laufe der neunziger Jahren wurden der soziale und der regionale Ausgleich weiter ausgebaut, es wurden sogar neue politische Begriffe kreiert wie «Service public», ja selbst die altertümlich wirkende Rede vom «nationalen Zusammenhalt» kam neu in Mode ­ als willkommenes Argument, mit dem die Politikerinnen und Politiker laufend neue Eingriffe rechtfertigen konnten.

Das Resultat ist eine Schweiz, in welcher der Staat immer mehr tut, immer mehr Geld ausgibt, was selbstverständlich einschneidende Wirkungen hat auf die Verteilung des Wohlstands. Den einen wird Geld genommen, um es den andern zu geben. Nicht alle profitieren davon gleich stark, nicht alle zahlen gleich viel. Das ist ja gerade der Sinn hinter der regionalen und sozialen Umverteilerei. So allgemein, so banal.

Doch wer profitiert wie stark? Wer zahlt wie viel? Wie sozial ­ oder allenfalls: wie unsozial ­ verteilt der Staat das Geld heute um? Welche Ziele werden erreicht? Welche nicht? Was macht Sinn? Was weniger?

Solche Fragen sind heute weitgehend Tabu. Und wenn sie aufgeworfen würden, gäbe es keine zuverlässigen Antworten. Der heutige Sozial- und Umverteilungsstaat entpuppt sich als eine Art Tinguely-Brunnen. Es rattert, es quietscht, es kracht, es pufft, und vor allem spritzt es. Auf unendlich verschlungenen Umwegen strömt und sickert das Flüssige, sodass am Ende gar niemand mehr die Übersicht haben kann, ob dieser ständig spritzende Brunnen seinen Sinn und Zweck erfüllt.

Zum Beispiel werden via AHV und Krankenversicherung sämtliche über 65-Jährigen unterstützt, auch wenn diese im Durchschnitt viel reicher sind als die «Jungen», die zur Kasse gebeten werden. Die klügsten Bauern pflanzen Tabak, gelockt von extrahohen Subventionen, obschon sich das Schweizer Klima dafür gar nicht eignet; umgekehrt müssen die Raucher eine extrahohe Steuer zahlen, was just die untersten sozialen Schichten extrastark belastet. Nicht jeder Walliser oder Urner, der vom interkantonalen Finanzausgleich profitiert, ist ein armer Schlucker. Die Studenten, die heute fast gratis studieren dürfen, kommen meist aus gutem Hause. Ebenso das Opernpublikum, und dennoch wird gewaltig subventioniert. Die Wohneigentumsförderung dient eher den Besserverdienern, und unter den Mietern der staatlich geförderten Wohnungen finden sich auffallend viele Politikerinnen und Politiker; selbst Christoph Blocher hat in der Altstadt von Bern eine städtische Wohnung gefunden, die zuvor in keinem Inserat ausgeschrieben worden war.

In der Reklamewelt würde man von «Streuverlusten» reden. Damit gemeint ist die Tatsache, dass Werbeprospekte in allen Briefkästen landen, obschon die allermeisten Prospekte, ohne mit einem Blick gewürdigt zu werden, im Abfall landen. Ganz ähnlich funktioniert die schweizerische Politik des Miteinanders: Der «nationale Zusammenhalt» soll uns allen dienen. Wirklich allen. Logischerweise erhalten dann einige Leute staatliche Hilfen, die selber reich und wohlhabend sind.

Böswillig lässt sich das Phantombild des typischen Profiteurs wie folgt beschreiben: Er ist vor 1950 geboren, Akademiker, kinderlos, raucht nicht, besitzt entweder ein eigenes Haus, oder er mietet seit ewig dasselbe Appartement, wohnt in der ländlichen, hügeligen oder bergigen Schweiz, auf alle Fälle abseits der Stadt, geht aber trotzdem ins Theater oder in die Oper, ist sehr mobil mit der Bahn, ist in einer Pensionskasse bestens versichert, macht auch bei der dritten Säule voll mit, bewirtschaftet ein paar Wiesen, auf denen er nebenbei Schafe züchtet und am Feierabend Rüebli aussät, selbstverständlich streng biologisch, und er ist weiblich.

Eine solche Art von Grosszügigkeit ist kein Zufall. Wer A sagt, muss auch B sagen. Subventionen unter dem Titel «nationaler Zusammenhalt» sorgen unweigerlich dafür, dass alle andern Personen, die (noch) leer ausgehen, sich benachteiligt fühlen ­ und ebenfalls begünstigt werden wollen. Bis jetzt wurden die Regionen am Rand und in den Bergen gefördert, neu treten die Städte auf den Plan. Und argumentieren: Wir haben auch «strukturelle Nachteile». Mehr Alte, mehr Arme, mehr Alkoholiker, mehr Arbeitslose, mehr Ausländer. Wir wollen ebenfalls entlastet werden. Prompt wurde im neuen Finanzausgleich ein neuer Fonds errichtet, diesmal zu Gunsten der Städte. Bereits fordern Zürich, Basel, Bern, Genf immer neue Gelder ­ etwa zur Durchführung einer privaten Veranstaltung wie der Fussball-Euro 08.

Ein Staat, der nur sozial sein will, verfolgt andere Ziele. Er will zuerst die Armut verhindern. Die Leute hierzulande stolpern am Morgen auf dem Weg zur S-Bahn nicht gerne über Penner und Bettler. Zudem sollen alle Leute, sobald sie krank werden, Zugang zum Gesundheitswesen haben. Beide Ziele können wir relativ leicht realisieren, nämlich indem wir die staatliche Umverteilung so organisieren, dass das Geld erstens von den Reichen zu den Armen fliesst und zweitens von den Gesunden zu den Kranken.

In der Praxis, Stand 2006, strömen tatsächlich ein paar Milliarden von Reich zu Arm. Tatsächlich fliessen auch viele Milliarden von Gesund zu Krank. Aber noch mehr zusätzliche Milliarden fliessen nach völlig andern Kriterien: von Jung zu Alt, von Konsumenten zu Bauern, von Fussgängern zu Bahnfahrern, von Tal zu Berg, von Mann zu Frau, ja sogar von Dumm zu Klug. Ganz hinterhältig ist, dass ein Teil der Last auf die nächsten Generationen übertragen wird, die unsere Staatsschulden erben werden.

Trotzdem stellte bisher keine Partei, kein Politiker die Frage nach den Kosten und dem Nutzen des nationalen Zusammenhalts. Ist das etwa unanständig? Darf man das nicht?

Antwort: Man darf nicht nur, man muss. «Ich beurteile einen Staat nach seinem Nutzen.» Das sagt nicht etwa ein knallharter, neoliberaler Wirtschaftskapitän, das sagte der grosse Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. «Der Staat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt.» Dann zitierte er Karl Kraus: «Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Strassenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.»

«Ich bin gerne Schweizer», sagte Dürrenmatt an anderer Stelle. Für ihn ist der Staat «ein notwendiges Übel», «eine Institution, die funktionieren muss». Da ist nichts von Vaterland und solchem Kram. «Ich gehe ungern in den Krieg, um das Funktionieren der SBB zu verteidigen», sagte er einmal in einem Interview. «Der Sinn der Schweizer ist, einen Staat zu finden, der funktioniert, der durchsichtig ist, der demokratisiert ist.»

In den 15 Jahren, seit Dürrenmatt tot ist, ist dieser Staat etwas undurchsichtig geworden. Zum Beispiel steigen die Sozialausgaben Jahr für Jahr kräftig an, aber trotzdem soll es gemäss der christlichen Organisation Caritas so viele Arme geben wie noch nie, nämlich eine Million «Arme» auf 7,3 Millionen Einwohner. Was läuft schief?

Eine sorgfältige Antwort auf dieses Mysterium liefert das Büro Bass unter dem Titel: «Wer zahlt für die soziale Sicherheit, und wer profitiert davon?» Diese Nationalfondsstudie, 2004 publiziert, wollte eine «möglichst umfassende Wirkungsanalyse» bieten, weswegen sie etwas schwer lesbar war. Klar und verständlich war immerhin das Fazit: «Eine Einkommensumverteilung durch das System der sozialen Sicherheit als Ganzes ist nicht festzustellen.»

Eine traurige Erfolgsbilanz, erhoben mit Geldern des Nationalfonds, die knapp zur Kenntnis, aber kaum ernst genommen wurde. Dabei wies sie auf einen bedeutenden Systemfehler hin: Selbst wenn die Sozialausgaben noch so stark gesteigert würden, die Schweiz würde deswegen weder sozialer noch unsozialer. Um die Wirkungen der Sozialpolitik zu verbessern, müssten wir das System reformieren. Doch dafür interessiert sich niemand.

Ähnlich deprimierend fällt die Erfolgsbilanz in der Regionalförderung aus: Ganze Dörfer und Täler werden verlassen ­ trotz allen Subventionen.

Der ETH-Agronom Peter Rieder, aufgewachsen in Vals GR, durfte für das Bundesamt für Landwirtschaft eine Bilanz ziehen über die Bauernpolitik in den bergigen und hügeligen Lagen. Sein Fazit: «Die Landwirtschaft leistet nur in relativ wenigen Gemeinden der Schweiz einen wesentlichen Beitrag zur dezentralen Besiedlung.» Obschon die Direktzahlungen nirgends auf der Welt so hoch sind wie in der Schweiz, sorge das Mass der Abwanderung dafür, dass am Ende «viele Dörfer so klein sein werden, dass sie ihre Funktionsfähigkeit verlieren». Rein statistisch müsse heute jede zwölfte Gemeinde als gefährdet eingestuft werden.

Vor drei Jahren legte eine offizielle Expertenkommission des Bundes unter dem Titel «Überprüfung und Neukonzeption der Regionalpolitik» einen interessanten Bericht vor. Darin wurde offen empfohlen, «abgelegene Bergtäler sich entvölkern zu lassen, um der Nachwelt ‹wilde› Landschaften zu hinterlassen». In den peripheren Dörfern und Weilern, «den kleinsten Einheiten», seien kaum mehr «entwicklungsfähige Potenziale und die Fähigkeit zu deren Ausschöpfung» auszumachen. «Die Abwanderung aus Problemregionen darf nicht generell als unerwünscht bezeichnet werden. In vielen Fällen ist sie die Voraussetzung für die Realisierung individueller Entwicklungschancen.»

Vom National- und vom Ständerat wurde dieser Bericht wie folgt zur Kenntnis genommen: Die bisherige Regionalpolitik wird im bisherigen Mass weitergeführt.

Man dürfe nicht «von oben herab Leute umsiedeln», warnte die Urner Nationalrätin Gabi Huber in der «Sternstunde Philosophie» von SF DRS. Das waren starke Worte, die jedoch vollends in die Irre führen. In der Schweiz wurde noch niemand zwangsumgesiedelt, noch kein einziger Eingeborener aus einem Tal getrieben. Das Gegenteil ist wahr: Die Steuerzahler in den Agglomerationen rund um Basel, Zürich oder Genf geben laufend noch mehr Geld aus, um mit vielfältigen Subventionen gegen den Prozess der Entleerung, des Niedergangs, der Abwanderung in den Tälern anzukämpfen. Genau das aber gelingt nicht.

Warum nicht? Weil Menschen schon seit ewigen Zeiten wandern. Freiwillig verlassen sie jene Gegenden, die ihnen keine genügenden Perspektiven mehr bieten, um dorthin zu gehen, wo die Wirtschaft boomt. Davon profitieren jeweils beide, das Zentrum wie die Peripherie. Die Wirtschaft wuchs und wächst rund um die Zentren Zürich, Basel, Lausanne und Genf kräftig. Aber auch die Familien in den Bergen haben den Anschluss nicht verpasst, nur weil einige Junge ausziehen und ihr Glück anderswo suchen. Die Kontakte brechen deswegen nicht ab, denn die Schweiz ist klein. Post und Telefon funktionieren flächendeckend. Aber ein Millionen-Zürich ohne Obwaldner, Nidwaldner, Glarner, Bündner, Walliser, Tessiner, Türken, Serben, Kroaten, Deutsche, Italiener, Portugiesen ­ das wäre sogar für eingefleischte Zürcherinnen und Zürcher unvorstellbar.

«Die gleichmässige, dezentrale Besiedelung des Landes ist nicht realisierbar, alle Trends sprechen dagegen», predigt der Bündner Ökonom Walter Wittmann seit Jahren. «Im Extremfall müsste der Bund dafür bezahlen, dass genügend Personen in entlegenen Tälern wohnen, in denen es keine Beschäftigung gibt.» Das ist kein Witz, sondern Realität. Die SRG-Tochter Radio e Televisiun Rumantscha (RTR) lockt ihre Mitarbeiter mit einer Bergzulage vom lokalen Zentrum Chur weg. Wer weiter als 15 Kilometer entfernt und zugleich in einer rätoromanischen Gemeinde wohnt, wird mit 1000 Franken im Jahr belohnt, ausbezahlt in Form von Gutscheinen für Einkäufe bei der Ladenkette Volg.

Einen solchen Luxus werden wir uns in der Schweiz kaum auf ewig leisten können. Warum nicht? «Weil die Ausgaben sonst aus dem Ruder laufen», antwortet Finanzminister Hans-Rudolf Merz. «Nehmen wir die soziale Wohlfahrt: Wegen der demografischen Entwicklung werden die Ausgaben hier bis 2015 um weitere 13 Milliarden Franken wachsen. Ohne Reformen kann der Staat für andere, teilweise ebenso wichtige Aufgaben kein zusätzliches Geld ausgeben.»

Also wird das Geld knapp. Solange die Sozialausgaben automatisch weiter steigen, stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir den Staat? Etwa für den Kampf gegen die Vergandung? Für immer neue Umfahrungstunnels in den Seitentälern der Alpen? Oder für mehr Autobahnen rund um die Kernstädte? Sollen Witwen, selbst wenn sie kinderlos sind, auch künftig so grosszügig behandelt werden wie nirgendwo sonst auf der Welt? Oder wollen wir dieses Geld lieber in die Schulen und Universitäten investieren?

Auf alle Fälle werden wir nicht darum herumkommen, offen zu legen, was das überhaupt sein soll, dieser «nationale Zusammenhalt». Als die Eidgenossenschaft gegründet wurde, war sie noch keine Schweiz des Miteinanders; sie ist erst eine solche geworden. So gesehen wäre es auch denkbar, dass wir künftig wieder zurückfinden werden zu einer Schweiz des Nebeneinanders. Das muss nicht unser Ende sein.

Als Deutschschweizer, der in Neuenburg lebte, hatte der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt ein erfrischend nüchternes Verhältnis zur regionalen Vielfalt. «Es gibt ja auch nicht Schweizer», sagte Dürrenmatt einmal, «sondern es gibt Deutschschweizer, Welschschweizer, Tessiner, Reste von Rätoromanen, etwas künstlich gepflegt, es gibt jüdische Schweizer, es gibt sogar mohammedanische Schweizer. Alle diese Schweizer sind aus sehr verschiedenen Gründen Schweizer geworden.» Dann fuhr er fort: «Die Schweiz ist ein Staatenbund und vor allem ein Kunststaat. Und wenn man das einmal begriffen hat, muss man sagen, ist die Schweiz etwas sehr Modernes.»

Markus Schneider ist Autor von «Weissbuch 2004» (Weltwoche Verlag). Sein nachfolgendes Buch «Idée suisse» (ebenfalls im Weltwoche Verlag erschienen) trägt den Untertitel: «Was das Land zusammenhält und wer dafür bezahlt». info@markusschneider.ch

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