Boden für alle Ein Vorschlag für eine gerechtere Welt. 09.09.2006, Das Magazin

Boden für alle
Ein Vorschlag für eine gerechtere Welt. 09.09.2006, Das Magazin
Hugo lebt auf einer Insel, als wäre er der erste Mensch. Vor Jahren ist er aus dem Berufsleben ausgestiegen und hat sich vom Ersparten eine Privatinsel in der Südsee gekauft. Was er braucht, macht er sich. Braucht er mehr, macht er mehr. Hat er alles, was er will, legt er sich in den Schatten.Da treibt eine Zeitung über den Strand. Schon wieder einer auf dem Survival-Trip, der beim Feuermachen betrügt? Doch wie Hugo zur Zeitung greift, vergeht ihm das Lachen. Krieg im Irak. Er sieht Fotos von neuen Anschlägen in Indien und liest von Menschen, die sich ungleich, ja ungerecht behandelt fühlen. «Alle müssen den Gürtel enger schnallen», heisst es. Der chinesische Präsident besucht Afrika und konzentriert sich auf Orte, die mit Rohstoffen gesegnet sind; andere Länder interessieren ihn nicht.Hugo kühlt den Kopf im Wasser, wirft die Haare zurück und will die Menschen begreifen, die immer so tun, als könnten sie alles ganz allein bewerkstelligen. «Knowhow» nennen sie das.Dabei nutzen diese Menschen etwas, das sie selber nie erschaffen haben. Kein Stocki kommt allein aus dem Beutel, nicht einmal die Horssol-Kartoffeln wachsen in der Luft. Anschliessend müssen die Erdäpfel geschält werden, aber Rüstmesser schwimmen nicht wie Fische im Meer, sie müssen produziert werden in einer Fabrik, die irgendwo steht. Die Lastwagen, welche die Kartoffeln in die Fabrik bringen, fahren mit Benzin aus der Erde. Und die obersten Chefs, die das alles managen, sitzen in Büros, die zwar hoch über dem Boden liegen. Aber ohne diesen Boden wären alle Menschen nichts.

Hugo blickt aufs Meer. Wer hat die Welt erschaffen? Er nicht, aber die andern Menschen, von denen er in der Zeitung liest, waren es auch nicht. Warum gehört denen trotzdem die Welt? Und ihm diese Insel?

Am Anfang war das Wort, also denkt sich Hugo, der nicht speziell an Gott glaubt, ein neues Wort aus: «Schöpfungsleistungen». Es gibt zwei Arten von Leistungen: Die einen kommen von den Menschen, das sind die Menschenleistungen. Doch Menschen brauchen Luft zum Atmen, Sonne, den Boden samt seinen Rohstoff- und Energiequellen, etwa dem Wasser. Das sind Schöpfungsleistungen, und die sind für alle da. Auf sie haben alle Menschen gleichberechtigte Ansprüche.

Das tönt etwas missionarisch, aber das tönt nur so. Hugo nimmt einen Schluck Kokosschnaps. Die Zeiten, als er noch an die Anarchie geglaubt hat, sind vorbei. Der Boden lässt sich nicht wie eine einzige, riesige Allmend frei zugänglich machen für alle, sonst gäbe es ein Gemetzel. Gleichzeitig führt das private Nutzungsrecht, wie es inzwischen fast überall Sitte und Brauch ist, zu ewigen Konflikten, ja sogar zu Kriegen. Wie viele wurden schon ums Öl geführt?

Während er allein auf dieser Insel sitzt, schliesst Hugo alle anderen Menschen aus, ebenfalls auf dieser Insel zu sitzen. Ist das etwa «seine» Insel? Eigentlich nicht, findet Hugo, eigentlich müsste er diesen andern Leuten eine Entschädigung auszahlen – dafür, dass er so allein auf dieser Insel sitzen darf. Hugo genehmigt sich einen zweiten Schluck.

Und was tun die andern Menschen, wenn sie in den fernen Städten Zeitungen drucken, Stocki in Beutel abfüllen oder Rüstmesser fabrizieren? Diese andern nutzen ebenfalls die Schöpfungsleistung Boden, selbst wenn ihnen das nicht bewusst ist. Wäre Hugo in diesen fernen Städten, würde er sich seinerseits ausgeschlossen fühlen. Die müssten ihn noch stärker entschädigen als er sie, vermutet er. Eine Schnapsidee?

Hugo hat früher Karl Marx gelesen, ohne dass er deswegen Sozialist oder gar Kommunist geworden wäre. Trotzdem fragt er sich: Warum habe ausgerechnet ich das Recht, auf dieser Insel zu sein? Während sich jemand anders das Recht nimmt, auf diesem oder jenem Acker Kartoffeln zu pflanzen? Oder auf einer grünen Wiese eine Zeitungsdruckerei zu bauen?

In der freien Welt regiert der freie Markt, auch der Boden gehört dem Meistbietenden. Das findet Hugo eigentlich okay. Wer bereit ist, für ein Stück Boden am meisten Geld zu zahlen, soll diesen Boden nutzen dürfen, ganz für sich allein. Er wird dann zum «one and only user». – Entscheidend ist dieses «one and only». Es bedeutet nämlich, dass alle andern auf diesem oder jenem Stück Erde ausgeschlossen werden, ohne dass sie dafür entschädigt werden. Die grösste Ungerechtigkeit, die sich Hugo vorstellen kann. Ginge es fair zu und her auf diesem Planeten, dann müssten alle Ausgeschlossenen dafür abgegolten werden, ausgeschlossen zu sein. Von wem? Von jenen, die ein Stück Erde für sich beanspruchen.

Liegt Hugo nicht gerade im Schatten, steht er auf beiden Füssen. Nie würde er für sich in Anspruch nehmen, das Ei des Kolumbus› erfunden zu haben. Vor ihm kamen gescheitere Leute bereits auf die gleiche Idee. Etwa der amerikanische Reformer Henry George in seinem Buch «Progress and Poverty», erschienen 1879, für damalige Verhältnisse ein globaler Bestseller. Man hat seither diese Idee ab und zu aufgewärmt, als eine Art «geistige Lockerungsübung», wie der liberale Schweizer Journalist Beat Kappeler vor sechs Jahren in der «Weltwoche» schrieb. Aber ernsthaft diskutiert oder gar masterplanmässig umgesetzt hat man diese Idee nie. Warum eigentlich nicht? Weil man sich damit abgefunden hat, dass die Aneigner ihren Boden für sich allein nutzen dürfen, ohne die übrige Gesellschaft dafür zu entschädigen.
Hugo lässt Henry George hochleben und denkt, womöglich ist die Utopie deshalb nie realisiert worden, weil zur Zeit von George der Computer noch nicht erfunden war, ganz zu schweigen vom Internet. Deswegen sprach Henry George auch noch altbacken von einer «Steuer», welche die Bodenbenützer an die Allgemeinheit zahlen müssten. Das Wort «Steuer» jedoch gefällt Hugo nicht. Seit es Ebay gibt, haben die Ideen des Henry George eine andere, neue Dimension. Jetzt kann man sie erstmals in die Realität umsetzen, ohne dass es dazu einen Staat braucht, der Steuern erhebt.

Wie das geht, zeigt ebay.com heute beispielhaft. Eine Auktion ist keine lokale Versteigerung mehr, die ganze Welt kann zuschauen – und mitmachen. Es herrscht die totale Transparenz. Handelbar sind sämtliche Waren (Menschenleistungen), handelbar wäre aber auch die Schöpfungsleistung Boden. Jede einzelne Parzelle liesse sich im World Wide Web auflisten, mit den entsprechenden Eckwerten aus dem Grundbuch: Bodenfläche in Quadratmetern, bestehende Gebäude in Kubikmetern, Baujahr, sogar mit Fotos. Per Mausklick können alle den letzten bezahlten Preis sehen. Und weil bald die ganze Welt online ist, ist nichts mehr endgültig, wird jede Auktion zum fliessenden Prozess, kann jeder jetzige Bodenbesitzer jederzeit überboten werden.

Hugo nimmt den dritten Schluck. Er hat für diese Insel seinerzeit 1000 bezahlt, jetzt kann sich einer, dem diese Insel gefällt, in den nächsten Computer einklicken, nachschauen, was Hugo bezahlt hat – und ihn mit 1100 überbieten. So läuft das im Kapitalismus seit ewigen Zeiten, davor muss sich Hugo nicht fürchten: Niemand kann ihn, den jetzigen Besitzer, zwingen, diese Insel zu verkaufen. Allerdings ist in der Zwischenzeit der Wert seiner Insel gestiegen, wofür Hugo selber gar nichts leisten musste; also findet es Hugo eigentlich nur logisch und gerecht, wenn er die Mitmenschen, die er von der Nutzung dieser Insel ausschliesst, an dieser Wertsteigerung teilhaben lassen muss.

Somit erhält jedes Stück Boden einen doppelten Preis. Der erste ist der Auktionspreis, der frei fluktuiert und sich jederzeit nach oben und unten bewegen kann. Hinzu kommt ein zweiter Preis, den Henry George noch als «Steuer» bezeichnet hat, den Hugo nun «laufende Entschädigung» nennt: ein fixer Prozentsatz, der an die Allgemeinheit geht und gleichmässig unter allen Menschen aufgeteilt wird. Steigt oder sinkt der Wert des Bodens, wirkt sich das direkt auf diese Entschädigung aus. Und zwar in Echtzeit.

Angenommen, die laufende Entschädigung betrage zwei Prozent im Jahr, dann müsste Hugo für diese Insel auf den damaligen Kaufpreis von 1000 jedes Jahr 20 als eine Art Miete an die Allgemeinheit zahlen. Steigt in der Internetauktion der Wert seiner Insel von 1000 auf 1099, kann Hugo das Angebot ablehnen und auf seiner Insel sitzen bleiben, indem er 1100 als aktuelle Zahl nennt. Parallel dazu steigt allerdings die jährliche Ablösesumme von 20 auf 22, die Allgemeinheit profitiert mit. Allein, dass er dieses Stück Erde für sich entdeckt hat, gekauft hat und mehr liebt als andere, gibt ihm nicht das Recht auf lebenslange Gratisnutzung.

Und wenn ein anderer kommt und sagt, das sei seine «Heimat»? Dann wird ihm Hugo erklären, dass er nicht begriffen habe, was eine Schöpfungsleistung ist. Ein Stück Boden darf nie einem Menschen allein gehören, ohne dass die Mitmenschen mitbeteiligt sind. Heimat hingegen ist nicht ortsgebunden. Sehr schön besichtigen lässt sich dieses Phänomen im Museum Ballenberg, oberhalb von Brienz im Berner Oberland. Dort spazieren die Besucher vom Wallis über den Thurgau bis ins Tessin, nicht virtuell, sondern real über Stock und Stein. Fest ist nur der Boden. Schon eine Immobilie ist nicht mehr immobil, notfalls kann man ganze Bauernhäuser verpflanzen.

Hugo ahnt, dass sein System am besten funktioniert, wenn man es gleich weltweit einführt. Ersteigert eine Person, egal welcher Herkunft, eine Parzelle in der Wüste, ist das spottbillig. Findet sie unter der Oberfläche Öl, kommt keine Regierung mehr auf die Idee, diese Parzelle zu verstaatlichen, das wäre nicht mehr nötig. Mit dem Ölfund steigt der Wert des Grundstücks von 1 auf 1 000 000 000, das geht im Nu, parallel dazu steigt die laufende Entschädigung von 0,02 auf 20 000 000, ebenfalls im Nu. Beides geschieht unabhängig davon, was mit dieser Parzelle geschieht. Vielleicht sieht sich der bisherige Besitzer vom Markt her gezwungen, sie zu verkaufen; er tut das gern, er erzielt ja einen schönen Gewinn. Vielleicht handelt es sich beim Besitzer um einen Ölkonzern, dann nutzt er diese Parzelle für sich selbst. Der Gesellschaft kanns egal sein, Hauptsache, sie erhält eine stattliche Entschädigung.
Diese «übrige Gesellschaft» besteht übrigens nicht bloss aus den heutigen Bewohnern des betreffenden Wüstengebiets, sondern aus der ganzen Erdbevölkerung. So würden auch die Ureinwohner am Amazonas davon profitieren, dass die Credit Suisse an einem der teuersten Plätze der Welt, am Zürcher Paradeplatz, ihren Hauptsitz hat und dafür eine ordentliche Entschädigung zahlen muss.

Wie hoch soll der Prozentsatz für diese Entschädigungen sein? Zwei Prozent, wie vorhin vorgerechnet? Hugo nimmt einen weiteren Schluck Kokosschnaps. Er weiss es nicht, das müsste mal ein Kybernetiker durchrechnen. Überdies sollen die Menschen in der Lage sein, in einem demokratischen Verfahren diesen Prozentsatz nach oben oder nach unten anzupassen, je nach Entwicklung.

Ist der Prozentsatz für eine Periode fixiert, läuft alles von selbst. Ein Grossrechner addiert die einbezahlten Entschädigungen, die dann gleichmässig an die Menschheit verteilt werden: Jede Seele erhält denselben Betrag, eine sprichwörtliche «Grundrente». Egal, wie reich oder arm, gross oder klein, jung oder alt, gelb, schwarz oder weiss ein Mensch ist – jeder und jede Einzelne dieser zurzeit 6,7 Milliarden würde zu gleichen Teilen an der «Schöpfungsleistung» Boden beteiligt.

Mathematisch entspricht diese «Grundrente» dem Durchschnittsanteil an der weltweiten Bodennutzung. Es erhalten alle gleich viel, aber es zahlen nicht alle gleich viel. Wer in Wollerau SZ am Zürichsee in einer Villa mit Umschwung sitzt, finanziert das System Hugo. Wer in einem Township in Südafrika auf 1,5 Quadratmetern lebt, gewinnt im System Hugo. Global würden weit über neunzig Prozent der Menschheit profitieren.

Während die Sonne untergeht, nimmt Hugo den fünften Schluck, aber er fühlt sich nüchtern und gut. Plötzlich hört er eine Stimme hinter sich: «Darf ich mich vorstellen?» Beim Mann, der hinter Hugo steht, handelt es sich nicht etwa um den Survival-Typen, der die Zeitung auf die einsame Insel gebracht hat. Hier steht Hugos Schöpfer. Denn Hugo ist nur eine virtuelle Figur (www.start-hugo.com), erfunden von einem, der von sich selber sagt: «Ich bin kein weltfremder Fantast.» Jürg Inniger heisst er, lebt im Kanton Aargau, arbeitet als freier Werbetexter.

Es geht ihm nicht um eine klassische Umverteilung, so wie in unsern heutigen Wohlfahrtsstaaten üblich. «Bei der Umverteilung geben die Leistungsfähigen etwas ab, was ihnen gehört, damit die weniger Leistungsfähigen auch etwas haben.» Das System Hugo läuft anders: Hier fliesst Geld, weil Einzelne etwas konsumieren, das ihnen nicht gehört. Im Fachjargon heisst das «marktgerechte Bezahlung für die Nutzung einer Ressource».

Zurzeit sucht Jürg Inniger den Kontakt zu liberalen Denkern, bei denen «die Freiheit nicht beim Boden aufhört» – und die bereit sind, das Experiment wenigstens mal gedanklich durchzuspielen: Was würde passieren, wenn man das System Hugo einführt?

Mit Sicherheit würden die Leute bewusster mit der Ressource Boden umgehen. Ab sofort wäre es teuer, Land zu horten. Trotzdem kann es zu wilden Spekulationen kommen, so wie heute übrigens auch. Allerdings würde die Allgemeinheit von nun an bei den Übertreibungen nach oben mitprofitieren. Offen ist die Rolle des Staats: Der öffentliche Raum – Strassen, Plätze, Parks, Seepromenade, Flussufer – müsste weiterhin frei zugänglich sein. Auch Raumplanung braucht es wie bisher. Jede Änderung der Ausnutzungsziffer hätte sofortige Auswirkungen auf den Auktionspreis, jedes neue Anflugsystem des Flughafens auch. Verliert der Standort Pfannenstiel ob Zürich wegen des Fluglärms an Wert, erhielten deren Besitzer einen kleinen Trost: Parallel dazu würde ihre laufende Entschädigung an die Allgemeinheit sinken. Und anders als bei den Steuern gäbe es bei diesen Abfindungszahlungen keine Gefahr, dass Abgaben hinterzogen würden: Der Besitzer des Bodens ist bekannt; und wie viel sein Stück Land wert ist, lässt sich im System Hugo via Internet in Echtzeit ablesen.

Hugos Erfinder lebt übrigens im Stockwerkeigentum, vorderhand ohne die Allgemeinheit dafür entschädigen zu müssen. Aber Inniger meint es ernst, so ernst wie Hugo: Er will die Welt verbessern, endlich Gerechtigkeit schaffen. «Geld an alle zu verteilen, ist technisch simpel, viel einfacher jedenfalls, als ein Nahrungsmittel wie Reis an alle zu verteilen. Beim Reis brauchts Arbeit, beim Geld gehts automatisch.» ·

Markus Schneider ist Wirtschaftsjournalist («Weltwoche», «Bilanz») und Buchautor in Zürich. 2004 veröffentlichte er das viel beachtete «Weissbuch» zur Schweizer Marktwirtschaft (info@markusschneider.ch).

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