Zur Zucker-Politik der Schweiz 26.10.2006, Weltwoche
«Die Welt ist flach», heisst ein Buch, das der amerikanische Publizist Thomas L. Friedman weltweit wie süsse Weggli verkauft: Es gibt kein oben und unten, kein Ost und West. Das Rechnungswesen kann in Indien erledigt werden, auch die Diagnose von Röntgenbildern oder die Analyse von Wertpapieren, sogar unser Steuerberater kann in Fernost sitzen ohne dass wir das merken. Die Mauern sind gefallen.In dieser Zeit, da die Globalisierung nicht mehr aufzuhalten ist, erscheinen bei uns Inserate unter dem Titel: «Ein Stück Schweiz in Gefahr». Reflexartig denken wir an den Untergang unserer Fluggesellschaft, den wir in Raten miterlebt, aber in Wahrheit fröhlich überlebt haben. Das Bild im Inserat zeigt das Schweizer Wappen auf einem Stück Würfelzucker, zusammen mit einer Zahl: 1291. Was hat diese wohl zu bedeuten? Die Eidgenossen am Ende des 13. Jahrhunderts mögen vieles gekannt haben, aber Zucker sicher nicht. Der kam erst im Zuge des Kolonialismus nach Europa. Und die neuartigen Rüben, die in unserem Klima gedeihen, werden sogar erst seit Ende des 18. Jahrhunderts gezüchtet.Die Verpackung mag täuschen, aber der Inhalt ist echt. Ein Würfel Zucker ist ein Würfel Zucker ist ein Würfel Zucker. Eine Commodity, eine Rohware. Bis jetzt hat sich wohl kaum jemand gefragt, was passieren würde, wenn sowohl der Anbau wie die Herstellung von Zucker in der Schweiz «gänzlich unrentabel» würden. Genau vor diesem Ernstfall warnt nun dieses Inserat: «Dadurch wird die Versorgung der inländischen Lebensmittelindustrie und des Detailhandels mit diesem wichtigen Rohstoff aufs Spiel gesetzt.»Brot für Brüder, die Wurst bleibt hier
Das riecht nach starkem Tabak. In einer flachen Welt, dachten wir, können Grenzen überschritten, Waren importiert werden. Den wichtigen Rohstoff Reis etwa lässt hierzulande nur die Familie Anda Bührle auf einem relativ kleinen Areal im Tessiner Maggia-Delta anbauen; gleichwohl scheint die Schweiz gut versorgt. Und für den Kriegsfall oder einen andern Engpass leisten wir uns einen Notvorrat, der «Pflichtlager» genannt und vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung überwacht wird. Dieses Lager reicht vier Monate sowohl für den wichtigen Rohstoff Reis, der bei uns kaum angebaut wird, wie für den wichtigen Rohstoff Zucker, der bei uns noch angebaut wird. Für den etwas weniger wichtigen Rohstoff Kaffee, der hier nie angebaut wird, reicht das Pflichtlager drei Monate. Es kann also kaum die Angst vor einem Versorgungsengpass sein, die hinter diesem Inserat steckt. Was sonst?
Die Angst vor der flachen Welt. «Brot für Brüder, aber die Wurst bleibt hier», lautet ein Bonmot, das die Schweizer Zuckerpolitik treffend umschreibt. Demnach spenden reiche Industrieländer etwas Geld zugunsten der Entwicklungshilfe, denn auch die ärmsten Länder sollen eine Chance haben. Noch mehr Geld allerdings werfen die reichen Länder auf, um ihre eigenen Bauern samt den verarbeitenden Betrieben am Leben zu erhalten. Just das nimmt den Bauern in den ärmsten Ländern oft ihre einzige Chance. Ein Widerspruch in sich, der sich unschön zeigt in der Schweiz, dem Land mit den höchsten Subventionen und den höchsten Zöllen der Welt.
Preise fallen auf EU-Niveau
Wäre die Welt tatsächlich flach, kämen die Rüben kaum aus der hiesigen Scholle, stünden die Fabriken kaum in Aarberg BE oder in Frauenfeld TG. Es gibt Länder, die für diese Art Wertschöpfung besser geeignet sind. Etwa Brasilien, die jetzige Nummer eins im Zuckermarkt. Wir würden das «weisse Gold», wie Zucker zur Kolonialzeit genannt wurde, importieren, fertig verpackt. Und zum Dank könnten wir den Würfelzucker im Laden sicher billiger kaufen als heute, wo ein Kilo bei der Migros Fr. 1.80 kostet.
Genau davor will uns die Zuckerlobby bewahren. Schweizer Zucker, heisst es in ihren neuen Inseraten, «ist die Einkommensquelle von 7000 Bauernfamilien und sichert hunderte von Arbeitsplätzen in der Zuckerherstellung. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Danke, dass Sie sich für den Schweizer Zucker einsetzen.»
Unsere 7000 Bauernfamilien leben freilich schon heute kaum vom Zucker allein; anders als in Kuba zu Zeiten des Kalten Kriegs gab und gibt es im Mittelland keine Zucker-Monokulturen. Die Schweizer Familien pflanzen alle auch Getreide an und Mais, leben von der Fleischwirtschaft und nebenbei vom Zucker, finanziert von uns Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. Zurzeit zahlen wir ziemlich genau 30 Millionen Franken im Jahr in Form von Direktzahlungen und, weil es sich beim Zucker um eine «offene Ackerfläche» handelt, in Form eines Zusatzbeitrags. Obendrein löffeln wir unsere Steuergelder in die beiden Zuckerfabriken in Aarberg und Frauenfeld, 29 Millionen Franken dieses Jahr. Das ergibt, bös kalkuliert, eine jährliche Subvention von fast 100000 Franken pro Arbeitsplatz. Josef Arnold, der Direktor der Zuckerfabriken in Aarberg und Frauenfeld, rechnet anders und stellt klar: «Die Abgeltung vom Bund wird zu 100 Prozent für höhere Rübenzahlungen verwendet.» Mit andern Worten subventionieren wir Steuerzahler also die Fabriken, damit diese die bereits subventionierten Bauern nochmals subventionieren.
Diese doppelte Versüssung des Zuckeranbaus ist Achtung: nicht in Gefahr. Im Inserat heisst es zwar wörtlich, dass «die zur Verfügung stehenden Bundesmittel massiv reduziert werden sollen». Doch in Wirklichkeit bleibt die Summe der Subventionen etwa konstant. Der Bund will wohl den Geldfluss in die beiden Zuckerfabriken abstellen; aber zur Kompensation will er den Bauern einen Extra-Zucker-Anbaubeitrag in derselben Höhe auszahlen.
Warum zum Teufel ist dann «Ein Stück Schweiz in Gefahr»? Wegen der EU. Denn die EU schützt ihre eigenen Zuckerbauern ebenfalls vor der Konkurrenz in der Dritten Welt. Die EU wird diese Politik nun etwas abschwächen, weswegen die Zuckerpreise in der EU fallen werden. Die Schweiz muss, weil sie sich in bilateralen Verträgen dazu verpflichtet hat, beim Zucker mitmachen. Deswegen werden auch unsere Marktpreise etwas fallen; zwar nicht gerade auf das Niveau des Weltmarkts, aber auf das Niveau der EU.
Also erscheinen jetzt diese Inserate, für welche die Zuckerbauern und die beiden Zuckerfabriken immerhin 90000 Franken übrig haben: um «die Reform der Agrarpolitik (AP 2011), die in den kommenden Wochen im Parlament behandelt wird», zu stoppen.
Der Allparteiensüssstoff
Nur: Ginge es allein um die Beeinflussung von 200 National- und 46 Ständeräten, hätte sich die Zuckerlobby diese Inserate sparen können. Zum Parlament hat die Schweizer Zuckerlobby einen direkten Zugang. Das zeigt schon die Zusammensetzung des Verwaltungsrats der beiden Zuckerfabriken. Präsident ist Philipp Stähelin, CVP-Ständerat. Vizepräsidentin ist Käthi Bangerter, alt Nationalrätin FDP. Vertreten sind weiter Hans Lauri, SVP-Ständerat aus Bern, Pascal Corminb¦uf, früher Bauer, heute grün-unabhängiger Regierungsrat in Freiburg, Marcel Sandoz, ehemaliger Bauernpräsident und alt Nationalrat FDP, Pierre Savary, alt Nationalrat FDP, ergänzt durch Werner Schwendimann, alt Kantonsrat SVP, Präsident der Schweizer Zuckerrübenbauern.
Also ein rein politisches Gremium, das nun antritt, nicht nur der Schweiz, sondern auch der EU und dem übrigen Ausland etwas zu beweisen: dass die Welt nicht flach ist.