Tabula rasa Doris Leuthard will das «Cassis-de-Dijon-Prinzip» einführen. Die Folgen 23.11.2006, Weltwoche

Tabula rasa
Doris Leuthard will das «Cassis-de-Dijon-Prinzip» einführen. Die Folgen 23.11.2006, Weltwoche
«Duschen mit Doris»: So hiess der Slogan, mit dem sie Nationalrätin wurde. «Shoppen mit Doris»: So lautet ihr Versprechen, seit sie Bundesrätin ist. 58 Tage war sie im Amt, als sie Ende September im Designhotel «Riders Palace» in Laax, einem Mekka der Snowboarder, keck «gegen die Hochpreisinsel» antrat. «In den nächsten Wochen» schon schicke sie eine entsprechende Gesetzesrevision in die Vernehmlassung. Presse, Radio, Fernsehen waren da. Nur das Produkt, mit dem sie für ihren Plan warb, schien aus der Mode geraten: Cassis aus Dijon? Diesen französischen Likör aus Johannisbeeren kennt fast niemand mehr, auch der Barkeeper im «Riders Palace» führt ihn nicht im Sortiment.Vor dreissig Jahren war das anders. Damals begann die Kölner Handelsgruppe Rewe, Cassis de Dijon zu importieren und in deutschen Supermärkten zu verkaufen ­ bis die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein einschritt und die Ware aus Frankreich verbot. Denn der Likör aus Dijon enthielt 20 Volumenprozent Alkohol, während das deutsche Branntweinmonopolgesetz für Liköre 25 Prozent verlangte. Der Europäische Gerichtshof pochte dann allerdings auf den gemeinsamen Markt Europa. Ein wegweisendes Urteil: Seither darf ein jedes Produkt, das im einen Land der EU zugelassen ist, in jedem anderen Land der EU ebenfalls verkauft werden. Seit 1979.Bei uns dauern die wettbewerbsbehindernden Missstände etwas länger. Doris Leuthard war nicht die Erste, die das entdeckt hat; aber sie sprang im richtigen Moment auf den richtigen Zug. Im Sommer 2004, damals noch als Nationalrätin, forderte sie das «Cassis-de-Dijon-Prinzip», weil wir «nachweislich im Schnitt zwanzig Prozent höhere Preise» zu zahlen hätten. «Das ist schlecht für uns Konsumentinnen und Konsumenten, schwächt aber auch die Konkurrenzfähigkeit unserer kleinen und mittleren Unternehmen», welche für Vor- und Zwischenprodukte aus dem Ausland ebenfalls zu viel zahlen müssen.Europäisch einkaufen

Die Tube Dentagard-Kräuterzahnpasta, 75 Milliliter, kostet bei Denner Fr. 2.45, bei Coop Fr. 3.80. Warum ist Denner so viel billiger? Weil Denner diese Ware nicht über den offiziellen Generalimporteur einkauft, sondern direkt aus Deutschland importiert. Nur: Durfte Denner das auch? Eines Tages schritt der Kantonschemiker ein, zeigte auf die Beschriftung auf der Verpackung, auf der «zahnmedizinisch vorbeugend» stand ­ was verboten sei. «Karieshemmend» wäre erlaubt gewesen. Nun hat das Bundesgericht entschieden: Denner darf doch! Der Hinweis auf «vorbeugende Eigenschaften» sei zulässig ­ sofern die Zahnpasta geeignete Wirkstoffe enthalte ­, während Hinweise auf «heilende Wirkungen» nach wie vor unzulässig seien.

Übrigens: Das berühmte Wort «Sahne», das lange Zeit nicht auf unserer Rahm-Verpackung stehen durfte, wird inzwischen ebenfalls anerkannt. «Shoppen mit Doris» heisst nun aber: Wir wollen nicht nur Dentagard-Zahnpasta, nicht nur Sahne, wir wollen auch den Bosch-Kühlschrank, die Nivea-Creme, die Corbusier-Liege zu europäischen Preisen kaufen. Und die kleinen Betriebe wollen ihre Maschinen und Rohwaren ebenfalls günstig und direkt aus den EU-Ländern beziehen.

Maximal zwei Dutzend Ausnahmen

Die Gunst der Stunde erkannt haben in alphabetischer Reihenfolge: Charles Vögele, Coop, Denner, Manor, Migros, Valora. Sie alle haben sich zur Interessengemeinschaft Detailhandel Schweiz (IG DHS) formiert. Zurzeit machen sie hinter den Kulissen Druck mit einem Positionspapier, das für hiesige Verhältnisse fast eine Revolution verspricht. Unter Punkt 1 steht im Entwurf zum neuesten Papier: «Die IG DHS fordert die Beseitigung von technischen Handelshemmnissen und bürokratischen Hürden beim grenzüberschreitenden Handel und ist im Detailhandelsmarkt für vollständige EU-Kompatibilität. Nationale Sonderregelungen sind konsequent zu beseitigen und keine neuen zu schaffen.»

Das klingt nicht nur radikal ­ das ist radikal. Entspricht das auch der Absicht von Doris Leuthard? Gedenkt sie, nach gut hundert Tagen im Amt, «im Detailhandel für vollständige EU-Kompatibilität» zu sorgen? Wenn sie ihren Cassis-de-Dijon-Plan voll durchzieht, ist sie auf dem besten Weg dazu.

Kurz nachdem sie als Nationalrätin ihr Postulat eingereicht hatte, stiess der bürgerliche Obwaldner Ständerat Hans Hess mit einer Motion nach, die von beiden Räten angenommen wurde. Jetzt musste der Bundesrat etwas tun. Der damalige Minister Joseph Deiss liess eine Vorlage ausarbeiten, die jede Konsequenz vermissen liess. Die Beamten in den vielen Bundesämtern legten insgesamt 106 Punkte auf den Tisch, bei denen überall das Cassis-de-Dijon-Prinzip nicht gelten solle. Für Sportboote etwa brauche es einen tieferen Lärmgrenzwert. Für Velos brauche es eigene Sicherheitsvorschriften, als ob Radfahren in Europa ein allgemeingefährlicher Akt wäre. Und so weiter. So wollten die Chefbeamten die Ausnahmen zur Regel machen ­ um mit jeder einzelnen Sondernorm ihrer eigenen Bürokratie extra Arbeit zu beschaffen und den betreffenden Branchen auch künftig einen extrahohen Schweiz-Preis zu gestatten.

Damit schien die Reform gescheitert, bevor sie richtig lanciert war. Bis Doris Leuthard das Departement übernahm. Abschätzig redete sie über «Ausnahmen diversester Natur», welche die Arbeit «im Moment» noch schwierig machten, aber sie werde, so kündete sie an der «Sessiun» in Flims an, «ein Gesetz mit wenigen Ausnahmen vorlegen», nämlich «nur in Bereichen, wo wir sagen: Hier soll die Schweiz höhere Standards als die Europäische Union haben, etwa bei Gesundheits- und Umweltfragen.» Konkret: Das Phosphat-Verbot für Waschmittel soll bestehen bleiben, Eier aus Käfighaltung sollen weiterhin verboten, Antibiotika im Tierfutter speziell geregelt bleiben, und alle Medikamente sollen weiterhin nicht ohne eine spezielle Prüfung durch die Swissmedic zugelassen werden. Insgesamt will Doris Leuthard maximal zwei Dutzend solcher Ausnahmen zulassen.

Gleichzeitig macht sich Doris Leuthard aber auch an den Text der Vorlage, der «noch sehr technisch und juristisch» war und deswegen der neuen Magistratin gar nicht gefiel. «Ich werde mich jetzt bemühen, das in einer Sprache abfassen zu lassen, die man versteht, auch wenn man nicht Expertin oder Experte auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse ist», kündete sie in Flims an.

Positionen der Detailhändler

Einer, der gern beim Formulieren hilft, ist Roger Zäch, Rechtsprofessor in Zürich. Letzthin besuchte er die Volkswirtschaftsministerin persönlich und unterbreitete ihr eine Lösung, nach der jeder Mann und jede Frau das Cassis-de-Dijon-Prinzip verstehen, ja sogar anwenden könnte. «Punkt 1: Man darf jedes Produkt, das in der EU verkauft wird, in die Schweiz importieren und dieses hier weiter verkaufen. Als Beleg genügt: Die Rechnung, aus der hervorgeht, dass man das Produkt in der EU eingekauft hat.» Daraufhin folgt «Punkt 2: die Ausnahmen». Sofern diese klar umschrieben und abschliessend definiert seien, ist Zäch einverstanden.

Zäch ist kein Einzelkämpfer. Er ist Vizepräsident der Wettbewerbskommission, Verwaltungsrat von Denner. Und auch die IG Detailhandel Schweiz hat Zäch kürzlich zu einem Hearing eingeladen. «Zäch will Tabula rasa machen», heisst es im Departement von Doris Leuthard. Unter Joseph Deiss meinten die Beamten noch, dass die Cassis-de-Dijon-Übung eine beschränkte Operation sei, da viele Schweizer Gesetze, Normen und Verordnungen bereits mit der EU harmonisiert worden seien, etwa im Bereich von Lebensmitteln und Fleisch; also müsse man für all diese Bereiche gar kein Cassis-de-Dijon-Prinzip mehr einführen.

Nun legen die Detailhändler in ihrem Positionspapier dar: Zwar sei manches harmonisiert, aber oft nicht vollständig. Der Teufel liegt wie immer im Detail. Darum müsse man das Cassis-de-Dijon-Prinzip generell über alles stülpen ­ sonst wisse am Ende kein Importeur mehr, für welches Produkt das Cassis-de-Dijon-Prinzip gelte und für welches nicht.

Stoff für Satiriker?

Zum Beispiel Schinken: Gemäss dem Gesetzestext, den Joseph Deiss noch ausgearbeitet hat, könne man hier auf das Cassis-de-Dijon-Prinzip verzichten; alles sei bereits harmonisiert mit der EU. Doch das stimmt eben nicht. «Schinken» wird hierzulande so genau definiert wie nirgends sonst. Die Kantonschemiker ­ eine Berufsgattung mit sonderbar viel Macht ­ mussten extra eine «Interpretationshilfe» publizieren. Dort heisst es, die Bezeichnung «Schinken» dürfe «nur für Produkte aus Muskel oder Muskelpaketen vom hinteren Stotzen des Schweins verwendet werden». Zudem seien genau zwei «Fantasiebezeichnungen» zulässig, nämlich die Bezeichnung «Vorderschinken», sofern es sich um «Produkte aus Muskeln oder Muskelpaketen von der Schulter des Schweins» handle. Zusätzlich erlaubt sei die Bezeichnung «Trutenschinken» (oder einer anderen Tierart), wobei «die Bezeichnung der Tierart in direkter Verbindung mit dem Ausdruck Schinken stehen und in der gleichen Schrift angegeben sein» müsse. Wird der Schinken als «Sandwich mit Schinken», «Schinkenpizza» oder «Schinkengipfel» verkauft, muss der verwendete Schinken, wie oben definiert, «aus Muskel oder Muskelpaketen vom hinteren Stotzen des Schweins» stammen. Werde «Trutenschinken» oder «Vorderschinken» verwendet, müsse man das explizit bezeichnen. Ein Bäcker müsste in diesem Fall also «Vorderschinkengipfeli» anpreisen.

Das ist kein Stoff für Satiriker, sondern die Ausgangslage von Doris Leuthard. Sie hat zwei Alternativen: Entweder folgt sie ihren Beamten. Dann erlässt sie ein kompliziertes Gesetz, das niemand versteht und wenig bewirkt. Die Detailhändler listen in ihrem Papier weitere Beispiele auf, vom Sirup über Sportlerernährung bis hin zu Drogerieartikeln. Ein weiteres Problem sei die Herkunftsbezeichnung: In der EU genüge der Hinweis auf die EU, die Schweiz verlange das betreffende Land. Wenn das Gesetz hier nicht für Klarheit sorge, bleibe die Preisinsel Schweiz eine Preisinsel.

Oder Doris Leuthard macht tatsächlich Tabula rasa. Dann führt sie, wie von Roger Zäch und der IG Detailhandel vorgeschlagen, das Cassis-de-Dijon-Prinzip flächendeckend ein, für sämtliche Produkte, bis auf die paar wenigen klar definierten Ausnahmen (Käfigeier, Medikamente, Phosphat-Waschmittel). Aber damit kommt unsere neue Bundesrätin innenpolitisch unter Druck.

Die schärfste Opposition kommt sicher von der SVP, die aus dieser Frage eine nächste EU-Beitritts-Debatte machen wird ­ mit Betonung auf dem Wort «einseitig». Denn Doris Leuthard will, wie sie bereits als Nationalrätin gefordert hat, das Cassis-de-Dijon-Prinzip «einseitig» einführen. Das heisst: Die Schweiz tut etwas, die EU tut nichts. Die Schweiz muss praktisch alle Produkte aus der EU automatisch zulassen (bis auf die wenigen Ausnahmen), die EU muss gar nichts zulassen. Damit werden unsere Exporteure gar nicht einverstanden sein.

Warum kommt Doris Leuthard überhaupt auf die Idee, den Markt einseitig zu öffnen? Weil es anders nicht geht. Das Volk hat den EWR abgelehnt, der Bundesrat hat es in zwei bilateralen Verhandlungsrunden nicht gewagt, das Cassis-de-Dijon-Prinzip zu regeln. Eine dritte bilaterale Runde wäre langwierig. In der Zwischenzeit wollen aber auch viele bürgerliche Politiker endlich etwas gegen die systematisch überhöhten Preise tun.

Dafür warben: Rudolf Strahm, der Preisüberwacher, und Aymo Brunetti, der Chefökonom im Departement Leuthard, der sich sogar einen Wachstumsimpuls erhofft. Neu ist das Cassis-de-Dijon-Prinzip sogar offizieller Teil des Wachstumspakets des Bundesrats. Und praktisch sämtliche Ökonomen im Land, inklusive der Nationalbank, bestätigen: Es ist klüger, wir wenden das Cassis-de-Dijon-Prinzip einseitig an. Damit die Preise sinken ­ sofort.

Das Ende der Gemütlichkeit

Bestes Beispiel, wie eine einseitige Öffnung gelingt, ist der Automarkt. 1995 wurden die Abgas- und Lärmvorschriften der Schweiz mit Europa harmonisiert. Vor allem aber wurde den Konsumenten erlaubt, ihr neues Auto direkt in der EU zu kaufen, es über die Grenze zu fahren, um es auf dem Verkehrsamt, ohne weitere Kontrolle, anzumelden. Eine simple Massnahme, die sofort wirkte: Die Autopreise, die zuvor klar überhöht waren, kamen ins Rutschen; heute sind sie tiefer als in der EU. Und die Autoimporteure kamen ins Zittern; ihre Margen fielen zusammen, Erb in Winterthur ging pleite, der Zürcher SVP-Politiker Walter Frey zog sich aus der Politik zurück, weil er sich ums Geschäft kümmern musste. Mehr Wettbewerb bringt das Ende der Gemütlichkeit.

Wer gegen das Cassis-de-Dijon-Prinzip kämpft, setzt sich dem Vorwurf aus, ein «Sonntagsliberaler» zu sein, der werktags von technischen Handelshindernissen profitieren möchte. Das erfährt bereits Alexander Baumann, SVP-Nationalrat aus dem Thurgau. Ihm wird nun nachgesagt, er sei eben mit der Firma Rausch in Kreuzlingen verbunden, die edle, natürliche, teure Shampoos produziere ­ und von besonderen Regulierungen der Drogeriewaren profitiere.

Flugs werden die «Sonntagsliberalen» aber auch ein handfestes Argument aus der Tasche hervorzaubern: «Die Inländer werden diskriminiert.» Schweizer Produzenten müssten sich nämlich weiterhin an unsere weitreichenden Vorschriften halten, die Konkurrenten im europäischen Ausland nicht.

Inländerdiskriminierung

Hier öffnen sich Widersprüche, von denen bisher selbst Doris Leuthard keine Ahnung hatte. Am Mittwoch, 8. November, verabschiedete sie als Agrarministerin eine Verordnung über «Berg- und Alpprodukte». Bei einem «Bergprodukt» müssen «die Rohstoffe aus der Bergregion stammen und im Berggebiet einschliesslich der angrenzenden Gemeinden verarbeitet» werden. Findet die Verarbeitung unten im Tal statt, darf nur auf die Herkunft der Rohstoffe hingewiesen werden («Jogurt aus Bergmilch»). Auch beim «Bergkäse» muss stets «sowohl die Milcherzeugung als auch die Verkäsung im Berggebiet» erfolgen.

Geht Doris Leuthard bei Aldi Schweiz einkaufen, findet sie dort einen «Bergkäse» aus Österreich, der im Tal hergestellt wird. Dieser Käse muss nach ihrer neuen Verordnung bald aus dem Regal geräumt werden. Gelingt es Doris Leuthard jedoch, das Cassis-de-Dijon-Prinzip einzuführen, darf dieser «Bergkäse» aus Österreich wieder ins Regal zurückgestellt werden ­ während die Schweizer Produzenten für ihren «Bergkäse» weiterhin die strengeren Anforderungen erfüllen müssen. Damit werden die «Inländer» tatsächlich «diskriminiert» ­ nämlich durch unsere eigenen Gesetze und Verordnungen, mit denen wir uns das Wirtschaften selber schwermachen.

Wie kommt Doris Leuthard aus der Falle heraus?

Indem sie sich wieder von Roger Zäch beraten lässt, wie man einfache und liberale Gesetze formuliert. Denn auch für die drohende Inländerdiskriminierung gibt es nach Zäch eine praktikable Lösung. Der Gesetzgeber könne vorsehen: «Unternehmen in der Schweiz dürfen nach den technischen Vorschriften eines Mitgliedstaats der EU produzieren.» Alle Produkte dürften dann ­ abgesehen von den erwähnten Ausnahmen ­ «in der Schweiz in Verkehr gebracht werden».

Im Klartext: Ein hiesiger Shampoo-Produzent könnte sein Shampoo auch wahlweise nach deutschen oder polnischen Vorschriften produzieren.

Und aus dem «Duschen mit Doris» würde tatsächlich ein «Shoppen mit Doris».

Fleisch kostet in der Schweiz fast 50 Prozent mehr als in der EU, Brot 25 Prozent mehr, für Möbel, Schule, Kleider und Getränke bezahlt man rund 10 Prozent mehr: Das ergibt der neueste Vergleich des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Im Durchschnitt sind die Preise in den Schweizer Einkaufsläden um 15 Prozent erhöht, zeigt eine zweite neue Studie, welche die BAK Basel Economics für die Interessengemeinschaft IG Detailhandel erstellt hat. Warum ist das so? Hier zunächst eine Reihe von Faktoren, die nicht schuld sind:

Nicht schuld sind die Steuern. Im Gegenteil, ist doch die Mehrwertsteuer in der Schweiz viel tiefer als in der Europäischen Union. Demzufolge müssten die Produkte in der Schweiz auch um satte 7 Prozent billiger sein. Sind sie aber nicht, ausser bei Autos, und das deutet an: Für Autos ist der Markt frei, überall sonst ist er unfrei.

Nicht schuld sind die höheren Löhne des Verkaufspersonals. Zwar liegen die Brutto-Arbeitskosten in der Schweiz um 17 Prozent über denjenigen der EU, doch wird dieser Effekt durch die höhere Arbeitsproduktivität kompensiert, wie die neue BAK-Studie sauber darlegt.

Nicht schuld ist eine angeblich höhere Qualität der Schweizer Produkte; es werden jeweils identische Warenkörbe miteinander verglichen. Demnächst wird das Seco eine Studie mit «50 exakt definierten Produkten» nachliefern.

Nicht schuld sind angeblich höhere Umwelt- oder Gesundheitsstandards: Die EU ist nicht Afrika und diesbezüglich so streng wie die Schweiz.

Ein klein wenig schuld sind die höheren Mieten, die höheren Transportkosten (LSVA) etc., aber nur ein klein wenig. Gemäss BAK-Studie erklären diese Vorleistungen gerade 3 Prozent der Preisdifferenz.

Und womit erklärt sich der grosse, grosse Rest? Damit, dass die Beschaffungspreise zu teuer sind, viel zu teuer. Und zwar unabhängig davon, ob unsere Detailhändler die Waren im Inland einkaufen oder aus der EU importieren. Warum ist das so? Warum können die hiesigen Detailhändler in der EU nicht gleich günstig einkaufen wie die EU-Detailhändler? Antwort: weil sie an Parallelimporten gehindert werden, und zwar auf vier verschiedene Arten:

Erstens: durch höhere Zölle. Sie verteuern alle Produkte der Landwirtschaft (Fleisch, Getreide, Milchprodukte) extrem. Das soll unseren Bauern nützen, die Zeche aber bezahlen wir Konsumenten.

Zweitens: durch technische Handelshemmnisse wie unterschiedliche Vorschriften, Bezeichnungen auf den Etiketten etc. Hier würde das Cassis-de-Dijon-Prinzip helfen ­ sofern es wirklich konsequent angewendet wird. Ob Bundesrätin Leuthard dazu genug Mut hat, muss sich zeigen (siehe Artikel nebenan).

Drittens: durch den Patentschutz. Bei uns gilt nicht die europäische Patenterschöpfung, sondern eine spezifisch schweizerische. Dafür kämpfen: die Pharma-Lobby und die Bundesräte Blocher und Couchepin. Allerdings bahnt sich eine wichtige Lockerung an: Bis jetzt konnten Koffer von Samsonite nicht parallel importiert werden, weil deren Schloss patentiert war; bei Scott-Fahrrädern waren die Bremsen patentiert. In Zukunft muss sich der Patentschutz eindeutig auf die «Hauptsache» beziehen (zum Beispiel: auf das Parfüm) und nicht länger auf Nebensächlichkeiten (zum Beispiel: auf den Verschluss des Parfüms).

Viertens: durch Kartelle. Ausländische Produzenten versuchen, die Kontrolle über das ganze Vertriebssystem (etwa via Generalimporteure) zu behalten ­ auch mit Druck, Drohungen und «Knebelverträgen». Das wäre dann ein Fall für die Wettbewerbsbehörden.

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