Entziffert 20.12.2006, Bilanz__ Heute wollen wir uns einem neuen Modebegriff zuwenden: dem «Prekariat». Damit gemeint sind Menschen, die am Fortschritt nicht teilhaben und auch glauben, dass ihre eigenen Kinder keine Chance hätten.«Einmal arm immer arm?»: So fragt eine Studie der Caritas Zürich. In der Untersuchung werden zwölf Menschen vorgestellt, die aus prekären Verhältnissen stammen, denen der Aufstieg aber geglückt ist. Als die Ethnologin Marta Ostertag ihre Studie am Armutsforum der Caritas vorstellte, relativierte sich die Autorin gleich selber: «Zwölf Aufsteigerinnen und Aufsteiger haben wir für unsere Studie gefunden. Es gibt sie also. Sicher. Aber es sind die Ausnahmen sie bestätigen die Regel.» Und diese Regel besage, dass Armut und Reichtum vererbt würden.Ein bisschen widersprüchlich war das schon. Als Marta Ostertag die zwölf Ausnahmepersonen befragte, fand sie es «spannend, dass eine nachteilige Herkunft genauso gut Hindernis wie Ansporn sein kann». Eine Aufsteigerin sagte zu ihr: «Ich wollte weg vom bäuerlichen, katholischen, einengenden Milieu.» Ein anderer meinte: «So wie mein Vater wollte ich nie werden, und auch die Mutter meinte, dass ich es schon zu mehr bringen werde.» Zwölf Beispiele erzählt Marta Ostertag, zwölf eigene Geschichten. Obwohl es die Aufstiegskarriere schlechthin nicht gebe, sei ihr eine Gemeinsamkeit aufgefallen: eine «besondere Persönlichkeit», die «entweder als Neugierde, Ehrlichkeit, Raffinesse oder Intelligenz zum Ausdruck» gekommen sei. Auch Max Elmiger, Geschäftsführer von Caritas Zürich, las eigentlich eine positive Botschaft aus der Studie heraus: «Armut ist keine genetisch unheilbare Krankheit, Armut kann überwunden werden.»
Dennoch malt die Caritas in ihren Schriften eine «70-20-10-Gesellschaft» an die Wand: 70 Prozent der Bevölkerung seien «nie arm», 20 Prozent «armutsgefährdet», 10 Prozent «dauernd arm». Dies bedeute: Bei den Angehörigen der tiefsten sozialen Schicht verfestige sich die Armut, indem diese von Generation zu Generation weitergegeben werde. Einmal arm, immer arm.
Stimmt das? Sozialwissenschaftler sprechen von «sozialer Mobilität» und erklären, dass gewisse Leute von unten nach oben aufsteigen, andere von oben nach unten absteigen müssten, sonst sei eine Gesellschaft nicht durchlässig. Zur Kontrolle messen die Ökonomen die Einkommen über zwei Generationen hinweg das ist international gängige Praxis. Nur in der Schweiz gab es bisher noch keine einzige solche Studie.
Jetzt hat Philipp Bauer, ein Statistiker an der Universität Basel, erstmals hierzulande das Einkommen über zwei Generationen hinweg gemessen. Resultate:
Gehört der Vater zur untersten Kategorie der untersten 25 Prozent, landet der Sohn mit 40 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls in dieser untersten Kategorie der untersten 25 Prozent. Das mag deprimierend klingen, aber es heisst gleichzeitig: Die Aufstiegswahrscheinlichkeit beträgt 60 Prozent. Schaut man genauer hin, schaffen es 16 Prozent bis hinauf in die Kategorie der obersten 25 Prozent.
Gehört der Vater zur obersten Kategorie, landet der Sohn mit 39 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls in dieser obersten Kategorie. Das klingt beruhigend, heisst aber gleichzeitig: Die Abstiegswahrscheinlichkeit beträgt 61 Prozent. Bei 14 Prozent führt der Absturz bis hinunter in die tiefste Kategorie.
Also findet soziale Mobilität statt. Es gibt Absteiger, es gibt Aufsteiger. Und die Aufsteiger sind nicht, wie von der Caritas an ihrem Armutsforum unterstellt, «zwölf Einzelfälle». Es sind 16 Prozent von allen. Fast jede sechste Person, deren Eltern aus der Kategorie der untersten 25 Prozent stammen, steigt hinauf bis in die Kategorie der obersten 25 Prozent.
Philipp Bauer: The Intergenerational Transmission of Income in Switzerland. Als PDF unter www.wwz.unibas.ch/forum/publikationen/discussion.html.