Das grosse Abtreten 02.02.2006, Weltwoche

Das grosse Abtreten
Wer taugt hier nichts mehr? Die Jugend – oder die Armee? 02.02.2006, Weltwoche
«Jeder Schweizer ist verpflichtet, Militärdienst zu leisten.» Dieser Grundsatz, in der Verfassung festgeschrieben, wird kaum mehr gelebt. 1982 waren 16 Prozent der jungen Männer militärdienstuntauglich, 1992 bereits 22 Prozent, 2002 dann 39 Prozent, letztes Jahr 41 Prozent. Die allgemeine Dienstpflicht wird zum Papiertiger.Untauglich ist vor allem aber das Wort «untauglich». Mit diesem Begriff fördert die Armee eine Tendenz, die unsere Gesellschaft von links bis rechts, von unten nach oben untergräbt: Statt dass man sich einem Problem stellt, zaubert man es weg, indem man es mit ärztlicher Hilfe medizinalisiert. Verdoppelt hat sich in den letzten zehn Jahren ja auch die Zahl derjenigen, die von den Unternehmen als «Untaugliche» – pardon: als Invalide – ausgemustert wurden. Bei diesem tristen Prozess wirkt ausgerechnet die Armee als Institution zur Angewöhnung: Zwei von zehn jungen Männern sondert sie aus physischen Gründen aus, zwei von zehn aus psychischen. Am höchsten ist die Quote der «Untauglichen» in Basel-Stadt (60 Prozent!), wo es, vielleicht nicht ganz zufällig, auch am meisten Invalide gibt. Dahinter folgt der Kanton Jura, sowohl in der Kantonsrangliste der «Untauglichen» wie in derjenigen der Invaliden.Man muss nicht Medizin studiert haben, um zu fragen: Können so viele junge Menschen «untauglich» sein? Gerade die Extrembeispiele Basel-Stadt und Jura deuten an, dass dort nicht notwendigerweise physische oder psychische Defizite auftreten; es könnten auch politische sein. Im Jura und in Basel-Stadt ist nämlich auch der Anteil derer am höchsten, die in Volksabstimmungen die Armee abschaffen wollten.Die Folgen dieser fehlenden Verankerung dauern an: Überall in der Schweiz läuft das Volk dem Volksheer davon, was durchaus eine frohe Perspektive ist. Nämlich ein Hinweis darauf, dass die Welt friedlicher wird. Weit und breit ist kein Feind in Sicht, zum Schutz einer privaten Veranstaltung wie dem WEF in Davos braucht es auch keine Schweizer Armee, und gegen die wirklichen Gefahren (die Atompläne der Mullahs, die Attacken der Bin Ladens) nützt sie nichts.

Währenddessen stempeln die Offiziere, als ob die Zeit still stände, Tausende und nochmals Tausende Jugendliche zu «Untauglichen» ab. Dabei würden selbst Blinde erkennen: Viele dieser Tausende sind nicht «untauglich», nur unwillig. Wie hoch muss diese Zahl noch ansteigen, bis etwas geschieht?

Die Lösung wäre so einfach. Die Militärpolitiker müssten nur ein bisschen ehrlich sein, nur ein einziges Wörtchen ändern – indem sie die Unwilligen konsequent zu «Unwilligen» erklärten. Ein kleiner Schritt wäre das, allerdings mit gewaltiger Wirkung ab sofort. Schon am Montag, 20. März, dem Start zur nächsten Rekrutenschule, ständen nicht mehr die «Tauglichen» stramm, sondern die «Willigen».

Und aus der Milizarmee würde eine Freiwilligenarmee. Über Nacht. In der Fortsetzung dürften sich die Armeeärzte wieder den wirklich medizinischen Fragen zuwenden, Unwillige können sich selber für «unwillig» erklären. Was sehr viele junge Männer zweifellos gerne täten. Also würde sich das Massenheer dezimieren, schlagartig – was kein Schreck wäre. Der radikale Abbau ist nämlich das eigentliche Ziel des Manövers.

Betrachtete man die jetzige Schweizer Armee als eine ganz normale Firma, riefe jeder McKinsey-Berater: Diese Firma führt schlicht viel zu viel Personal. Seit 1945 bietet das Heer, als wäre die Schweiz ein Reich wie China, Menschen zum «Gratis»-Dienst auf. Aus Sicht der Militärpolitiker kostet ein Soldat lächerliche 40 Franken im Tag (für Sold, Verpflegung, Unterkunft). Insgesamt leisten die 59 Prozent «Tauglichen» 6,5 Millionen Diensttage, was international weiterhin einen Spitzenwert darstellt, volkswirtschaftlich aber eine immense Verschwendung bedeutet. Man kann junge Männer sinnvoller einsetzen als mit Marschieren in Kolonnen oder Biwakieren im Gelände.

Untauglich ist nicht die Jugend, untauglich ist die Armee, die Massen von Menschen mit ungenügender Ausrüstung üben lässt. Und wenn dieses Material eines fernen Tages doch ersetzt werden sollte, müssen Massen von Menschen neu ausgebildet werden. Man muss nicht Ökonomie studiert haben, um zu erkennen: Dieses Betriebskonzept ergibt technologisch wie buchhalterisch keinen Sinn. Doch was tut die Armeespitze? Sie diskutiert intern den sogenannten «Aufwuchs»: Acht Jahre würde es dauern, 40 Milliarden Franken kosten, bis die Armee im Notfall zur vollen Verteidigungsfähigkeit hochgefahren wäre, heisst es.

Auch hier ist schon das Wort falsch gewählt. Das Ziel darf nicht «Aufwuchs», sondern muss «Abbau» heissen, genauer: Personalabbau, und zwar im grossen Stil. Und sollte sich herausstellen, dass sich unter den letzten «Willigen» lauter «Rechtsextreme», «Blutrünstige», «Pfadfinder» versammeln? Keine Angst. Das Heer der Schweizerinnen und Schweizer besteht aus Unwilligen, die auch die Mehrheit stellen könnten, um mit unserer Armee zu tun, was sich ohnehin abzeichnet: sie aufzulösen.

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