«Da müssen wir doch etwas tun?»

Interview mit Doris Leuthard 11.01.2007, Weltwoche

«Da müssen wir doch etwas tun»
Frau Bundesrätin Leuthard, Sie sind seit sechs Monaten Vorsteherin des Volkswirtschaftsdepartements. Wozu braucht eine liberale Marktwirtschaft überhaupt ein Volkswirtschaftsdepartement?
Wir müssen ja gerade dafür sorgen, dass der freie Markt reibungslos spielen kann. Damit wir zum Beispiel unsern flexiblen Arbeitsmarkt bewahren können, braucht es ein Regulativ, darum haben wir ja auch eine Arbeitslosenversicherung, das ist eine staatliche, hoheitliche Aufgabe. Zusätzlich leben wir heute immer mehr in einer globalisierten Welt, und da muss das EVD (Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement) das Aussennetz spannen: Wir müssen die Schweiz richtig positionieren, sei es gegenüber der EU, aber auch im Rahmen der Efta, der WTO oder mit bilateralen Freihandelsverträgen gegenüber andern Staaten. Und was wollen Sie mit der Landwirtschaft? Diese können Sie nicht einfach abschaffen und alle Subventionen streichen. Die Berufsbildung dürfen Sie auch nicht unterschätzen, gerade im Zusammenhang mit den Fachhochschulen. Das Wettbewerbsrecht ist eine Aufgabe, die wir in diesem Jahr neu prüfen werden – das EVD braucht es.Also sehen Sie Ihren politischen Auftrag in erster Linie darin, zu verhindern, dass sich die Politik in die Wirtschaft einmischt.
Genau. Freihandel bedeutet eigentlich, dass es weniger nationale Vorschriften gibt. Viele technische Handelsvorschriften, die keinen Mehrwert bringen, wollen wir abschaffen, darum das Cassis-de-Dijon-Prinzip. Bezüglich des Arbeitsmarkts gibt es laufend Bestrebungen, Mindestlöhne einzuführen, neu auch Maximallöhne oder den Kündigungsschutz zu verstärken. Dagegen wehren wir uns, das wollen wir nicht. Die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sollen all diese Dinge in Sozialpartnerschaft regeln, nicht via Gesetze.In Ihren Reden tönt es anders, da warnen Sie vor dem «Raubritterkapitalismus». Machen Sie das aus Imagegründen? Rhetorisch fordern Sie «mehr Solidarität», aber in Wahrheit wollen Sie «mehr Markt» einführen.
Sie vermischen da zwei Dinge. Wir betreiben Wirtschaftspolitik für mehr Wettbewerb und Wachstum, aber wir haben auch eine soziale Verantwortung. Wir wollen keinen Liberalismus um des Liberalismus willen, sondern wir sind verpflichtet, das System so zu justieren, dass auch diejenigen Menschen, die mit Freiheit nicht umgehen können, aufgefangen werden. Wenn Jugendliche in unserem Berufsbildungssystem durchfallen, müssen wir doch etwas tun. Dann müssen wir versuchen, diesen Jugendlichen eine Perspektive zu geben, damit sie irgendeinmal doch eigenverantwortlich einen Lohn verdienen können. Zudem müssen wir immer auch die Umwelt mit einbeziehen, denken Sie nur an die Diskussionen um das Kioto-Protokoll.In den letzten zwanzig Jahren fand in ganz Europa der gleiche Trend statt: weg vom freien Markt, hin zu mehr Staat. Was tun Sie dagegen?
In der Schweiz gab es diesen Trend nicht. Das Binnenmarktgesetz war ein Schritt zu mehr Markt, auch mit der Umsetzung der bilateralen Verträge mit der EU haben wir viele freiheitliche Elemente eingebaut. Die Personenfreizügigkeit mit den EU-Bürgern zum Beispiel ist ein grosser Fortschritt, und dank den flankierenden Massnahmen halten wir hier auch unsere sozialen Versprechen. Im Bereich Sozialversicherungen, da haben Sie recht, da ist es extrem schwierig, für mehr Wettbewerb zu sorgen, etwa mehr Wettbewerb ins Gesundheitswesen zu bringen. Aber wir versuchen es.In Franken gemessen, findet das Gegenteil statt: Die Sozialausgaben steigen munter an.
Effektiv gehen 27 Prozent der Bundesausgaben ins Sozialwesen, Tendenz zunehmend. Auch die Arbeitslosenversicherung, für die mein Departement zuständig ist, erreicht bald eine Schwelle von 6 Milliarden Schulden. Auch da kommen wir nicht einfach mit Beitragserhöhungen, sondern wir versuchen auch, Leistungen abzubauen. Der Bundesrat war für die Sparmassnahmen in der 11. AHV-Revision, das Volk hat diese abgelehnt. Aber wir geben nicht auf, jetzt probieren wir es wieder, halt mit einer abgespeckten Version. Ich hoffe, das Volk wird der 5. IV-Revision zustimmen.

An Ihrer Jahrespressekonferenz am 8. Januar sagten Sie den Satz: «Zu viele Menschen sehen sich als Verlierer in einem zunehmend unsolidarischen Gemeinwesen.» Woher wissen Sie das so genau?
Sie müssen mit den Leuten reden, die in einfachen Verhältnissen leben. Zum Beispiel mit den Jungen, die stellenlos sind; die empfinden das so. Als ich für die Abstimmung über die Kohäsionsmilliarde zugunsten der neuen EU-Länder kämpfte, habe ich immer wieder gehört, dass sich die Leute hier bei uns Sorgen machen um den Arbeitsplatz, um die Altervorsorge. Sogar Studenten beklagen sich: Wir erhalten keine Stipendien, uns hilft niemand…

…als wir noch studiert haben, hat man uns die Stipendien auch nicht nachgeworfen.
Ja, aber wir leben in einer Gesellschaft, in der die materiellen Werte eine viel bedeutendere Rolle einnehmen als noch vor zwanzig Jahren. Unsere Kinder wollen im Alter von zehn ein Handy, und sie bekommen es. Wir melden laufend noch mehr Ansprüche an, das führt zu mehr Egoismus und oft auch zu einer Entsolidarisierung mit Personen in Schwierigkeiten.

Die Ansprüche steigen. Aber warum wird die Gesellschaft deswegen «zunehmend unsolidarisch»?
Weil das Individuum oft vor der Gemeinschaft kommt. Sehen Sie: Auch die Gewaltbereitschaft scheint zuzunehmen. Dahinter dürfte sehr oft eine Orientierungslosigkeit, ein Alleinsein, ein Gefühl des Nichtverstandenwerdens, eine Leere stecken. All das hat mit der gesellschaftlichen Situation zu tun. Die Menschen sind heute fixiert auf materielle Dinge, während die andern Werte wie Leistung, Disziplin, Fleiss, Bescheidenheit und eben Gemeinschaft zurückgestuft worden sind.

Der Staat kann diesen Erwartungen doch nicht einfach nachgeben…
Einverstanden. Darum versuchen wir etwa, uns zunehmend im Bildungswesen zu engagieren – um hier Werte zu vermitteln wie zum Beispiel das Prinzip Leistung. Die Jungen sollen bereits in der Schule merken: Wir müssen uns selber anstrengen. Wenn sie es trotzdem nicht schaffen, eine Lehrstelle zu finden, dann wollen wir ihnen nochmals helfen – mit einem persönlichen Coaching. Aber das Ziel lautet ganz klar: Die Betroffenen sollen selber durchs Leben kommen. Was wollen Sie denn sonst? Sie können doch nicht einfach sagen: Es interessiert uns nicht, wenn 20000 Junge keine Stelle finden – Eigenverantwortung. Es interessiert uns nicht, wenn Eltern sich überfordert fühlen und ihre Erziehungsaufgabe nicht wahrnehmen – Eigenverantwortung. Ich war vor Ort in Freiburg, dort traf ich Junge, die hatten keinen strukturierten Tag, zu Hause war niemand, sie waren auf sich allein gestellt. Da geht es nicht anders, da müssen wir doch versuchen, Strukturen in diese Leben hineinzubringen, sie zu unterstützen, damit sie dann ihren Weg finden. Viele der sozialen Probleme sind heute so teuer geworden, weil wir bis jetzt an den falschen Orten oder zu spät angesetzt haben.

Was Sie beschreiben, ist nicht ein «zunehmend unsolidarisches», sondern ein zunehmend solidarisches Gemeinwesen. Politiker wie Sie versuchen, es künftig noch besser zu machen.
Besser im Sinn, dass wir Anreizsysteme schaffen wollen und früher eingreifen. Nicht nur bei der Lehrstellensuche, auch bei der IV beginnen wir jetzt, den Fällen so früh wie möglich nachzugehen. Zu den Betroffenen hinzugehen und sie zu fragen: Wo liegt das Problem? Erst wenn wir das herausgefunden haben, können wir helfen – aber auch Druck machen, indem wir die Betroffenen gezielt auffordern, sich selbst zu engagieren. Die Reihenfolge geht so: Gibt es Probleme, sollen alle Leute erfahren, jemand ist für sie da: die Gemeinde, der Kanton, die Sozialversicherung. Aber das Ziel ist immer, dass die Leute am Ende wieder selber auf die Beine kommen.

Hat sich der Staat in den letzten dreissig Jahren nicht einfach von einem «strengen Vater» in eine «fürsorgliche Mutter» verwandelt?
Nein, bei der AHV fahren wir jetzt die Leistungen herunter, in kleinen Schritten zwar; auch das Rentenalter wird bei den Frauen hinaufgesetzt. In der IV gab es keine zusätzlichen Leistungen…

Die Ausgaben haben sich alle sieben Jahre verdoppelt.
Aber nicht etwa wegen zusätzlicher Leistungen. In der Arbeitslosenversicherung haben wir die Zahl der Taggelder reduziert. Klar, die Kosten sind trotzdem gestiegen. Warum? Weil wir zehn Jahre lang praktisch ein Nullwachstum hatten. Es gab deutlich mehr Arbeitslose und viel mehr Invalide. Aber es war nicht eine fürsorgliche Mutter Staat, welche die Leistung hochgefahren hätte, da bin ich nicht einverstanden. Die Gesellschaft hat sich verändert, wir konsumieren mehr Gesundheitsleistungen, der Zugang zur Invalidenversicherung wurde rege genutzt, aber die staatlichen Leistungen sind nicht ausgebaut worden. Es gibt höchstens zwei kleine Ausnahmen: Mit der Mutterschaftsversicherung haben wir eine Lücke geschlossen, und neu wurden jetzt die Kinderzulagen angehoben. Was ich hier als Volkswirtschaftsministerin tun kann, ist, möglichst viel Wirtschaftswachstum zu ermöglichen: Mit einem höheren Wachstum können wir nicht alle sozialen Probleme lösen, aber die sozialen Aufgaben besser tragen.

Die Arbeitslosenversicherung ist konstruiert für 100000 Arbeitslose. Das scheint nicht mehr realistisch zu sein. Für wie viele Arbeitslose wollen Sie diese Versicherung nun ausbauen?
Wir hoffen schon, dass wir, falls die positive Entwicklung noch ein paar Jahre weitergeht, wieder einmal unter 100000 kommen. Aber alle Studien zeigen: Eine solide Finanzierung muss aufgebaut sein auf einer Sockelarbeitslosigkeit von 120000.

Wer muss das bezahlen? Die höheren Einkommen?
Alle mit bis zu 0,5 Prozent höheren Lohnnebenkosten und die höheren Einkommen mit dem Solidaritätsprozent. Das ist das heutige Gesetz.

Können Sie als Politikerin uns garantieren, dass Sie sich dafür einsetzen werden, dass es zu keinen zusätzlichen Erhöhungen der Steuern, Gebühren und Abgaben kommt?
Nein, das wäre gelogen. Wie wollen Sie die 11 Milliarden IV-Schulden wegbringen? Mit der geplanten IV-Revision von Bundesrat Couchepin bringen wir einen Teil des IV-Defizits weg, nicht aber die IV-Schulden. Ich wehre mich bei der IV aber gegen zusätzliche Lohnprozente, weil das die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe schwächen würde. Zur Sanierung der IV sehe ich leider nichts anderes als eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, eine hoffentlich befristete. Bei der AHV hingegen könnten wir es vielleicht ohne zusätzliche Einnahmen schaffen, sofern wir längerfristig einen Trend von zwei Prozent Wirtschaftswachstum erreichen, ergänzt mit einem höheren flexiblen Rentenalter. Bei der Arbeitslosenversicherung werden wir die Beiträge auch befristet anheben.

Wenn Sie die Versicherung von 100000 auf 120000 Arbeitslose ausbauen wollen, müssen Sie die Einnahmen doch permanent erhöhen.
Nein, denn wir werden auch mit Systemverbesserungen Einsparungen erreichen.

Mit «Systemverbesserungen» meinen Sie Leistungsabbau?
Es braucht mit Sicherheit auch Anpassungen bei den Leistungen.

Zum Thema Familienpolitik. Warum setzen Sie sich als Volkswirtschaftsministerin nicht für eine Rehabilitierung des Berufs Mutter ein? Erziehung ist doch eine wichtige volkswirtschaftliche Aufgabe.
Ich habe ein liberales Rollenbild der Frau. Jede Frau soll mit ihrem Partner das für sie beste Modell wählen. Aber sie soll die Möglichkeit haben, sich zu entscheiden; so wie sich auch die Väter selber entscheiden sollen, wie viel Verantwortung sie für ihre Kinder übernehmen wollen. Es sind beide, Vater und Mutter, gemeinsam fürs Geldverdienen verantwortlich, es sind beide, Vater und Mutter, gemeinsam fürs Kindererziehen verantwortlich. Der Staat soll sich nicht für ein Familienmodell aussprechen und befehlen: Das ist die Frauenrolle, das ist die Männerrolle. Lassen Sie mich noch anfügen: Es geht hier auch um volkswirtschaftliche Interessen. Wir wissen, dass wir in fünf Jahren einen Arbeitskräftemangel haben werden, vor allem für qualifizierte Fachkräfte. Der Staat bildet heute viele Leute aus…

…gerade Frauen.
Das ist ein Potenzial, das brachliegt. Die Wirtschaft braucht diese Frauen. Wir müssen die Strukturen so anpassen, dass wir die Frauen im Arbeitsprozess behalten können, wenn sie Kinder haben. Es geht auch um unsere Produktivität.

Es gibt bereits sehr viele Teilzeitstellen. Doch wenn beide, Mann und Frau, Teilzeit arbeiten, kann weder der Mann noch die Frau richtig Karriere machen.
Es muss ja auch nicht jede Person eine Topposition ganz zuoberst erreichen, auch diese Wahl müssen wir den Leuten selber überlassen. Aber es gibt heute viele Frauen mit keinem oder nur mit einem Kind – und trotzdem hat es in den obersten Kaderpositionen nur drei bis vier Prozent Frauen. Hier stimmt etwas nicht. Wir wollen sensibilisieren, darum bringen wir ein KMU-Handbuch heraus für familienfreundliche Arbeitsmodelle.

Schon Adam Smith lobte das Prinzip der Arbeitsteilung. Das gilt auch für Familien: Einer muss sich um die Karriere, der andere um die Kinder kümmern. Wer alles gleichzeitig macht, macht nichts richtig.
Der Ansatz der Wirtschaftsministerin ist ein anderer. Ich muss dafür sorgen, dass wir in zehn Jahren noch genug Arbeitskräfte haben – wir brauchen die Frauen. Und dann gibt es 45 Prozent Scheidungen: Das Modell, das Ihnen vorschwebt, funktioniert nur bei stabilen Ehen. Ausserdem diskutieren Sie aus einer privilegierten Warte. 60 Prozent der Familien verdienen so wenig Geld, dass sie zwei Einkommen brauchen – sonst reicht es ihnen gar nicht.

Ist ein Wirtschaftswachstum von 2 Prozent realistisch?
Es ist mein Ziel. Wir brauchen eine solche Zunahme, um unsern Standard zu halten. Ich möchte das über zehn Jahre hinweg erreichen, ja.

Ihr Chefökonom Aymo Brunetti sagt: Das sei möglich – aber höchstens dann, wenn der Bundesrat wirklich die gesamte Politik auf mehr Wachstum auslegt. Wird das passieren?
Der Bundesrat hat das Paket verabschiedet. Klar, es sind noch nicht alle Massnahmen umgesetzt; es fehlt eine Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens, die Reform bei der Unternehmensbesteuerung, eine Vereinfachung der Mehrwertsteuer, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen – der Bundesrat geht in die richtige Richtung.

Was sagen Sie zur Frage der Managerlöhne? Ihre Partei äussert da ganz prononcierte Kritik.
Ich halte nichts von Maximallöhnen, so wie ich auch nichts von Minimallöhnen halte. Es handelt sich hier um eine wirklich kleine Zahl von Topmanagern, und einigen mangelt es an Sensibilität. Wenn die Belegschaft nur 1 bis 2 Prozent mehr Lohn verdient, das Topkader aber 20 bis 30 Prozent, dann schadet das der Glaubwürdigkeit der Topmanager. Ich bin der Meinung, wir müssen hier das Aktienrecht verbessern. Es muss ja nicht gleich die GV (Generalversammlung) über die Boni der Geschäftsleitung abstimmen, das wäre Voyeurismus.

Warum? Bundesrat Blocher fordert zum Beispiel, ein Verwaltungsrat müsse sich jedes Jahr zur Wiederwahl stellen. Was halten Sie davon?
Jedes Jahr, das dünkt mich übertrieben. Wenn eine Firma das einführen will, ist sie frei, das heute schon in ihre Statuten zu schreiben. Sie ist heute schon frei, «Elemente einer Lohnpolitik des Topkaders» von der Generalversammlung absegnen zu lassen. Aber dass eine Generalversammlung über den Lohn der Geschäftsleitung in Franken abstimmt, das halte ich für eine Überforderung der Aktionäre.

Sie finden es gut, wenn sich Verwaltungsräte über die Interessen der Eigentümer hinwegsetzen?
Das habe ich nicht gesagt, aber ich glaube nicht, dass sich die Politik in solche Details der Geschäftsführung einmischen sollte.

Es ist doch eine entscheidende Staatsaufgabe, den Schutz des Privateigentums notfalls auch gegen Manager und Verwaltungsräte durchzusetzen.
Der Schutz des Privateigentums ist tatsächlich ein wichtiges Element eines Rechtsstaates und ein Standortfaktor. Mit einer stärkeren Rolle der Aktionäre wird dem Rechnung getragen.

Von oben nach unten: Die Bauern betrachten sich heute als «Working Buur», als arm. Angst vor Demonstrationen?
Ein grosser Teil der Bergbauern lebt bescheiden. Aber ich kann mich doch nicht hinstellen und sagen: Wir zementieren die Zahl von 70000 Bauern von heute und garantieren diesen einen staatlichen Lohn von 60000 Franken – das kann ich nicht, das will ich nicht. Der Strukturwandel wird weitergehen. Es wird weniger Bauern geben, aber dafür sollen diese grössere Flächen haben und höhere Einkommen erzielen.

Und wenn nun die Bauern zu Ihnen kommen und in Ihren Worten klagen: «Wir sind die Verlierer in einer zunehmend unsolidarischen Gemeinschaft»?
Ja, das sind einige von ihnen. Trotzdem: Wir müssen versuchen, den Betroffenen eine Perspektive zu geben – mit Weiterbildungsprogrammen oder Umschulungskursen. Wir haben erfreulicherweise mehr gutausgebildete Junge, die in die Landwirtschaft einsteigen, die sind unternehmerisch eingestellt.

Sie kamen als erfahrene Politikerin neu in den Bundesrat: Was haben Sie hier angetroffen, was Sie gar nicht erwartet hätten?
Ich war sieben Jahre im Parlament. Neu war für mich die Aussenwirtschaftspolitik, das internationale Umfeld, in dem die Schweiz halt nur eine mittlere Volkswirtschaft ist. Die internationalen Kontakte des Bundesrates sind daher sehr wichtig und werden oft unterschätzt. Darum ist das WEF in Davos so gut: Da treffen sich viele wichtige Leute in der Schweiz, und wir können unser Netzwerk stärken.

Was sind die drei grössten Stärken der Schweiz?
Wir sind ein unabhängiges Land, wir haben Freiheitsrechte, Menschenwürde, ein gutes Bildungssystem, einen flexiblen Arbeitsmarkt.

Die drei grössten Schwächen?
Wir haben einen Hang zum Perfektionismus, zum Swiss Finish, wie ich es sage, und damit machen wir es uns selber schwer. Dann müssten wir unser System der Gesetzgebung in Frage stellen: Es ist zwar sehr demokratisch, aber schwerfällig. Es dauert zwischen vier und sechs Jahre, bis ein Gesetz in Kraft ist – das ist zu lang. Ich bin ein Fan des Föderalismus, des niederschwelligen Regelns, aber es gibt Bereiche wie Bauvorschriften, wo wir den Mut haben müssten, in grösseren Strukturen zu denken.

Die direkte Demokratie haben Sie merkwürdigerweise nicht genannt.
Ich habe hier zwei Herzen in meiner Brust. Als Bürgerin bin ich stolz, dass ich überall mitreden kann. Als Bundesrätin finde ich manchmal: Es ist mühsam. Jetzt müssen wir zum Beispiel mit dieser IV-Revision noch vor das Volk, nochmals kämpfen. Da denke ich, dass Referenden heute manchmal etwas zu leichtfertig ergriffen werden. Unter dem Strich aber finde ich das System gut: Es gehört zu uns. Ich sehe ja auch die Verfassungsprobleme in der EU: Dort haben die Leute wenig zu sagen, also lehnen sie ab. Die Partizipation des Volkes ist daher zentral.
Doris Leuthard, die neue, 44 Jahre junge Volkswirtschaftsministerin, ist eine ausgebildete Juristin. Sie ist nicht die erste Juristin in diesem Amt; aber sie hat seit ihrem Amtsantritt am 1. August bereits dazugelernt. Wenn man heute mit Bundesrätin Leuthard spricht, stellt man fest, dass sie zwar weitgehend dieselben Anliegen wie früher vertritt, aber dass sie sich hörbar Mühe gibt, anders zu argumentieren: ökonomisch.

«Familienförderung» zum Beispiel hatte bei ihr bereits als CVP-Präsidentin oberste Priorität. Das schien ihr damals ein Mittel zu sein, ihre Partei, die CVP, zu fördern. Als Bundesrätin tritt Doris Leuthard nun für die Familienförderung ein – neu als Mittel, die ganze Volkswirtschaft Schweiz zu fördern. In Zukunft seien wir nur schon aus demografischen Gründen auf die Mitarbeit der gutausgebildeten Frauen angewiesen.

Oder beispielsweise das Thema Hochpreisinsel. Bereits als Nationalrätin hatte Doris Leuthard gefordert, die Schweiz müsse das Cassis-de-Dijon-Prinzip einführen. Sie war damals nicht die Erste, die das gefordert hatte; aber Leuthard kam zum richtigen Zeitpunkt. Nicht zuletzt wegen ihres Vorstosses musste der damalige Volkswirtschaftsminister aktiv werden – und jetzt darf Doris Leuthard dieses Geschäft zu Ende bringen.

Neu argumentiert sie aber nicht mehr wie eine Konsumentenschützerin, sondern wie eine Volkswirtschaftsministerin: Sie verspricht neben günstigeren Preisen vor allem «mehr Wettbewerb», der dank einer einseitigen Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips Einzug halten und unserem lahmen Binnensektor nur guttun könne.

Dasselbe bei der Sozialpolitik: Als typische CVP-Politikerin war Doris Leuthard noch nie eine knallharte Sozialabbauerin. Im Interview mit der Weltwoche redet sie nun aber bereits wie eine studierte Mikroökonomin: Der Staat müsse «neue Anreize» schaffen, um die Arbeitslosen und Invaliden wieder in den Markt zurückzubringen. Zudem ahnt sie, dass die heutigen Ausbaustandards des Sozialstaats nur auf eine Art und Weise in die Zukunft zu retten sind: durch ein höheres, anhaltendes Wirtschaftswachstum. Also will sie im Laufe der nächsten zehn Jahre jeweils je zwei Prozent Wachstum schaffen.

So viel ökonomischer Optimismus kam schon lange nicht mehr aus unserem Volkswirtschaftsdepartement. Liegt das etwa daran, dass heute kein Ökonomieprofessor mehr an der Spitze des Departements steht, sondern die Juristin Doris Leuthard? (ms)
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