Jeder kann es schaffen

Wer steigt auf, wer steigt ab?
Auszüge aus «Klassenwechsel» 15.02.2007, Weltwoche

Technopark Zürich, 31. Oktober 2006, zweites Armutsforum der Caritas. Die Ethnologin Marta Ostertag stellt eine Studie vor, in der sie zwölf Menschen porträtiert, denen der soziale Aufstieg gelungen ist. Sogleich relativiert sich die Autorin selber: «Zwölf Aufsteigerinnen und Aufsteiger haben wir für unsere Studie gefunden. Es gibt sie also. Sicher. Aber es sind die Ausnahmen ­ sie bestätigen die Regel.» Die Regel nämlich laute so: «Armut und Reichtum werden vererbt.»Als Marta Ostertag die zwölf Ausnahmepersonen befragte, fand sie es allerdings «spannend», dass eine nachteilige Herkunft «genauso gut Hindernis wie Ansporn sein kann». Eine Aufsteigerin sagte ihr: «Ich wollte weg vom bäuerlichen, katholischen, einengenden Milieu.» Eine andere Person meinte: «So wie mein Vater wollte ich nie werden, und auch die Mutter meinte, dass ich es schon zu mehr bringen werde.» Zwölf Beispiele erzählt Marta Ostertag, zwölf eigene Geschichten, und als Gemeinsamkeit ist ihr aufgefallen: «eine besondere Persönlichkeit», die «entweder als Neugierde, Ehrlichkeit, Raffinesse oder Intelligenz zum Ausdruck» gekommen sei. Maria, die als ehemaliges Heimkind zur Buchverlegerin aufgestiegen ist, sagt es so: «Ich habe gelernt, dass das Leben nicht immer ein gerader Weg sein muss, dass verschiedene Biografien lebbar sind und dass die Bilder im Kopf sich manchmal vom realen Leben unterscheiden. Nur die Neugierde muss man immer mit sich nehmen.»Aber wie gesagt: Das seien Ausnahmen, meint Marta Ostertag. Die Caritas redet von einer «70-20-10-Gesellschaft»: 70 Prozent der Bevölkerung seien «nie arm», 20 Prozent «armutsgefährdet», 10 Prozent «dauernd arm», was bedeute: Bei den Angehörigen der tiefsten sozialen Schicht verfestige sich die Armut, «indem sie von Generation zu Generation weitergegeben wird».

6. Dezember 2006: Zuoberst an den Kiosken liegt das Wirtschaftsmagazin Bilanz mit den neuesten «300 Reichsten». Aufgelistet sind auch viele Ausländer, die ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt haben. Unter denen, die ihr Geld hier verdient haben, liegen zuvorderst: die Pharma-Familien Oeri und Hoffmann (Roche), gefolgt von den Pharma-Familien Bertarelli (Serono) und Landolt (Novartis). Dahinter die Schmidheinys, etwas später die Privatbankier-Familien Bär, Vontobel, Bodmer, Sarasin, nicht zu vergessen die Zeitungsverleger-Familien Ringier, Coninx, Hagemann, von Graffenried. Ein auffallend grosser Teil des Reichtums in der Schweiz besteht aus «altem Geld», bestätigt Bilanz-Journalist Stefan Lüscher, der diese Liste betreut. «Bei uns schafft es wohl nur jeder Dritte aus eigener Kraft.»

Hier das «Armuts-Forum» der Caritas, dort die «300 Reichsten» der Bilanz: Einmal bleiben die Armen arm, dann die Reichen reich. Stimmt das?

Die grosse amerikanische Enttäuschung

Im Mai 2005 startete die eher linke New York Times eine elfteilige Serie mit dem Titel «Class Matters» («Auf die Klasse kommt es an»), einen Monat später folgte das eher rechte Wall Street Journal mit einer siebenteiligen Serie unter dem Titel «Moving Up» («Aufsteigen»). Beide Zeitungen schrieben inhaltlich das Gleiche und zitierten reihenweise Experten, welche ernüchternde Dinge sagten. Zum Beispiel Bhashkar Mazumder, ein Ökonom der Zentralbank in Chicago: «Der Apfel fällt sogar näher zum Stamm, als wir fürchteten.» David I. Levine von der kalifornischen Berkeley University ergänzte: «Wer arm geboren ist, hat in den USA weit schlimmere Nachteile als in Westeuropa, Kanada oder Japan.»

Das Fachwort heisst «soziale Mobilität». Aufstieg und Abstieg, beides muss stattfinden, sonst ist die Gesellschaft nicht mobil. Aufstieg und Abstieg, beides finde in den USA zu selten statt, kritisierten New York Times und Wall Street Journal unisono.

Ein Kronzeuge für diese These ist Gary S. Becker, ein liberaler Ökonom aus Chicago, Nobelpreisträger 1992. Er war früher amerikanisch optimistisch. Die kapitalistische Gesellschaft sei durchlässig. Drei Generationen brauche es, und weggefegt seien alle sozialen Ungleichheiten. «Die Enkel von Personen mit sehr hohen Einkommen und die Enkel von Personen mit sehr niedrigen Einkommen können ungefähr dieselben Einkommen erwarten», schrieb er vor zwei Jahrzehnten und unterlegte diese Behauptung mit Zahlen.

Heute gibt derselbe Gary S. Becker zu bedenken: Seine These habe sich leider nicht für sämtliche Bevölkerungsschichten erfüllt. Insbesondere die Enkel der armen Afroamerikaner seien meistens heute noch arm. Die Angleichung komme nicht einfach automatisch innert drei Generationen. «Die männlichen schwarzen Jugendlichen enden auch am häufigsten als Delinquenten im Gefängnis oder gar als Opfer von Morden auf offener Strasse.» Es sei verhängnisvoll, wenn der Drogenhandel als einzige Chance wahrgenommen werde, um sozial aufzusteigen, schreibt Becker in seinem Blog. «Das ist das zurzeit heisseste Thema in der Rassismusdiskussion.» Der Starökonom verspricht sich keine Lösung mehr von der Bildungspolitik; viel eher setzt er auf die Drogenpolitik: «Meiner Meinung nach wäre die Legalisierung der Drogen das beste Mittel, um den jungen Schwarzen zu helfen und ihnen endlich auch eine andere Perspektive zu bieten.»

Ähnlich pessimistische Töne schlug gegen Ende seines Lebens Milton Friedman an. «Kann man in Amerika heute noch vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen?», fragte ihn die Weltwoche in einem seiner letzten Interviews. Friedman: «Ja, sicher. Mein Gott, schauen Sie bloss, was während des Internetbooms passierte. Hunderte von jungen Menschen wurden plötzlich Millionäre. Besorgt bin ich über eine andere Entwicklung: unser untaugliches Schulsystem. Fast ein Drittel aller Schüler, die mit der High School beginnen, verlassen sie ohne Abschluss. Sie sind sozusagen zu einem Leben in der Unterschicht verdammt. Es fehlt das Interesse, die Schulen wirklich zu verbessern.»

So spricht kein Linker, so sprach Milton Friedman im Alter von 93 Jahren. Sein Fazit: Die soziale Mobilität in den USA sei gering, weil vor allem die Armen arm bleiben.

Statistisch dargelegt hat dies der kanadische Experte Miles Corak. Er hat untersucht, wie stark sich die Einkommensunterschiede von Generation zu Generation fortpflanzen, und anschliessend einen internationalen Vergleich erstellt. Ergebnis: Am schlechtesten stehen die USA und Grossbritannien da. Ausgerechnet diese beiden angelsächsischen Länder, die so stolz sind auf ihre kapitalistischen und flexiblen Systeme, ausgerechnet sie erweisen sich als sozial immobil. In den USA geben die Väter ihre Einkommensnachteile zu 50 Prozent an ihre Söhne weiter, in Grossbritannien zu 47 Prozent, in Frankreich beträgt diese Quote 41 Prozent, in Deutschland 32, in Schweden 27 Prozent, in Kanada gar nur 19 Prozent, in Finnland 18 Prozent, in Norwegen 17 und in Dänemark 15 Prozent.

Neuere skandinavische Studien bestätigen: Die nordischen Länder Europas sind sozial sehr viel mobiler als die USA. Stammen die Eltern aus der untersten Einkommensklasse, den «untersten 20 Prozent», gelingt es in Skandinavien immerhin jeder sechsten Person, sich selber in die oberste Einkommensklasse, zu den «obersten 20 Prozent», emporzuarbeiten. In den USA oder in Grossbritannien schafft das gleiche Kunststück nur jede zehnte Person.

Die grosse Schweizer Hoffnung

Die Schweiz kommt in all den internationalen Vergleichen über die soziale Mobilität nicht vor. Inzwischen gibt es immerhin ein Arbeitspapier. Philipp Bauer, ein Statistiker am Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel, hat erstmals für die Schweiz das persönliche Einkommen über zwei Generationen hinweg gemessen. Das Resultat präsentiert sich so:

Gehört der Vater zur untersten Kategorie der untersten 25 Prozent, landet der Sohn mit 40 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls in dieser untersten Kategorie. Das tönt deprimierend; aber es heisst gleichzeitig: Die Aufstiegswahrscheinlichkeit beträgt 60 Prozent. Schaut man genauer hin, schaffen es 16 Prozent sogar bis ganz nach oben in die Kategorie der höchsten 25 Prozent.

Also findet eine Aufwärtsmobilität statt. Es sind nicht, wie von der Caritas dargestellt, «zwölf Einzelfälle», die den Aufstieg von unten nach oben schaffen; es sind 16 Prozent von allen. Fast jede sechste Person, deren Eltern aus der Kategorie der «untersten 25 Prozent» stammen, steigt hinauf bis in die Kategorie der «obersten 25 Prozent».

In der Abwärtsrichtung zeigt sich das exakte Spiegelbild:

Gehört der Vater zur obersten Kategorie, bleibt der Sohn mit 39 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls in dieser obersten Kategorie. Das tönt beruhigend, heisst aber schon wieder: Das Abstiegsrisiko beträgt 61 Prozent. Bei 14 Prozent führt der Absturz bis hinunter in die Kategorie der tiefsten Einkommen.

Im Oktober 2006 steht eine 47-jährige Frau in Zürich vor Gericht. Sie hatte geklaut. Nichts Grosses, eine billige Kunstledertasche, Badeschuhe und immer wieder Alkoholika. «Wohlstandsverwahrlost» nennt sie ihren Zustand. Aufgewachsen ist sie am noblen Zürichberg. In den letzten zwanzig Jahren zog sie zwanzig Mal um, traf in den Bars der Stadt die falschen Männer, mit denen sie innert kurzer Zeit ein Erbe von 2,3 Millionen Franken verprasste. Inzwischen lebt sie von der Sozialhilfe.

Die umgekehrte Geschichte verläuft zum Beispiel so: Taner Bahar wird 1971 in Istanbul geboren. Kurz darauf emigriert seine Familie nach Silvaplana ins Oberengadin. Sein Vater arbeitet als Elektriker, wird später Verwalter einer Überbauung mit Eigentumswohnungen. Seine Mutter Gülüm schuftet Teilzeit in einem Hotel. Taner ist sprachbegabt und bringt nie weniger als eine Fünf aus der Sekundarschule heim. Im örtlichen Sportgeschäft Conrad macht er eine Verkäuferlehre, mit 18 eine kaufmännische Lehre in St. Gallen. Als er Sponsoren für den Engadiner Inline-Marathon sucht, überzeugt er Benetton, ein Riesenerfolg. Mit dem ersten Geld postet er sich ein Mercedes-Cabriolet. Er zieht nach Rom, bleibt im Sportmarketinggeschäft. Anschliessend geht er nach Vaduz zu einem Vermögensverwalter, lernt dort den Kunden Dietrich Mateschitz kennen, den Gründer von Red Bull. Mit dreissig lässt sich Taner unter seinem neuen Vornamen Dany einbürgern, mit 31 heiratet er Annett, die Tochter des Zürcher Headhunters Björn Johansson, also mitten in die High Society. Mit 34 wird er die rechte Hand von Dietrich Mateschitz.

Die Schweizer Gesellschaft ist durchlässig ­ in beiden Richtungen. Wie durchlässig sie ist im internationalen Vergleich, das kann der Basler Ökonom Philipp Bauer nur grob sagen, da seine Analysen auf einer spezifisch schweizerischen Erhebung basieren. Nach seiner Einschätzung ist die Mobilität in der Schweiz tiefer als in Skandinavien, aber höher als in den USA.

Jede seriöse Studie über die «soziale Mobilität» ist retrospektiv: Erst wenn die Leute 45 Jahre alt sind, lässt sich schlüssig beurteilen, wie weit sie es gemessen an ihren Eltern gebracht haben. In Bauers Studie wird darum die Generation erfasst, die im Durchschnitt den Jahrgang 1960 hat. Diesen Leuten boten sich ­ gerade in der Schweiz ­ noch weniger Möglichkeiten als den Spätergeborenen. Die grosse Bildungsexpansion (Berufsmatur, Fachhochschulen) fand in den achtziger und vor allem in den neunziger Jahren statt und geht nun gemäss allen Prognosen unvermindert weiter. «Es ist gut möglich, dass die heute 20- bis 30-Jährigen eine höhere Einkommensmobilität erreichen werden», sagt der Basler Ökonom Philipp Bauer.

Am schönsten ist das Bild wohl bei den Einwanderern aus Italien und Spanien. Drei Generationen dauerte es, wie von US-Ökonom Gary S. Becker prognostiziert, drei Generationen ­ und weggefegt sind alle sozialen Unterschiede.

Wie werde ich reich?

Napoleon Hill kam 1883 im amerikanischen Virginia zur Welt. Mit 13 Jahren begann er als Zeitungsreporter, um den ärmlichen Verhältnissen seines Elternhauses zu entkommen. Das gelang ihm spätestens, als er Andrew Carnegie begegnete, dem damals reichsten Amerikaner. Der Industrielle beauftragte den Journalisten, eine systematische «Philosophie des Erfolgs» zu erarbeiten, die es «grundsätzlich jedem Menschen ermöglichen solle, zu Glück und Wohlstand zu gelangen». Nach seinen eigenen Angaben hat Napoleon Hill 25 000 Fälle studiert, immer auf der Suche nach den «Gemeinsamkeiten erfolgreicher Menschen».

«Think and Grow Rich» hiess der Titel seines Buches, das 1937 erstmals erschien und sich bis heute verkauft, auch auf Deutsch («Denke nach und werde reich»). Dabei tönt schon die Einleitung klischiert: «Die meisten Leute wünschen sich materiellen Besitz. Aber der Wunsch nach Reichtum reicht noch nicht aus. Nur ein an Besessenheit grenzendes Verlangen, sorgfältige Planung, die Wahl geeigneter Mittel und die eiserne Entschlossenheit, das einmal gewählte Ziel um jeden Preis zu erreichen, führen zum Erfolg.»

«Welche Ziele können Sie noch haben, nachdem Sie schon alle Preise gewonnen haben, die es in Ihrer Sportart überhaupt zu gewinnen gibt?» Auf diese Frage antwortete Tiger Woods, der Golfspieler, einmal: «Ich will einfach als Golfer besser werden. Jeder Golfer wird das verstehen. Ich kann noch alles verbessern, arbeite an jedem Detail.» Auch jeder Tennisspieler wird verstehen, warum Roger Federer immer noch besser werden will.

Tun wir heute, was Napoleon Hill vorgemacht hat, und fragen wir erfolgreiche Schweizer Unternehmer, was sie unseren Jugendlichen raten würden, so erhalten wir ähnlich traditionelle Antworten. «Ich würde nur einen Rat geben: Leidenschaft entwickeln. Eine Leidenschaft zu haben, ist das beste Rezept, um glücklich zu sein.» Diese Worte stammen von Daniel Borel, der mit Logitech bewiesen hat, dass man auch von der Schweiz aus High-Tech-Produkte in die ganze Welt verkaufen kann: Computer-Mäuse, Webkameras, Kopfhörer, Fernbedienungen.

Was rät der ehemalige Berater Nicolas G. Hayek? «Oft kommen junge Leute zu mir und wollen wissen, wie man das macht, reich zu werden. Diesen rate ich immer, das Reichwerden bloss nicht zu planen. Sobald das einzige Ziel darin besteht, reich zu werden, wird man es nie. Dann rennt man mit hängender Zunge hinter dem Geld her, sucht es überall dort, wo es nicht ist, und das Resultat davon ist null. In unserer Gesellschaft musst du etwas Fantastisches entwickeln, Innovationen einführen, die der Allgemeinheit nützen.» Wer wirklich erfolgreich sein wolle, müsse die Fantasie und die Neugier eines Sechsjährigen bewahren. «Wenn Sie einen Esel an die Musikhochschule Salzburg schicken, machen Sie aus ihm keinen Mozart», lautet eines seiner Bonmots. Und eines seiner Rezepte geht so: Man mache sich die Krise zur Chance. «Ich hatte meine Beraterfirma bloss gegründet, weil ich kein Geld hatte, um eine eigene Fabrik zu bauen», erzählt der Einwanderer aus dem Libanon. Auf die Frage, wie viele Stunden am Tag er mit Arbeit verbringe, antwortete Hayek im Alter von 78 Jahren: «Ich arbeite gar nicht, ich vergnüge mich täglich zwischen 8 und 14 Stunden.»

Hayek wie Borel, die zwei erfolgreichsten High-Tech-Unternehmer der jüngeren Schweizer Geschichte, reden wie Altväter im Ratgeberbuch des Napoleon Hill. Reichtum erscheint auch bei ihnen als ein Triumph ihrer Tüchtigkeit, der Freude, des Talents, der Initiative. Wer will, der kann. »›

Nicht alle, die klein anfangen, bringen es bis zur Weltspitze. Aber viele bringen es weit. Und immer stecken dieselben Motive hinter den Erfolgsgeschichten, Motive, die inzwischen bis in die linksalternative Szene gelobt werden. «Eigeninitiative ist wunderbar, unternehmerisch tätig zu sein, ist toll», sagt der Zürcher Sozialwissenschafter Philipp Klaus, ein Kind der Jugendbewegung von 1980, die damals als «Krawalljugend» verschrien wurde. In seiner Dissertation hat Philipp Klaus viele seiner damaligen Kollegen befragt, die inzwischen zu «kreativen, innovativen Kleinstunternehmern» herangewachsen sind, oder wie es Klaus nennt: zu «Brutstätten» einer Kulturszene, die allein in Zürich 28000 Leute beschäftigen. Was hat die Leute zu diesen kleinen Karrieren angetrieben? «Einfach etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, etwas Eigenes zu kreieren, Lust auf ein eigenes Ding», lauten die stereotypen Antworten.

Wenn die beiden inzwischen prominenten Brüder Daniel und Markus Freitag erzählen, wie sie ihre «Freitag-Taschen» erfunden haben, tönt das so: «Die Idee war es, eine Tasche zu machen, die praktisch ist zum Velofahren. Ausserdem sollte sie ökologisch sein, aus Recycling-Materialien bestehen. Der Velokurier war gerade am Entstehen. Wir wohnten damals an der Hardbrücke beim Hardplatz in Zürich. Dort kam uns der Geistesblitz. Tausende von Lastwagen mit ihren Plachen fuhren vorbei.» Sie kauften sich eine solche Plache und produzierten daraus zwei Taschen für sich selber. Aus diesem Spontan-Design wurde innert zwölf Jahren ein alternativer Konzern mit vierzig Mitarbeitern in Zürich und Exporterfolgen in Deutschland und Japan. Eine Freitag-Tasche brachte es bis ins Museum of Modern Art in New York.

Der Erfolg fällt niemandem in den Schoss. Man kann ihn auch nicht erzwingen. Aber man könne ihn herbeiführen, wenn man zuversichtlich an seinen Zielen arbeite, ohne verbissen alles andere auszublenden. «Wenn man gelernt hat, der Lust zu folgen, erreicht man Ziele locker und entspannt, ja sogar fröhlich», sagt Daniel Zehntner, Inhaber der Branding-Agentur Eclat.

Erdogan Gökduman, Sohn einer mittelständischen Familie aus der Osttürkei, kam «ohne Geld, ohne Arbeit, ohne ein Wort Deutsch» vor zwanzig Jahren nach Zürich. Im Manor-Restaurant verdingte er sich als Küchenbursche, arbeitete sich dann aber zum Küchenchef hoch. Vor zehn Jahren eröffnete er mit seinen zwei Brüdern einen ersten kleinen Take-away an der Langstrasse in Zürich, der längst zur Marke geworden ist: «New Point». Eine Kette, die inzwischen auch Spezialitätenrestaurants an bester Lage unterhält und über 120 Angestellte beschäftigt. «King Kebab», wie Gökduman in der Presse gefeiert wird, hält sich an Regeln, die nicht unschweizerisch klingen: «Ich arbeite sechzehn Stunden täglich, praktisch ohne Ferien.» Und: «Ich habe keine Zeit, mir Häuser, Ferienwohnungen oder Autos zu kaufen.» Oder: «Gewisse Wirte binden sich eine Krawatte um und rauchen Zigarre; ich packe lieber an der Front an.» Auf die Frage, ob er einen solchen Erfolg auch als Schweizer hätte haben können, antwortete Erdogan, genannt «Edi» Gökduman: «Ich hätte weniger Probleme gehabt, sprachliche Probleme zum Beispiel. Aber weil es einfacher gewesen wäre, hätte ich nicht so diszipliniert und hart gearbeitet und nicht den nötigen Kampfgeist gehabt.»

Das Unternehmen Ernst & Young ernennt jedes Jahr einen «Entrepreneur of the Year». Was verbindet alle Preisträger? «Den einen einzigen Weg gibt es nicht», schreibt Thierry Volery, Professor für Entrepreneurship an der Universität St. Gallen, der die Karrieren aller Preisträger wissenschaftlich untersucht hat. «Was aber alle diese erfolgreichen Entrepreneure auszeichnet, ist der feste Wille, eine konkrete und realisierbare Vision zu verwirklichen.»

«Macht eure Hausaufgaben!»

Was für Individuen gilt, trifft womöglich auch für Gesellschaften als Ganzes zu. «Was zählt, sind Arbeit, Sparsamkeit, Redlichkeit, Geduld, Beharrlichkeit. Für Menschen, die unter Armut und Hunger leiden, erregt eine solche Empfehlung vielleicht den Verdacht selbstsüchtiger Gleichgültigkeit. Am Ende aber ist keine Ermächtigung so effektiv wie die Selbstermächtigung»: So notiert es der grosse amerikanische Historiker David S. Landes im Buch «Wohlstand und Armut der Nationen», nachdem er zuvor auf 520 eng bedruckten Seiten die Wirtschaftsgeschichte der Welt von 1500 bis ins Jahr 2000 beschrieben und auf brillante Art und Weise dargelegt hatte, «warum die einen reich und die andern arm sind».

Auf der allerletzten Seite meint Landes: «Manches in diesem Buch mag als ein Sammelsurium von Klischees anmuten, als jene Art von Lektionen, die man normalerweise zu Hause und in der Schule lernt, wenn Eltern und Lehrer eine pädagogische Mission erfüllen wollen. Heute rümpfen wir die Nase über solche Wahrheiten und tun sie als Plattitüden ab. Doch warum sollte Weisheit obsolet sein? Natürlich leben wir in einem Dessert-Zeitalter: Alles soll süss sein. Zu viele von uns arbeiten, um zu leben, und leben, um glücklich zu sein. Daran ist nichts auszusetzen. Nur fördert es nicht unbedingt eine hohe Produktivität. Wenn man allerdings eine hohe Produktivität haben will, dann sollte man leben, um zu arbeiten, und das Glück als einen Nebeneffekt nehmen.»

Damit Individuen sich frei entfalten können, müssen selbstverständlich ein paar institutionelle Voraussetzungen erfüllt sein. «Warum hat Nicolas Hayek die Swatch nicht in Beirut erfunden?», fragt Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times und Bestsellerautor («Die Welt ist flach»). «Weil in der Schweiz Infrastruktur, Bildung und eine gute Regierung vorhanden sind.» Solche Vorteile sind vergänglich, andere Länder und Kontinente holen auf, und zwar schnell. «Meine Eltern sagten jeweils: Tom, iss deinen Teller leer, in China und in Indien hungern die Menschen. Ich sage meinen Kindern: Mädchen, macht eure Hausaufgaben, die Menschen in China und Indien sind hungrig auf eure Jobs.»

Seine Kinder, schreibt Friedman weiter, werden kaum die Chance haben, so wie er 25 Jahre lang im selben Unternehmen zu arbeiten. Doch wenn er ihnen trotzdem einen Rat geben dürfe, wie sie in der Zukunft bestehen können, dann diesen: Sie sollen leidenschaftlich sein und neugierig. «Ein Kind, das begeistert lernt, das neugierig und wissbegierig ist, wäre mir jederzeit lieber als eines, das zwar rechnerisch intelligenter ist, dem es aber an Leidenschaft fehlt. Denn neugierige, begeisterungsfähige Kinder können sich Sachen selber beibringen, und sie können sich jederzeit motivieren.»

Auf der zweitletzten Seite seines Buches, das im Untertitel «Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts» heisst, schlägt Thomas Friedman ähnlich altbackene Töne an wie Landes oder Napoleon Hill: «Wir müssen härter arbeiten, schneller rennen, klüger werden, wenn wir uns unseren Anteil an den globalen Geschäften sichern wollen.»

Markus Schneider: Klassenwechsel. Aufsteigen und Reichwerden in der Schweiz: Wie Kinder es weiterbringen als ihre Eltern. Echtzeit

Das Buch erscheint heute Donnerstag, 15. Februar. Weltwoche-Leser können es zum Preis von 26 Franken (statt 28 Franken, inkl. Porto und Verpackung) bestellen auf: www.weltwoche.ch/leserangebote

Übersicht