Wie man arme Kinder macht

Die Schweiz verfolgt eine verkehrte Sozialpolitik: Das belegt eine neue OECD-Studie 22.03.2007, Weltwoche

Sozialhilfe ist nicht nur in Zürich ein umstrittenes Thema. Nirgends auf der Welt unterstützen Politiker gerne Leute, die nichts tun. Überall tun sie es trotzdem, und zwar mit einer guten Absicht, die in erster Linie den betroffenen Kindern gilt. Diese können schliesslich nichts dafür, wenn sie in ein armes Haus geboren werden. Also sollen sie nicht unter der Not ihrer Eltern zu leiden haben. In Australien verkündete der Premierminister «das Ende der Kinderarmut» bereits für das Jahr 1990, in Kanada versprach das Parlament, die Kinderarmut bis ins Jahr 2000 zu «eliminieren», und in Grossbritannien hat sich die Regierung Blair vorgenommen, die Kinderarmut bis 2010 zu «halbieren» und bis 2020 gänzlich «auszumerzen».Wie gut haben diese Länder ihr Ziel erreicht? Und: Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da?

Grundsätzlich gibt es zwei Arten, Leuten mit niedrigem Einkommen zu helfen: «Entweder die Politiker geben ihnen das Geld direkt, oder sie verhelfen ihnen zu einem Job ­ wobei diese beiden Ziele in einem Konflikt zueinander stehen.» Das schreiben Peter Whiteford und Willem Adema, die wohl besten Kenner der Sozialstaaten innerhalb der OECD. In ihrer neuesten Studie haben sie untersucht, wie gut oder schlecht die einzelnen Länder Kinderarmut bekämpfen.

Die Arbeit kommt zur rechten Zeit: Mitten in der Debatte ums Zürcher Sozialamt zeigt sie auf, dass die Schweiz all jene Leute mit tiefen Einkommen sabotiert, die sich ohne Hilfe des Sozialstaats durchschlagen wollen.

Whiteford und Adema beginnen mit einem einfachen Gedanken: Stellen wir uns einmal vor, es gäbe keinen Staat, also auch kein Steuer- und Transfersystem. Es gäbe somit keine Sozialhilfe, keine Krankenkassen- oder Mietsubventionen, nichts. Wie schlimm stünde es dann um die Kinder? Antwort: sehr schlimm. Gemäss Expertise der OECD würde Kinderarmut grassieren, weltweit. In Grossbritannien beispielsweise müsste fast jedes dritte Kind in einem mittellosen Haushalt aufwachsen. Die Quote betrüge:

29,1 % in Grossbritannien

27,7 % in Frankreich

26,6 % in Australien

21,1 % in Kanada

19,9 % in Deutschland

16,1 % in Schweden

Ein einziges Land fällt aus dieser Tabelle heraus: die Schweiz. Hier läge die Quote tief ­ bei 7,8 Prozent. In einer Welt ohne Sozialstaaten wäre die Schweiz das Land mit der geringsten Kinderarmut ­ mit Abstand. Darf man die Schweiz also gar als Paradies für Kinder bezeichnen? «Das müssen Leute beurteilen, die in der Schweiz wohnen», antwortet OECD-Experte Peter Whiteford, der in Neuseeland wohnt. «In unseren Statistiken jedenfalls schneidet die Schweiz hervorragend ab.»

Dagegen mag man einwenden: Okay, solange die Schweiz ein besonders reiches Land ist, ist es auch kein Wunder, dass bei uns auch die Armen etwas reicher sind als anderswo. Nur: Genau diesen Einwand berücksichtigen die OECD-Experten. Sie messen die Kinderarmut in der Schweiz nicht am Niveau der Türkei, von Portugal oder Tschechien, sondern sie richten sich nach dem Lebensstandard der übrigen Bevölkerung in der Schweiz. Die Messlatte ist der sogenannte Median. Dieses statistische Mass ist so definiert, dass die eine Hälfte der Haushalte ein höheres, die andere Hälfte ein tieferes Einkommen erzielt. Als «arm» gilt nun ein Haushalt, wenn er weniger als fünfzig Prozent des Medians einnimmt.

Ineffizient? Es ist noch schlimmer

Den gleichen Grundsatz wandten die OECD-Experten auf sämtliche Länder an und fanden heraus: Nirgends ist die Kinderarmut so tief wie in der Schweiz ­ und zwar noch bevor der Staat eingreift und Sozialhilfen beziehungsweise Krankenkassensubventionen, Familienzulagen, IV-Renten et cetera auszahlt.

Dies ist eine erfreuliche Botschaft. Sie zeigt: So gross, wie man immer hört, können die sozialen Unterschiede bei uns nicht sein.

In jedem andern Land der OECD sind die Kinder sehr viel stärker auf den Sozialstaat angewiesen. Wie stark der Sozialstaat korrigiert, ist von Land zu Land verschieden; aber in allen Ländern ausserhalb der Schweiz braucht es den Staat, welcher Renten, Subventionen auszahlt oder Essensgutscheine ausgibt. Denn erst so steigen die «verfügbaren Einkommen», und in der Folge sinkt die Quote der Kinderarmut markant:

von 29,1 auf 16,2 % in Grossbritannien

von 27,7 auf 7,3 % in Frankreich

von 26,6 auf 11,6 % in Australien

von 21,1 auf 13,6 % in Kanada

von 19,9 auf 10,9 % in Deutschland

von 16,1 auf 3,1 % in Schweden

Ein einziges Land fällt auch hier aus dem Raster: die Schweiz. Bei uns gibt es zwar auch einen Steuer- und Sozialstaat, der in letzter Zeit erst noch ständig gewachsen ist. Trotzdem gelingt es uns nicht, dafür zu sorgen, dass es gar keine armen Kinder mehr gibt. Die Quote fällt lediglich von 7,8 auf 6,8 Prozent, eine beschämend kleine Wirkung für Ausgaben von zirka 30 Milliarden Franken. Anhand dieser nackten Zahlen könnte man auf die Idee kommen, dass die Schweiz vielleicht besser auf ihren Sozialstaat verzichten würde. «Ich bin einverstanden», antwortet Peter Whiteford von der OECD, «das Steuer- und Transfersystem der Schweiz scheint überhaupt nicht effektiv zu sein.»

Doch es kommt noch schlimmer. Das Schweizer Steuer- und Sozialsystem ist nicht nur ineffizient, es wirkt in einem gewissen Sinn sogar kontraproduktiv. Normalerweise kann man annehmen, dass sich das Arbeiten lohnt. Dass sich zum Beispiel in einer Familie, in der beide Elternteile erwerbstätig sind, die Kinderarmut reduziert. Just aus diesem Grund sorgen die meisten Staaten der OECD dafür, dass beide Eltern arbeiten ­ etwa indem sie Zulagen und Steuerrabatte gewähren. Auf diese Weise gelingt es ihnen dann, die Kinderarmut praktisch zum Verschwinden zu bringen, zumindest in jenen Fällen, in denen beide Elternteile einen Job finden. Dank des Steuer- und Transfersystems zugunsten dieser doppelverdienenden Familien sinkt die tiefe Quote der Kinderarmut nochmals:

von 6,1 auf 3,6 % in Grossbritannien

von 7,4 auf 1,6 % in Frankreich

von 6,4 auf 3,3 % in Australien

von 7,3 auf 3,5 % in Kanada

von 3,3 auf 0,2 % in Deutschland

von 3,5 auf 1,1 % in Schweden

Es gibt nur zwei Länder, die aus dem Bild herausfallen. «In Japan und in der Schweiz erhöht das Steuersystem die Kinderarmut anscheinend»: So steht es wörtlich, aber mit staunendem Unterton in der OECD-Studie. In der Schweiz sorge der Staat mit seiner Steuer- und Abgabenpolitik dafür, dass sich die Kinderarmut in Familien, in denen beide Eltern arbeiten, von 3,2 Prozent auf 4,7 Prozent erhöhe! Das ist absurd.

Wie ist so etwas überhaupt möglich? ­ «Ich kann mir das nur so erklären, dass Leute mit niedrigem Einkommen, darunter viele Selbständigerwerbende, sehr hohe Steuern bezahlen müssen», antwortet Peter Whiteford. Mit dieser Interpretation liegt der OECD-Experte leider richtig: In der Schweiz werden Niedriglohnverdiener, die sich selber anstrengen, um sich ohne Sozialhilfe und ohne IV-Renten durchzuschlagen, vom Staat nicht etwa belohnt ­ sondern regelrecht bestraft. Schon ab einem tiefen Lohn müssen sie hohe Steuern zahlen; überdies müssen sie, sobald sie ein klein bisschen selber verdienen, sehr viel Geld an die Krankenkassen abgeben. Je höher ihr tiefer Lohn steigt, umso weniger Geld bleibt ihnen in der Tasche ­ während Familien, die bei der Sozialhilfe unterkommen, ihre Krankenkassenprämie samt Franchise und Selbstbehalt inklusive Zahnarztkosten und manchmal auch zwei Wochen Ferien vom Staat bezahlt erhalten, steuerfrei.

Wer nicht arbeitet, wird belohnt

Auch in andern Ländern erhalten Leute, die keine Arbeit haben, etwas Geld vom Staat. Die Art der Fürsorge ist unterschiedlich ausgestaltet, besonders deutlich aber sind die Unterschiede in der Höhe der Gelder. Die OECD-Experten haben gemessen, wie hoch das verfügbare Einkommen von Haushalten ist, in denen Eltern nicht arbeiten, und dies verglichen mit der übrigen Bevölkerung. Eine alleinerziehende Mutter, die nicht arbeitet, erreicht meist immerhin knapp die Hälfte des Durchschnittslohns in ihrem jeweiligen Land. Konkret beträgt der Anteil:

46,8 % in Grossbritannien

46,6 % in Frankreich

45,6 % in Australien

45,1 % in Kanada

48,8 % in Deutschland

54,0 % in Schweden

Die Schweiz fällt schon wieder aus dem Rahmen. Hier werden die grosszügigen Ansätze, wie sie in Schweden und andern skandinavischen Ländern üblich sind, nochmals übertroffen ­ deutlich. In der Schweiz kommt eine alleinerziehende Frau, die nicht arbeitet, auf sage und schreibe 64 Prozent eines Durchschnittslohns.

Das Fazit, das man aus solchen Vergleichen ziehen muss, tönt für die Schweiz fast schon schizophren: In Familien, in denen die Eltern nicht arbeiten, wird die Kinderarmut recht gut bekämpft ­ dank dem Staat, der bei der Sozialhilfe grosszügig ist. Sobald die Eltern sich aber anstrengen, arbeiten und einen geringen Lohn verdienen, steigt das Risiko der Kinderarmut an. Schuld daran ist ausgerechnet der Staat, weil der bereits bei sehr tiefen Einkommen seinen Obulus einfordert, indem er Geld für die Steuern oder für Beiträge an die Krankenkassen verlangt.

Damit sind wir beim Kern des jetzigen Streits rund um das Zürcher Sozialamt und dessen Chefin Monika Stocker angelangt. Vordergründig geht es um den sogenannten «Missbrauch»; zur Debatte steht jedoch der normale, alltägliche «Gebrauch» der Sozialhilfe, bei der ­ rechnet man nüchtern und ehrlich alles zusammen ­ Summen ausbezahlt werden, von denen hiesige Niedriglohnverdiener nur träumen können. Und just hier setzen auch die beiden OECD-Experten Peter Whiteford und Willem Adema an: Der Staat solle nicht zu viel Geld für das Nichtstun auszahlen; viel klüger sei es, der Staat belohne die Leute dafür, dass sie selber eigene Leistungen erbringen.

Peter Whiteford and Willem Adema:

What Works Best in Reducing Child Poverty:

A Benefit or Work Strategy? OECD, March 2007.

www.oecd.org/dataoecd/30/44/38227981.pdf

Mehr von Markus Schneider zu Armut und Reichtum

in seinem Buch: Klassenwechsel. Echtzeit-Verlag, 2007

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