Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen kluge Köpfe

Die Personenfreizügigkeit mit der EU: die beste wirtschaftspolitische Massnahme des letzten Vierteljahrhunderts 19.04.2007, Weltwoche

Die Personenfreizügigkeit mit der EU: die beste wirtschaftspolitische Massnahme des letzten Vierteljahrhunderts 19.04.2007, WeltwocheSo schnell ändern sich die Zeiten: «Hat die Schweiz noch ein Wachstumsproblem?», fragt die Credit Suisse in einer neuen Studie. Sie erinnert an das «Konjunktur-Marignano», das noch zu Beginn des neuen Jahrtausends geherrscht habe, als Ökonomen rund um Avenir Suisse den Zustand unserer Volkswirtschaft schwarzmalten. Seither haben der Wind und die Stimmung gedreht, die Wirtschaft wächst kräftig, wobei sich laut Credit Suisse die Schweiz vor allem in einer Hinsicht stark verbessert hat: in der Einwanderungspolitik. «War die Vergangenheit dadurch geprägt, dass insbesondere niedrig qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz einwanderten, so liegt nun das Gewicht auf der Immigration von Qualifizierten.» Zu verdanken sei dies vor allem dem Freizügigkeitsabkommen mit den EU- und den Efta-Staaten.Dasselbe glaubt auch Serge Gaillard: «Ohne die Personenfreizügigkeit hätte die Wirtschaft in den letzten Monaten weniger stark wachsen können», so der Chef der Direktion für Arbeit. «In früheren Aufschwungsphasen stiessen die Unternehmen rasch an Grenzen, weil nicht genug qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung standen.» Als Gewerkschafter hatte sich Gaillard darüber wohl noch gefreut: Früher explodierten die Löhne, sobald während des Aufschwungs die Arbeitskräfte knapp wurden. «Das ist diesmal anders», freut sich Serge Gaillard – jetzt in seiner neuen Rolle als Direktor eines Bundesamts. Trotz des Konjunkturaufschwungs steigen die Löhne heute nur wenig. «Dank der Personenfreizügigkeit kann die Wirtschaft länger und stärker wachsen, ohne dass es zu einer Inflation kommt», sagte Gaillard dem Tages-Anzeiger.

Jan-Egbert Sturm, der Leiter der ETH-Konjunkturstelle KOF, möchte zwar nicht alles auf eine Ursache reduzieren; er bestätigt aber, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes «eine grosse Hilfe» sei. «Das jetzige konjunkturelle Hoch wäre sicher schneller zu Ende gegangen ohne Personenfreizügigkeit.» Das sei nicht mehr bloss ein Strohfeuer, im Gegenteil. Laut der KOF geht es munter weiter, wächst die Schweizer Volkswirtschaft um 2,4 Prozent im Jahr 2007 und um 2,5 Prozent im Jahr 2008. Damit erleben wir das vierte und fünfte Aufschwungsjahr hintereinander, und laut neuester Prognose der BAK Basel soll es bis mindestens 2011 mit über 2 Prozent Wachstum weitergehen. Das wäre die längste Aufschwungsphase seit dem Ölpreisschock von 1973. Woher kommt dieses Wunder?

Stichtag ist der 1. Juni 2002. Seither gilt die Personenfreizügigkeit mit der EU. Seither dürfen alle Bürgerinnen und Bürger der alten EU- und der Efta-Länder, die bei uns arbeiten wollen, hier arbeiten. Die Folge: Es kommen nicht mehr Einwanderer als vorher, aber es kommen andere. Die Statistik zeigt ein völlig neues Bild, und zwar in doppelter Hinsicht:

— Erstens hat die Herkunft gewechselt. Früher kamen jährlich 8000 bis 12000 Menschen aus Deutschland, letztes Jahr waren es fast 25000. An zweiter Stelle folgt neu Portugal, ein weiteres Land der EU, von wo jährlich gut 12000 Menschen einwandern. Anders die Nicht-EU- und Nicht-Efta-Staaten: Aus Serbien, Montenegro und Albanien, woher während des Krieges zu Beginn der neunziger Jahre noch jährlich über 40000 Menschen in die Schweiz flüchteten, gelangen heute weniger als 5000 Menschen ins Land; gleichzeitig wandern einige wieder ab, andere lassen sich einbürgern. Berücksichtigt man alle Aspekte, so sinkt die Zahl der Serben und Albaner in der Schweiz um 5000 jährlich.

— Zweitens sind die neuen Einwanderer viel besser ausgebildet. Der offizielle Observatoriumsbericht der Bundesverwaltung ergab, dass Akademiker, Techniker und gleichrangige Berufe in den letzten Jahren mit Abstand am meisten zulegten. Bei Anlagebedienern, Handwerkern, Büro- oder Hilfsarbeitskräften stagnierten indes die Zuwanderungszahlen, oder sie sanken gar.

In der Folge wächst die Arbeitsproduktivität neuerdings schnell – schneller als von fast allen Ökonomen vorausgesagt. Denn die Firmen, ob Kleinbetriebe oder Grosskonzerne, können im Aufschwung auf ein Reservoir an gutausgebildeten Ausländern in ganz Europa zurückgreifen. «Förderlich wirkt auch die gestiegene Verfügbarkeit qualifizierter Forscher dank der Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes im Zuge der Personenfreizügigkeit mit der EU», schreibt die Credit Suisse in ihrer neuen Studie.

Welch ein Kontrast zu früheren Zeiten: Mit dem Saisonnierstatut lockte die Schweiz bis 2002 die Unqualifizierten an, denen sie besonders wenige Rechte zugestand. Saisonniers durften weder die Stelle wechseln noch aus einem Kanton hinauszügeln. Damit folgte man den Wünschen von schwächelnden Branchen (Gastgewerbe, Bau, Landwirtschaft) – und schuf diverse gesellschaftliche Probleme.

Inzwischen wissen wir: Es war nicht klug, ausgerechnet die weniger Klugen ins Land strömen zu lassen. Im Laufe der Zeit kam es zum automatischen Familiennachzug, womit die Schweiz die Unterschicht quasi importiert hat: als «die Ausländer».

«Die Schule badet bis heute die Fehler dieser Politik aus», sagt etwa der St. Galler Bildungsdirektor Hans Ulrich Stöckling. «Mit unserer Einwanderungspolitik, insbesondere mit dem Saisonnierstatut, haben wir das Bildungsniveau in der Schweiz gesenkt. Früher liess man besser Qualifizierte kaum ins Land, Mistkübelleerer hingegen sofort. Darunter leiden wir immer noch.»

Der Bildungserfolg an der Schule hängt nämlich vom Bildungsstand der Eltern ab. Waren schon Papa und Mama erfolgreich, werden es auch die Kinder sein: So lautet die statistische Faustregel in den Schulstuben.

Zum Beispiel im Kanton Zürich: Unter den Einwanderern aus Deutschland schaffen es 56 Prozent an ein Gymnasium; bei den Kindern mit einem Schweizer Pass sind es nur 29 Prozent, bei den Kindern mit einem türkischen Pass sogar nur 2 Prozent. Das liegt aber nicht etwa daran, dass die Türken «dümmer» sind, sondern dass sie meistens aus einer andern sozialen Schicht kommen. Bringen türkische Eltern hingegen selber ein hohes Bildungsniveau mit, so erreichen deren Kinder in Schweizer Schulen mit 70 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls ein hohes Bildungsniveau. So gesehen schneiden sie ebenso gut ab wie die Einheimischen.

Fazit: Das frühere Saisonnierstatut, gefordert vom Bau-, Gast- und Landwirtschaftsgewerbe, war eines der dümmsten wirtschaftspolitischen Instrumente der Schweiz, weil sie damit die «falschen» Einwanderer anzog. Die neue Personenfreizügigkeit hingegen, bekämpft von der SVP, war wohl die klügste wirtschaftspolitische Massnahme des letzten Vierteljahrhunderts. Dank ihr werden wir für die «richtigen» Einwanderer attraktiv – diejenigen, die qualifiziert sind, die Schweiz voranzubringen.

Die zukünftige Elite, so viel ist abzusehen, kommt auffallend oft von aussen. An den Universitäten steigt mit jeder Stufe auch der Ausländeranteil: Bei den Studenten der Stufe Bachelor beträgt er 18,2 Prozent, auf der Stufe Master 27,7 Prozent, unter den Doktoranden bereits 44,2 Prozent, und bei den Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern stellen die Ausländer mit 50,1 Prozent die Mehrheit.

Die heutige Schweiz ist tatsächlich offen für die Besten: Von den Ärzten am Zürcher Universitätsspital hat jeder Vierte einen deutschen Pass. Im Berner Inselspital gibt es folgende Ausländeranteile: 31 Prozent bei der Ärzteschaft und im akademischen Bereich, 22 Prozent beim Pflegepersonal, 60 Prozent bei den Hilfsdiensten wie Reinigung, Wäsche, Küche, Entsorgung. Demnächst zeichne sich ein Mangel an Pflegepersonal ab. «Wir werden dadurch noch stärker auf Mitarbeitende aus andern Staaten angewiesen sein», mahnt Ursula Schaufelberger, Personalchefin am Inselspital. Auch hier: Immer stärker gefragt ist das qualifizierte Personal – vom Chefarzt bis zur Krankenschwester.

Am stärksten profitiert haben, wie ein offizieller Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt, «die Klein- und Mittelbetriebe, welche früher keine Jahresaufenthalter beschäftigen konnten».

Frage an den Rückversicherungskonzern Swiss Re: «Wie stünde die Swiss Re in der Schweiz heute da, wenn es keine Personenfreizügigkeit mit der EU gäbe?» Antwort: «Wir hätten Mühe, offene Positionen zu besetzen, und einen schlechteren Zugang zu international erfahrenen Mitarbeitenden.»

Die Konzerne, von Migros bis Coop, von Roche bis Novartis, sind vor allem froh, dass die früher umständlichen Bewilligungsverfahren wegfallen. So meldet der Energiekonzern ABB: «Seit der Personenfreizügigkeit ist es einfacher, beim Migrationsamt eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen.»

Bald wird es noch einfacher. Auf den 1. Juni 2007 tritt eine neue Phase in Kraft: die vollständige Freizügigkeit. Damit werden die bisherigen Kontingente für Jahresaufenthalter abgeschafft. Vor allem deutsche Einwanderer beklagten sich, dass sie mehrmals hintereinander mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung abgespeist wurden, mit der sie nicht einmal ein Bankkonto eröffnen durften.

Ein Land, das so viele so gut gebildete Zuwanderer anzieht wie die Schweiz, kann im internationalen Wettbewerb nicht so schlecht dastehen. «Den Rückfall hinter andere Länder, wie ihn Avenir Suisse vermutet, sehe ich längst nicht so dramatisch», sagt etwa der Freiburger Ökonom Reiner Eichenberger. Gerade die Einwanderung beurteilt er als «gesamtvolkswirtschaftlich positiv», weil bisherige Knappheiten überwunden und neue Chancen mit neuen Köpfen schneller gepackt werden könnten.

Eichenberger ergänzt aber: «Die Hauptgewinner der Migration dürften die Migranten selbst sein.» Und er fügt an: «Da wäre es doch schön, wenn wir einen Teil dieser Gewinne für uns bisherige Einwohner anzapfen könnten.» Eichenberger denkt an eine spezielle Steuer, eine Art Eintrittsgebühr, welche die Schweiz erheben könnte, um den Verlierern der Einwanderung – etwa Schweizer Arbeitslosen – die Kompensation finanzieren zu können.

Auch diese Diskussion ist neu: Schweizer Ökonomen argumentieren wieder aus der Position der Stärke heraus. Die Schwarzmalerei ist vorbei, das «Konjunktur-Marignano» überwunden. Wir sind wieder wer – eine attraktive Volkswirtschaft.

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