Die goldenen Jahre vor uns

Wie lange dauert das Wirtschaftswachstum? 03.05.2007, Weltwoche

Folgende Prognose sei gewagt: Das Auf und Ab der Wirtschaft wird dafür sorgen, dass bald eine alte Theorie neu ausgegraben wird. «Die langen Wellen der Konjunktur», so hiess der Aufsatz, den der Russe Nikolai Kondratjew 1926 publizierte. Es war eine derart simple Theorie, dass sie bis heute mehrmals wiederbelebt wurde: Zunächst gehe es mit der Wirtschaft steil aufwärts, 25 bis 40 Jahre lang, dann stagniere oder stottere sie, etwa 15 bis 20 Jahre lang, bis es mit ihr erneut so richtig steil aufwärtsgehe, 25 bis 40 Jahre lang. Ein fixer Zyklus also, von dem sich als Erster der Österreicher Joseph Schumpeter überzeugen liess, ein Klassiker der Nationalökonomie. In seinen Schriften sprach er explizit vom «Kondratjew-Zyklus» und machte diesen weltbekannt.Einen Aufhänger für die alte Theorie bietet die aktuelle Lage in Europa, zumal in der Schweiz. Hier ist plötzlich der wirtschaftliche Optimismus ausgebrochen. Und das, nachdem die Schweizerinnen und Schweizer sich das Thema Wachstum schon fast abgewöhnt hatten. Nach dem Ölschock von 1974, als das Bruttoinlandsprodukt in einem einzigen Jahr um 7 Prozent einbrach, war die eigentliche Krise zwar schnell ausgestanden. Seither flammte ab und an sogar so etwas wie eine Hochkonjunktur auf. Aber das waren kurze Phasen ­ Strohfeuer. Über alles gesehen blieb der Zuwachs bescheiden. Vorbei zog ein Vierteljahrhundert, das man rückblickend als eine «lange Welle» des Abschwungs deuten kann. Vergessen gingen die goldenen Zeiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als es dreissig Jahre lang aufwärtsging. Steil aufwärts.Neue Attraktivität der Schweiz

Und heute? Geht es wieder aufwärts. Endlich, wenn auch nicht mehr gar so steil wie früher. Seit 2002 scheint die Schweiz wieder am globalen Wachstumszug zu hängen. Dieser Zug fährt immer schneller. Soeben stellten die Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) in ihrem jährlichen Ausblick einen reizenden Trend für den «globalen Zyklus» fest: Mal ging es aufwärts, mal abwärts, aber im Schnitt legten die Wachstumsraten stetig zu ­ von plus 2 Prozent (real, pro Kopf) um das Jahr 1970 auf plus 3,5 Prozent für den Zeitraum 2005 bis 2010. Die ganze Welt reitet, historisch gesehen, auf einer langen Welle aufwärts.

Zeichnet sich gar ein nächstes goldenes Zeitalter ab? Ein Kondratjew-Aufschwung? In der Schweiz?

«Seit vier Jahren», bestätigte Professor Franz Jaeger kürzlich in seiner Abschiedsvorlesung an der Universität St. Gallen, «wächst die Schweiz schneller als der EU-Durchschnitt, ist die Schweiz ein Outperformer.» Jaeger orientiert sich an einem «Makroindex»: Er misst die Inflation, die Arbeitslosigkeit sowie das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ­ und kommt zum verblüffenden Resultat: Die Schweiz steht knapp hinter Irland, aber weit vor Deutschland oder den USA.

Franz Jaeger ist nicht der einzige Optimist. Seine Berufskollegen von BAK Basel Economics prognostizieren, dass die Schweizer Wirtschaft mindestens bis 2011 mit durchschnittlich «über 2 Prozent» jährlich wächst. Diese «über 2 Prozent» liegen zwar klar unter dem globalen Durchschnitt und sind nicht vergleichbar mit den Raten der aufstrebenden Grossreiche China, Indien und Russland. Aber diese «über 2 Prozent» bedeuten für ein fortgeschrittenes Industrieland wie die Schweiz ein nachhaltiges Wachstum. Vor allem widersprechen sie Prognosen, wie sie noch vor wenigen Jahren unter den Ökonomen kursierten, als auch Franz Jaeger eine schrumpfende Volkswirtschaft voraussah. Mehr schien unmöglich; es gab, wie Ökonomen sagen, kein «Potenzial» für mehr Dynamik in der Schweiz.

Heute hingegen erkennt Franz Jaeger ein bedeutend höheres Potenzialwachstum. Aus zwei Gründen:

Erstens werde die Bevölkerung nicht so stark schrumpfen, wie noch vor wenigen Jahren befürchtet wurde, weil die Einwanderung aus der EU zunehme. Vor allem qualifizierte Leute wollen dorthin, wo die Zukunft lockt ­ in die Schweiz.

Zweitens hänge die neue Attraktivität der Schweiz mit einem Begriff zusammen, den einst Joseph Schumpeter geprägt hat: mit «Basisinnovationen». Computer, Internet, Gen-, Bio- oder Nanotechnologie sind zwar keine brandneuen Erfindungen. Aber: Jetzt werden diese Technologien so breit angewandt, dass sie alles umwälzen ­ die Produktion in den Betrieben, die Organisation der Wirtschaft, die Konsumgewohnheiten.

Wenn wir uns etwa erinnern, wie wir vor zwanzig Jahren Reiseprospekte studierten, und dann vergleichen, wie wir heute unsere Ferien übers Internet buchen, so erkennen wir: Wir leben in einer andern Welt.

Ein Zauberwort der Stunde lautet Web 2.0. Erfunden wurde es von Tim O’Reilly, einem Verleger und Software-Entwickler aus Irland, und dahinter steckt ­ im Grunde nichts Neues. 2001 platzte die grosse Internet-Blase, und man hielt das Web und die damit verbundenen Visionen für einen überschätzten Hype. Heute ist das Internet immer noch dasselbe Internet, aber es sind neue, spannende Projekte entstanden, die ­ jetzt kommt’s ­ profitabel sind. «Die geplatzte Internet-Blase trennte die Spreu vom Weizen», schreibt O’Reilly. Firmen wie Oracle und Google, Apple und Nokia haben sich seit 2004 im Aktienmarkt zwei- bis viermal besser entwickelt als der Durchschnitt. Laut einer neuen Bewertung der Marktforschungsgruppe Millward Brown ist Coca-Cola, gegründet 1885, nicht mehr «die wertvollste Marke der Welt», sondern Google, gegründet 1998.

Amateure statt Angestellte

Neue Technologien führen zu neuen Lösungen ­ und gleichzeitig münden sie in neue Prozesse und Organisationsformen. Es findet, wie es Joseph Schumpeter gesagt hat, ein «Prozess der schöpferischen Zerstörung» statt. Ein Beispiel unserer Tage: das Open-Source-Prinzip. Dabei erarbeiten Tausende Freiwillige übers Internet ein Produkt oder ein Patent und stellen das Resultat der Öffentlichkeit zur Verfügung. Ursprünglich eine Reaktion alternativer Querdenker auf das Software-Monopol von Microsoft, wird die Idee längst von grossen Konzernen übernommen: lieber zehntausend Amateure als zehn Angestellte. Letztes Jahr veranstaltete IBM ein Brainstorming als globales Happening: IBM-Chef Samuel J. Palmisano versprach 100 Millionen Dollar für gute Ideen ­ 100 000 Menschen aus der ganzen Welt reichten Vorschläge ein, selbstverständlich via Internet. Oder der amerikanische Pharmakonzern Eli Lilly hat eine Site gebaut, über die Wissenschaftler rund um den Globus Chemie- und Biologieforschung betreiben. Namhafte Konzerne wie Ciba, Boeing, Nestlé und Novartis schreiben hier Projekte aus, nahezu 95 000 Web-Forscher machen mit, denken nach, schreiben fort. Die Kosten solcher OnlineResultate, meldet Eli Lilly, liegen bei einem Sechstel vergleichbarer Ergebnisse aus den konventionellen F&E-Abteilungen.

Hier eine neue technologische Infrastruktur, die unseren Wirtschaftsmotor besser laufen lässt; dort die entfesselten Volkswirtschaften in China, Russland oder Indien, die weltweit die Räder antreiben: All dies weckt Hoffnung auf eine lange Phase des Aufschwungs ­ ein neues goldenes Zeitalter. Der Glaube an einen regelmässigen Zyklus des Auf und Ab ist ein ständiger Begleiter der Menschheit. Werden die goldenen Zeiten, gefolgt von Jahren des Unterbruchs und des Übergangs, zu einer historischen Regelmässigkeit, schöpfen Menschen daraus ihre Hoffnungen für die Ewigkeit. Es gibt dann, anders als vom Club of Rome 1972 angedroht, keine Grenzen des Wachstums. Ja es steht sogar die Frage im Raum: Kommt es bald zum nächsten Kondratjew-Aufschwung?

Der Meister selber kann zu dieser Frage nichts mehr beitragen. Der Ökonom Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew, geboren 1892, erlebte knapp drei Zyklen, die später nach ihm benannt wurden. Dann wurde er jäh aus dem Leben gerissen: Seine frohen Theorien passten den Machthabern gar nicht. «Der Kapitalismus», schrieb Kondratjew im frisch stalinistischen Moskau, sei «nicht zum baldigen Untergang verurteilt», sondern er könne sich in langen Aufschwungphasen immer wieder regenerieren. So viel Zuversicht war mehr als suspekt, Kondratjew wurde in den Gulag gesteckt, zum Tod verurteilt und 1938 erschossen.

Dabei hatte er nichts weiter verbrochen, als die Geschichte des Kapitalismus auf Zahlenreihen hin zu untersuchen. Aus einer Unmenge von Daten destillierte Kondratjew einen Zyklus der langen Wellen, der jeweils «40 bis 60 Jahre» dauern soll. Eine vage Angabe, die zeigt, dass man kaum von einem festen Rhythmus sprechen darf: «Bei sozialen und ökonomischen Phänomenen», befand er selbst, «existiert keine strikte Periodizität.»

Die Gnade der rechtzeitigen Geburt

Gleichwohl glaubte Kondratjew an ein Auf- und Abwärts, das zwar nicht so präzise ausfalle wie bei Ebbe und Flut, aber doch bis in alle Ewigkeit gültig sei. Gemäss seiner Theorie ist das Schicksal einer Epoche, ja jeder Generation vorbestimmt. Nach einer Phase überdurchschnittlichen Wachstums muss eine Phase der Ruhe oder gar des Rückganges einsetzen, damit dann ein nächster, dauerhafter Schub einsetzen kann. Das Individuum könne dagegen wenig ausrichten; entweder es hat Glück und wird in eine lange Welle des Aufschwungs geboren ­ oder es hat Pech gehabt.

Haben wir heute Glück? Moderne Ökonomen glauben lieber nicht an solch «deterministische» Theorien. Aymo Brunetti, Chefökonom beim Seco in Bern, gehört zu den bestqualifizierten Wachstumsexperten in der Schweiz. Er publizierte kürzlich ein eigenes, dickes Lehrbuch («Volkswirtschaftslehre»), in dem der Name Kondratjew nie auftaucht. Warum? Sind diese langen Wellen für ihn ein esoterisches Thema? «Es liegt jedenfalls abseits des Mainstreams», antwortet Brunetti. «Die Weltwirtschaft hat sich stark gewandelt, globalisiert.» Dabei gibt Brunetti gerne zu, «dass technische Durchbrüche nach einer gewissen Zeit breit angewendet werden und damit das aggregierte Produktivitätswachstum stimulieren» könnten. Darum, so Aymo Brunetti unumwunden, «passt die Story sehr gut auf die Computer-Internet-New-Economy».

Der erste Kondratjew-Zyklus begann mit der Frühindustrialisierung um 1780. Die Basisinnovation, die diesen ersten langen Boom ermöglichte, war die Dampfmaschine; sie revolutionierte weltweit die Textilindustrie. Darauf folgte eine erste, anhaltende Schwäche. Um 1845 startete der «zweite Kondratjew», getrieben vom Eisenbahnbau und der damit verbundenen Erschliessung des amerikanischen Kontinents. Es folgte wieder eine längere Schwäche. Um 1895 setzte dank der Elektrifizierung eine nächste Revolution ein, die, unterbrochen vom Ersten Weltkrieg, bis in die «goldenen» zwanziger Jahre reichte. Zu jener Zeit schrieb Kondratjew an seiner Theorie, die er 1926 veröffentlicht hat, ergänzt mit der Prognose, dass diese dritte «lange Welle» bald zur Neige gehen werde, ja zur Neige gehen müsse. Die Voraussage entpuppte sich als Volltreffer. Im Oktober 1929 krachte die Börse, es folgte die Weltwirtschaftskrise ­ und seither ist Kondratjew Kult.

Seine vielen heutigen Jünger widmen sich den «Bubbles», den Unruhen auf den Finanzmärkten. Gemäss den Analysen von Carlota Perez, einer Forscherin an der britischen University of Sussex, wiederholte sich das Muster mehrfach: Erfindung, Euphorie, Aktiencrash, technologischer Durchbruch ­ so laute die Reihenfolge. Nach Eröffnung der ersten Linie zwischen Liverpool und Manchester vergingen mehr als zehn Jahre, die Eisenbahn-Aktien explodierten, man sprach von einer railway mania. Dann kam es zur Panik an den Finanzmärkten (1847) ­ und unmittelbar darauf setzte der reale Wachstumsboom ein.

Als das Auto noch des Teufels war

Dasselbe folgte rund um das Automobil. Zuerst wurde es verteufelt. «Seit einigen Tagen kursiert auf unseren Landstrassen ein Ungetüm von einem Automobil. Wir hatten Gelegenheit zu beobachten, wie die Pferde bei dessen Anblick geradezu rasend wurden», meldete der Kreispostdirektor von Chur, besorgt um die Zukunft seiner Postkutschen, an die Kantonsregierung. Diese erliess kurz darauf, am 17. August 1900, ein Automobilverbot «auf sämtlichen Strassen des Kantons Graubünden». In den USA stiess die Freiheit auf vier Rädern auf mehr Gegenliebe: In den Roaring Twenties schossen die Wolkenkratzer in die Höhe, während sich in den Strassenschluchten die ersten Schlangen von Autos bildeten. Das grösste Rallye fand an der Börse statt ­ bis zum unweigerlichen Crash. Vollends reif war die Zeit erst nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Automobil-Massenfabrikation wurde zur neuen Basisinnovation.

Die Geschichte lehrt, dass ein Börsenkrach nicht das Ende sein muss, sondern der Anfang. So war es 1847 bei der Railway-Mania, so war es 1929 bei den Automobil-Aktien, so war es 2001/02 bei der Dotcom-Blase, die nun das nächste goldene Zeitalter auslösen mag ­ es wäre der «fünfte Kondratjew». So sieht es zumindest der amerikanische Ökonom Alasdair Nairn im Buch «Engines That Move Markets». Oder so behauptet es Paul Saffo, Trendforscher an der Stanford University: «Die Blase war nur ein Rumpeln auf der Strasse zur Revolution.» Oder das behauptet W. Brian Arthur vom Santa Fe Institute, der Vergleiche mit der Evolution in der Biologie zieht. Überlebensfähig sei nicht die höchste Form von Komplexität, sondern die höchste Form von Einfachheit. Bis eine neue Technologie aber so simpel ist, dass sie sich im Alltag durchsetzt, muss der Mensch viel Tüftelarbeit leisten. Das braucht Zeit.

Der deutsche Trendguru Matthias Horx hat ähnliche Phasen der technischen Adaption ausgemacht. «Alle fünfzig Jahre erleben wir einen Innovationsschub», sagt er. Nach der «Durchbruchserfindung» setzt das «Prototyping» ein, dann die «Hightech-Phase» ­ und später, oft nach einem Börsensturz, beginne die «Demokratisierung der Technologie». Am Ende gewinne «keineswegs immer der Schnellste oder Grösste, sondern der ‹gereifte› Eroberer einer Nische; derjenige, für den nicht die Technik im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch».

Der heute populärste Kondratjew-Jünger heisst Leo A. Nefiodow. Laut seinen Schriften nähert sich der Computer- und Internet-Zyklus bereits «rapide seinem Ende». Aber zum Glück sei bereits die nächste lange Welle absehbar, getrieben vom Thema Gesundheit. «Der Gesundheitsmarkt», so Nefiodow, «ist die Wachstumslokomotive des 21. Jahrhunderts.»

Gentechnologie könnte durchstarten

Kein Beweis, aber ein Hinweis, dass all dies tatsächlich eintreffen könnte, ist die Anti-Genfood-Kampagne, wie sie im deutschsprachigen Europa grassiert. Die Argumente tönen ähnlich diffus wie bei der Anti-Eisenbahn-, der Anti-Auto- oder der Anti-Computer-Bewegung. Eine derart kritisierte Technologie hat sich schon oft als neue Basisinnovation herausgestellt. «Die Biotechnologie», prophezeit Nefiodow, «wird es ermöglichen, Krankheiten früh zu erkennen, zu vermeiden und deren Ursachen zu beseitigen. Ebenso wichtig wie Fortschritte auf diesem Feld sind Impulse einer ganzheitlichen Medizin, die heute noch vielfach belächelt wird.» Dieser neue, ganzheitliche Ansatz macht inzwischen auch manche Esoteriker zu Kondratjew-Anhängern.

Dagegen hält Christoph Koellreuter, Leiter der BAK Basel Economics, wie die allermeisten seiner Kollegen «nicht viel davon». Aber dass der Gesundheitsmarkt zur Wachstumsindustrie werde, das sei «offensichtlich», nur schon aus demografischen Gründen. Unsere westlichen Gesellschaften altern. Und weil die zukünftigen Alten noch reicher sein werden als die heutigen Alten, werden sie von Trendforschern golden agers genannt ­ Menschen, die für sehr viele Dinge sehr viel Geld ausgeben werden. Am meisten aber werden sie für ihre Gesundheit berappen. Daniel Vasella, der oberste Chef der Novartis: «Wir dürfen es fast nicht laut sagen, aber die Nachfrage nach unseren Produkten wächst fast automatisch.»

Insgesamt boomt der private Konsum so stark und nachhaltig, wie das die Schweiz schon lange nicht mehr erlebt hat. Bis 2014 rechnet die BAK Basel mit einem jährlichen Wachstum der Konsumausgaben von durchschnittlich 1,7 Prozent. In den Jahren danach bis 2020 dürfte diese Zahl nur leicht gebremst werden. In diesen Prognosen sichtet man mit etwas Fantasie den «fünften und sechsten Kondratjew»: Es glänzen vor allem die Ausgaben für Kommunikation und die Gesundheitspflege mit Zuwachsraten von über 3 Prozent ­ und dies während der langen Periode von 2007 bis 2020.

AHV braucht noch mehr Wachstum

Das scheinbare Zusammentreffen von «fünftem und sechstem Kondratjew» zeigt: Eine strikte Periodizität gibt es heute noch weniger als früher. Die Daten hinter dem 40- bis 60-jährigen Zyklus waren schon immer umstritten; heutige Wachstumstheoretiker halten jede Vorstellung eines fixen Zyklus für abstrus. «Wieso soll die nächste derartige Welle erst in x Jahren kommen, wie das die K-Idee suggeriert?», fragt Aymo Brunetti. Schliesslich werde heute laufend mehr und mehr Forschung und Entwicklung betrieben ­ global gesehen ­, und das werde sich früher oder später hoffentlich positiv auswirken. «Wie gesagt, die Theorie ist mir zu deterministisch», schliesst Brunetti, der sich kraft seines Amtes als Chefökonom beim Seco dafür einsetzt, den Prozess politisch zu beeinflussen ­ auf dass die Schweizer Wirtschaft wieder stärker wachse.

Die Konsequenzen schlagen sich nieder bis in die Diskussion rund um die AHV. Wie schlimm es um die Zukunft dieses Sozialwerks steht, hängt stark von der Demografie ab: Der Anteil der über 65-Jährigen steigt, derjenige der 20- bis 64-Jährigen sinkt. Damit die Zahl der Erwerbstätigen nicht allzu stark absinkt, muss die Schweiz dieses Potenzial besser ausnutzen. Um die Jahrtausendwende gab es Szenarien, die der nackte Horror waren, mit sich öffnenden Finanzlöchern von 20, 30 Milliarden Franken. Nun zeigt sich: All das muss nicht eintreffen. Frauen könnten erstens besser in den Arbeitsprozess integriert werden. Zweitens könnten neue Ausländer zuwandern. Drittens könnte die Produktivität und damit die Reallöhne steigen. Viertens spricht heute einiges dafür, dass alle drei vorherigen Punkte gleichzeitig eintreffen.

Trotzdem wird das jetzige Wachstum von «über 2 Prozent» nicht genügen, um die AHV langfristig zu sanieren. Die AHV brauchte mehr. Die Summe der Reallöhne müsste langfristig «rund 3 Prozent im Jahr zulegen», sagt Werner Gredig, Mathematiker im Bundesamt für Sozialversicherung. Die Schweiz brauchte also einen richtigen Boom ­ einen nächsten Kondratjew-Aufschwung.

Eigenkapitalrenditen von über 25 Prozent

Was spricht dafür? Einiges. Die Börse ist auf Rekordhoch, trotz der Immobilienpleiten in den USA. Die Produktivität pro Arbeitsstunde ­ wichtigster Wachstumsindikator überhaupt ­ stieg von 1973 bis 2005 in der Schweiz bloss um rund 1 Prozent im Jahr; 2006 waren es 1,6 Prozent, und einiges spricht dafür, dass diese Rate mindestens so hoch bleiben könnte. Vor allem aber steigt die Rentabilität der Konzerne auf Höchstwerte. Als der Aktiengrosshändler Martin Ebner von der alten UBS noch eine Eigenkapitalrendite von 15 Prozent forderte, erklärte man ihn für verrückt. Als Josef Ackermann, der Schweizer Chef der Deutschen Bank, ein Renditeziel von 25 Prozent vor Steuern auf das eingesetzte Eigenkapital verlangte, hielt man ihn für bescheuert. In der Zwischenzeit werden solche Vorgaben locker übertroffen. 2006 hat die UBS fast 30 Prozent Eigenkapitalrendite erreicht ­ nicht vor, sondern nach Bezahlen der Steuern. Bei den Pharmakonzernen strebt sogar die ganz normale Umsatzrendite in ackermannsche Sphären. Ob Roche oder Novartis, beide erreichen auf jedem Franken, den sie umsetzen, einen Gewinn von 20 Rappen ­ offiziell publiziert, nach Steuern, nach Abzug aller Unkosten.

Gerade die umstrittenen Superlöhne motivieren die ehrgeizige Jugend: UBS und Credit Suisse sind bei Uni-Abgängerinnen und -Abgängern die beliebtesten Arbeitgeber überhaupt, gefolgt von ABB, IBM, Nestlé und Novartis. Inzwischen wachsen sogar die Reallöhne der Normalverdiener wieder: 2007 wird die beste Lohnrunde seit fünf Jahren, meldet die UBS. Die kleine Schweiz meldet sich Schritt für Schritt zurück: als Globalisierungsgewinnerin. Ausgerechnet in der Biotechnologie, einer potenziellen «Basisinnovation», gehören die Labors in Basel, Zürich und Genf zur Weltspitze.

Braut sich aus all diesen Ingredienzen ein nächstes goldenes Zeitalter zusammen? Wir werden es erleben.

Übersicht