Die Steuern gehen weiter runter

Dank dem Aufschwung – und dank dem Steuerwettbewerb
16.05.2007, Weltwoche

In der Schweiz ist der Steuerwettbewerb mehr als nur ein Traum. Er läuft und läuft und läuft. Die meisten Leute haben bereits profitiert, und bald sind es wirklich alle. Sogar in Bern, der sprichwörtlichen Steuerhölle, tut sich etwas: Wo noch vor zwei Jahren eine FDP-Initiative für einen generellen Steuerrabatt sogar von der SVP bekämpft und vom Volk verworfen wurde, sammeln jetzt Grüne, Gewerkschafter und Sozialdemokraten Unterschriften zur «steuerlichen Entlastung für Familien und Mittelstand». Da frohlockte sogar die linke Wochenzeitung: «Das Steuernsenken wird ein Heidenspass.»In (fast) allen andern Kantonen ist der Heidenspass längst da. Erstens wurden die Steuern gesenkt. Zweitens genossen dies ­ entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ­ nicht so sehr die «Spitzenverdiener», sondern vor allem Familien mit Kindern und der Mittelstand. Drittens dürfte sich dieser Abwärtssog in nächster Zeit sogar noch verstärken.

Es läuft ein Prozess, bei dem die Wirkung zur Ursache der nächsten Wirkung wird. Das überraschend hohe Wirtschaftswachstum, das teilweise auch den früheren Steuersenkungen zu verdanken ist, sorgt jetzt dafür, dass allerorten die Steuereinnahmen sprudeln ­ so dass die Tarife erst recht gesenkt werden können. Vielleicht sogar im Kanton Bern.

Dass die Steuern (fast) überall gesunken sind, ist den meisten Leuten kaum aufgefallen. Denn diese Steuersenkungen wurden selten als «Steuersenkungen» kommuniziert. Stattdessen gestatteten die Politiker ­ typisch schweizerisch ­ mehr Abzüge. Am stärksten erhöht wurden in letzter Zeit die Abzüge für Kinder, für Zweitverdiener, für Versicherungsleistungen et cetera. Damit wurden familienpolitische Postulate eingelöst sowie gewisse Nachteile für Verheiratete ausgemerzt ­ zumindest auf Kantonsebene.

All das tönt etwas technisch, aber der Effekt ist klar. Etwa bei einem verheirateten Paar, das jährlich 100000 Franken brutto verdient und zwei Kinder hat: Die steuerliche Belastung durch Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuern sank von 2001 bis 2006 in (fast) allen Kantonen ­ und in acht Kantonen sparte das Ehepaar sogar über fünfzehn Prozent.

Das waren happige Steuersenkungen, die sich in den Portemonnaies spürbar auswirkten ­ und zwar keineswegs nur bei den «Superreichen» in den Steueroasen Zug oder Schwyz. Der Steuerwettbewerb, so zeigt die jüngste Erfahrung, nützt allen: bis weit hinab zum Mittelstand und auf beiden Seiten von Rösti- und Polentagraben. Am stärksten fielen die jüngsten Steuersenkungen im Tessin und in Genf aus; auch die zweisprachigen Kantone Freiburg und Wallis verbesserten sich stark.

Am Ende verschob sich dabei die Rangliste der Steueroasen. Zwar kommt das erwähnte Ehepaar mit zwei Kindern immer noch in Zug am besten weg. Doch zu den attraktivsten Kantonen zählt inzwischen auch das Tessin, wo Finanzdirektorin Marina Masoni eine Steuersenkung um die andere einläutete, bis sie dann über zwei Affärchen stolperte. Der Südkanton verbesserte sich in der Rangliste für mittelständische Familien mit Kindern still und heimlich auf den zweiten Platz. Und Genf, wo die einstige Finanzdirektorin Micheline Calmy-Rey eine Massnahme um die andere einleitete, um primär den unteren Mittelstand zu entlasten, stiess von hinten bis auf den fünften Platz vor.

Andrerseits musste ein Mittelstandspaar mit Kindern in den Kantonen Bern, Jura und Neuenburg über 10000 Franken für Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuern berappen ­ dreimal so viel wie in Zug, fast doppelt so viel wie im Kanton Zürich. Schlimmer noch: Ausgerechnet in diesen Hochsteuerzonen sind die Steuern in den letzten fünf Jahren nicht gesunken. In Neuenburg stieg die Belastung sogar leicht an; und in Bern oder der Waadt ­ einem weiteren Grosskanton mit notorisch hohen Tarifen ­ wurde von 2001 bis 2006 kaum die Teuerung ausgeglichen.

Doch bald wird der Steuerwettbewerb noch härter. Neben dem Tessin und Genf ist zum Beispiel auch der Thurgau vorgeprescht. Dort reihte SVP-Möchtegern-Bundesrat Roland Eberle als Finanzminister eine Senkung an die nächste. Nebenan musste auch der Kanton St. Gallen reagieren. Und die neueste und nachhaltigste Offensive kommt aus dem Aargau. Die Mitte der Mitte der Schweiz will attraktiv werden für Familien, und die Politiker setzen dabei auf zwei Pfeiler: erstens auf eine Schulreform, die etwas kosten darf ­ und zweitens auf eine Steuersenkungspolitik, die etwas kosten wird. «Der Aargau will zurück in die Top Five», meldete die Basler Zeitung und machte damit klar: Sobald der Aargau, wo Familien in den letzten fünf Jahren bereits um 9,2 Prozent entlastet wurden, weitere und einschneidende Schritte umsetzt, kommen die umliegenden Kantone extrem unter Druck. Luzern will mitmachen, aber die angekündigten Schritte werden kaum genügen. Baselland, wo in den letzten fünf Jahren die Steuern für Familien lediglich um 1,7 Prozent sanken, wird eher früher als später ebenfalls Steuern senken müssen.

Frage an Kurt Stalder, den Sekretär der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren: Sind weitere Senkungen zu erwarten? ­ «Ja, für natürliche Personen zeigt der Trend in der Mehrzahl der Kantone nach unten.» Das Prinzip «Keine Steuern auf Vorrat» habe sich durchgesetzt, sagt der Experte. Wenn früher die Konjunktur anzog und die Steuereinnahmen sprudelten, gab der Staat einfach mehr Geld aus. Jetzt aber fällt der Zuwachs auf die Bürger zurück. «Heute gibt es Schuldenbremsen», sagt Kurt Stalder, «die wirken nachhaltig. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und bis in die Neunziger hinein wurde auf der Ausgabenseite gesündigt.»

Kann das jahrelang so weitergehen? Könnten gar die Steuertarife immer weiter sinken? ­ «Ja, es geht klar weiter so. Die Konkurrenz zwischen den Kantonen wirkt, ebenso die internationale Konkurrenz. Noch in den achtziger oder den neunziger Jahren schaute jeder Kanton für sich. Heute hat man eine ganz andere Optik.»

Vor allem haben die Kantone jetzt den nötigen Spielraum. Spätestens seit den Goldausschüttungen der Nationalbank präsentiert sich ihre finanzielle Lage günstig. Freiburg, St. Gallen, Thurgau, die beiden Appenzell, Zug, Aargau, Schwyz, Nidwalden, Uri ­ sie alle haben gar keine oder fast keine Schulden mehr. Kein Wunder, dass alle diese Kantone in letzter Zeit weitere Senkungen angekündigt oder bereits beschlossen haben. Freude machen überdies die laufenden Rechnungen: 23 von 26 Kantonen schlossen das letzte Jahr mit schwarzen Zahlen ab, und die anhaltend gute Konjunktur spült den Finanzdirektoren noch mehr Geld in die Kassen, als sie budgetiert hatten.

Hier leuchtet wohl mehr als nur ein Strohfeuer. Denn parallel zum Wirtschaftsboom manifestiert sich ein Mentalitätswandel, der sich just in der Steuerfrage niederschlägt. Nachdem in den letzten Jahrzehnten die Steuern, Abgaben und Gebühren kräftig angehoben worden sind, läuft nun der Backlash: Tiefe Steuern sind plötzlich wieder sexy. Nicht nur in Wollerau, sogar in der Stadt Zürich. Als es dort darum ging, die überfällige Senkung anzukündigen, preschte Stadtpräsident Elmar Ledergerber (SP) unkollegial am zuständigen Finanzvorsteher vorbei und verkündete via Sonntagspresse: Auch Zürich will mit den Steuern runter.

Und so gilt selbst Obwalden nicht länger als hinterwäldlerisch: Mit seiner Idee, von den Reichsten tiefere, degressive Tarife zu verlangen, hat sich dieser Halbkanton nicht etwa ins Abseits manövriert, im Gegenteil. Die ganze Schweiz verfolgt, was dort abläuft, und staunt: «Obwaldens Steuerpläne gehen auf», titelte jüngst der Tages-Anzeiger. Das erste Jahr im degressiven Zeitalter war für Obwalden positiv: Die Staatsrechnung 2006 schloss mit einem Überschuss ab, mehr Menschen als in den Vorjahren zogen zu.

Profitieren dabei Reiche noch stärker als Normalverdiener? In Obwalden vielleicht ­ aber das ist erst Phase eins. In einer nächsten Phase sollen auch die Normalverdiener stärker profitieren. Doch Obwalden ist ein Einzelfall. In den andern Kantonen spürten die Einkommensmillionäre in den letzten fünf Jahren zwar auch etwas von den Steuersenkungen, aber: Diese fielen nie so happig aus wie bei den normal verdienenden Familien, wo es acht Kantone gibt mit Steuersenkungen von mehr als fünfzehn Prozent. Nimmt man ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem generösen Bruttolohn von einer Million Franken, so zeigt sich: Stark sank die Belastung von 2001 bis 2006 nur in Obwalden (minus dreissig Prozent), dahinter folgen Schaffhausen, Solothurn und Tessin mit eher massvollen Senkungen (minus zehn Prozent).

Doch der Trend ist oben wie unten gleich: Es geht konsequent abwärts; (fast) alle, die in der Schweiz direkte Steuern entrichten müssen, bezahlen heute weniger als vor fünf Jahren, und (fast) alle werden bald noch weniger zahlen müssen. Selbst der Kanton Zug, die Steueroase Nummer eins, hat mit einer Volksabstimmung im Herbst beschlossen: Selbst tiefste Steuersätze lassen sich nochmals senken.

Und wie Zug demonstriert hat, werden in den künftigen Runden vornehmlich die Firmen profitieren. «Ich bin dafür, dass jetzt vor allem die Unternehmen entlastet werden», fordert der Ökonom Walter Wittmann. Denn: Steuersenkungen bei den Unterschichten würden den Konsum nur ein bisschen ankurbeln, da könne man jetzt nicht mehr viel runter. «Bei den Unternehmen jedoch ergibt eine Senkung einen stärkeren konjunkturellen Impuls.»

Die Tendenz wird hier auch von der internationalen Entwicklung geprägt. Fast überall in Europa sanken letzthin die Gewinnsteuern für Unternehmen; in der Schweiz passierte jedoch wenig. Ausnahme war ­ schon wieder ­ Obwalden, das eine einmalig tiefe Flat Tax einführte. «Obwalden kennt das Holding-Privileg nicht», betont Finanzdirektor Hans Wallimann. Sondern Obwalden zeichne sich durch die tiefe Gewinnbesteuerung für alle aus ­ ein Vorteil, der voll EU-kompatibel ist. Im Halbkanton wurden die Gewinnsteuern sogar so stark gesenkt, dass er nun gemäss dem internationalen Steuervergleich der BAK Basel zum attraktivsten Standort überhaupt avanciert ist. Die jüngste Rangliste mit der prozentualen Gewinnsteuer für Unternehmen lautet:

Obwalden 11,0 Prozent

Zug 14,0 Prozent

Dublin 14,0 Prozent

Nidwalden 15,0 Prozent

Bratislava 16,1 Prozent

Warschau 16,4 Prozent

Schwyz 17,3 Prozent

Budapest 17,6 Prozent

Mit andern Worten: Die besten Kantone der Schweiz können mit dynamischen Ländern wie Irland oder der Slowakei mithalten. Das ist erfreulich, aber erst ein Anfang. Der Steuerwettbewerb sorgt jetzt dafür, dass auch die andern Kantone unter Druck geraten. Der Spielraum ist da ­ jetzt müssen ihn die Politikerinnen und Politiker nur nutzen.

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