Die Armen werden immer reicher

Wem nützt der Aufschwung? 31.05.2007, Weltwoche

Während die Reichen reicher werden, werden die Armen immer ärmer ­ heisst es. Und während die Manager immer höhere Boni einstreichen, heisst es: «Der Mittelstand spürt nichts vom Aufschwung.» Soziologen reden gar von «Abgehängten», die in «prekären Verhältnissen» leben. «Wir sind eine Gesellschaft des Weniger», doziert Ulrich Beck; er spricht von einem «Prekariat» und meint damit «eine Gesellschaft von weniger Sicherheit», in der auch gut Gebildete um ihren Job fürchten müssten. Das werde als Abstieg erfahren. «Zu sagen, im Mittelalter war es auch schon schlimm, ist sozialpolitisch irrelevant.»Stimmt das? Werden die Armen immer ärmer? Spürt der Mittelstand nichts vom Aufschwung, der in der Schweiz seit bald vier Jahren andauert? Wächst ein Prekariat heran?

Dies wäre völlig neu in der Geschichte des Kapitalismus. Derselbe Soziologe Ulrich Beck prägte vor gut zwanzig Jahren einen andern Begriff: «Fahrstuhleffekt». Nach dieser Metapher befindet sich die Gesellschaft als Ganzes in einem Lift, und der fährt nach oben. Entscheidend sei, dass dieser Lift die Gesellschaft als Ganzes mitnehme. Zwar werde nie jedes Individuum reicher; aber jede soziale Schicht werde mit dem Lift nach oben gezogen. Über die Zeit werde die Unterschicht reicher, die Mittelschichten sowieso, nur merkten sie es vielleicht nicht, weil sie immer auf die Reichen starrten, die immer noch reicher würden. Aber solange der Lift nach oben fahre, gebe es «ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum»: Das schrieb Ulrich Beck im Jahre 1986 in seinem berühmten Buch mit dem Titel «Die Risikogesellschaft».

Was gilt nun? Geht der Lift aufwärts für alle, wie Beck früher dargelegt hat? Oder werden die unteren Schichten «abgehängt», wie Beck heute behauptet?

Eine Schere gibt es nicht

Schauen wir streng auf das Einkommen, so gibt es, wie von Soziologe Beck einst erhofft, auch in der Schweizer Gegenwart ein «kollektives Mehr». Das «verfügbare Haushaltseinkommen» steigt wieder ­ und zwar bei den untersten zwanzig Prozent der Haushalte, bei den obersten zwanzig Prozent der Haushalte, aber am stärksten steigt das verfügbare Einkommen beim Mittelstand. Dies belegt die ­ soeben veröffentlichte ­ Einkommens- und Verbrauchserhebung des Bundesamts für Statistik.

Statistisches Mass dafür ist der «Median»: 50 Prozent der Haushalte haben mehr Geld, als dieser Mittelwert angibt, 50 Prozent der Haushalte weniger. 1998 lag der Median des verfügbaren Haushaltseinkommens in der Schweiz bei 5317 Franken, 2005 waren es 5909 Franken. Das ist eine Steigerung um 11,1 Prozent. In derselben Zeit haben die obersten zwanzig Prozent der Haushalte ihr Einkommen um 6,6 Prozent gesteigert, die untersten um 5,7 Prozent. Dabei handelt es sich wie gesagt um die «verfügbaren Einkommen»: also nach Abzug der Krankenkassenprämien, Steuern, Sozialversicherungsabgaben und Gebühren.

So gesehen stimmt es nicht, dass die Schweizer Gesellschaft auseinanderdriftet. Es gibt keine Scherenbewegung zwischen oben und unten. Im Gegenteil: Am meisten zugelegt hat der Mittelstand. Hier stiegen die verfügbaren Einkommen sogar stärker, als dies die ausgewiesenen Lohnerhöhungen erwarten liessen. Woher kommt das? Zunächst erklommen Leute im Mittelstand offensichtlich bessere Positionen, die besser bezahlt werden. Ausserdem kamen viele Einwanderer vor allem aus Deutschland hinzu, die gut ausgebildet sind ­ und hier gute Löhne verdienen. Überdies haben die Leute in letzter Zeit den Grad der Beschäftigung eher erhöht. Es ist ja zum Glück nicht so, dass die grosse Masse um ihren Job bangen müsste, wie gewisses Soziologen seit drei Jahrzehnten warnen. Bis jetzt nämlich ist uns die Arbeit noch nie ausgegangen, im Gegenteil: Die Zahl der Erwerbstätigen steigt stetig. Im ersten Quartal 2007 gingen 4,3 Millionen Menschen einer Arbeit nach · zehn Jahre zuvor waren es erst 3,9 Millionen gewesen.

Es geht aufwärts

Nun zur zweiten Voraussetzung, von der sich Ulrich Beck einst den Fahrstuhleffekt erhofft hatte: dem «kollektiven Mehr an Bildung». Gerade hier sind die Fortschritte offensichtlich. Ohne jeden Zweifel hat die Schweiz in letzter Zeit eine gewaltige «Bildungsexpansion» erlebt. Die Zahl der höheren Abschlüsse steigt und steigt ­ vor allem aber wird der Zugang zu einem höheren Bildungsabschluss endlich offener ­ neu auch für wirklich alle sozialen Schichten.

Zwar ist der akademische Königsweg ­ gymnasiale Matur, Universität, ETH ­ weiterhin eine ziemlich elitäre Angelegenheit: In den Hörsälen sammeln sich zu 60 Prozent Jugendliche, deren Vater oder Mutter bereits eine Matur geschafft hat. Doch parallel dazu steht inzwischen eine Alternative bereit: die höhere Berufsbildung. Stark zugenommen haben die Abschlüsse mit eidgenössischen Diplomen und eidgenössischen Fachausweisen. Explodiert ist die Zahl der Berufsmaturanden: Heute gelingt jedem fünften Lehrling die Berufsmatur ­ und vielen von ihnen danach der Sprung an eine Fachhochschule. Diese Entwicklung ist neu, und dank ihr verbessert sich die Chancengleichheit erheblich. Denn die Fachhochschulen sind offen für alle, für die Nachkommen der Schweizer Büezer genauso wie für die zweite Generation der Einwanderer. «Der Apfel fällt zunehmend weiter vom Stamm», lautet das Fazit von zwei Ökonomen der Uni Zürich, welche die Bildungschancen der heutigen Jugendlichen mit denjenigen von früher verglichen haben.

Das dritte «kollektive Mehr», das Ulrich Beck einst versprochen hat, ist das «kollektive Mehr an Mobilität». Auch dieser Wunsch ging in Erfüllung, und wie: 1990 gab es in der Schweiz knapp 3 Millionen Autos, heute sind es 3,9 Millionen. Mehr als jeder zweite Einwohner, Babys und Greise eingeschlossen, hat ein eigenes Auto; diese Ausstattung lässt sich kaum mehr steigern. Auch die Zahl der Motorräder hat sich seit 1990 auf gut 600 000 verdoppelt. Parallel zur Zunahme des Privatverkehrs wurde ­ und wird ­ auch der öffentliche Verkehr massiv ausgebaut.

Und wie steht es mit dem «kollektiven Mehr an Recht»? Erneut weisen die statistischen Indikatoren nach oben: Die Zahl der Rekurs- und Prozessmöglichkeiten wächst enorm, wovon nicht nur Finanzhaie profitieren, sondern auch Konsumenten, Mieter, Umweltschützer, Opfer von Verbrechen oder von Konkursen. Ob damit mehr Gerechtigkeit erzielt wird, steht allerdings auf einem andern Blatt ­ zumal zugleich die Zahl der Paragrafen gewaltig ansteigt.

Und wem nützt das von Beck einst erhoffte «kollektive Mehr an Wissenschaft»? Ob Bio-, Gen-, Solar-, Nano- oder Informationstechnologie: Sie alle führen uns voran, sie müssen es auch. Würde die Menschheit weiter fuhrwerken wie bisher, ginge sie zugrunde, das ahnen wir spätestens seit dem Bericht des Club of Rome im Jahre 1972. Doch die Menschheit fuhrwerkt eben nicht weiter wie bisher: Sie erfindet laufend bessere, intelligentere Produktionsverfahren. Franz Jaeger, Ökonomieprofessor in St. Gallen, sieht zum Beispiel in der globalen Erwärmung keine Gefahr, dafür eine Riesenchance, just für ein Land wie die Schweiz, wo sich so viele kluge Köpfe sammeln. «Gerade die Klimadiskussion belegt den Bedarf nach einer weiteren Beschleunigung des technologischen Wandels.»

Weiter setzt sich der medizinische Fortschritt fort, und dieser Fortschritt ist zumindest in der Schweiz allen zugänglich, da die Grundversicherung der Krankenkassen für die sozial Schwachen subventioniert wird. Die neuen Operationstechniken zögern nicht nur den Tod hinaus, sie verlängern vor allem die Zeit, in der es uns gut geht. Die Lebenserwartung bei voller Gesundheit stieg in den letzten Jahren von 63,9 auf 67,9 Jahre bei den Männern und von 65,3 auf 68,7 Jahre bei den Frauen. Das sind, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO zeigt, international hervorragende Werte.

Ein wichtiger Faktor, der spüren lässt, ob es der Gesellschaft quer durch alle Schichten besser geht, bleibt natürlich der Massenkonsum. Auch hier ist der Trend überraschend positiv: Zum Beispiel erhalten wir in der Unterhaltungselektronik für weniger Geld immer bessere Qualität. Computer gibt es ab 1000 Franken, der Internet-Anschluss ist zwar im internationalen Vergleich noch teuer, aber selbst für hiesige Sozialhilfeempfänger erschwinglich. Der berüchtigte «digitale Graben», von vielen Kritikern heraufbeschworen, hat sich nicht geöffnet. Im Gegenteil, die Verbreitung an Computern nähert sich der Ausrüstung mit Kühlschränken oder Uhren an ­ pro Person ein Stück. Dank der breiten Computerisierung wird vieles, was vor kurzem noch teuer war, gratis (etwa Musik). Und dank Google erhalten heute alle ­ unabhängig vom Wohnort, von der Rasse, von der sozialen Schicht ­ einen freien Zugang zu Informationen.

Jeder hat 10 Quadratmeter mehr

Dass der Massenkonsum weiter zunimmt, äussert sich in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft anders als früher. Am augenfälligsten zeigt sich der neue Luxus beim Wohnen, und zwar nicht nur beim Komfort (Parkettböden statt Nadelfilz). Es steigt auch die Fläche pro Kopf, und zwar in einem historisch einmaligen Ausmass, von Volkszählung zu Volkszählung: 1980 hatte jeder Schweizer 34 Quadratmeter zur Verfügung, 1990 waren es 39 und 2000 44 Quadratmeter. Diese wundersame Flächenvermehrung dauert an, da der Bau boomt wie nie zuvor ­ und dieser Boom sich nur leicht abzuschwächen scheint. Im letzten Jahr wuchs die «Produktion» um weitere 9 Prozent auf 41700 neue Wohnungen; zurzeit befinden sich 57250 neue Wohnungen im Bau. Von diesen Flächen profitieren besonders Familien, weil neu auch 4-, 5- und 6-Zimmer-Wohnungen gebaut werden.

Erstes Fazit: Auch die Armen werden immer reicher. Der kritische Spiegel-Reporter Cordt Schnibben fasst zusammen: «Der Arme von heute ist reicher als der von damals, absolut und relativ, er kann konsumieren wie ein Facharbeiter in den Fünfzigern, er kann via Fernsehen und Computer zumindest kulturell in soziale Schichten vordringen, zu denen ein Arbeiter früher keinen Zugang hatte.»

Zweites Fazit: Vor allem der Mittelstand spürt den Aufschwung. Und je länger die gute Wirtschaftslage andauert, umso besser: Dann steigen die einzelnen Löhne, die bis jetzt nur mässig zugelegt haben. So konnte die UBS jetzt melden: «2007 wird die beste Lohnrunde seit fünf Jahren.» Andrerseits sinken sogar gewisse Abgaben für die Sozialversicherungen: Die staatliche Unfallversicherung Suva wird die Prämien für die Berufsunfall- und Nichtberufsunfallversicherung Anfang 2008 um 5 bis 10 Prozent senken. Und auch die Steuern sinken von Kanton zu Kanton, von Gemeinde zu Gemeinde, wovon entgegen der Volksmeinung nicht nur Spitzenverdiener profitieren, sondern am stärksten die Mittelständler (siehe Weltwoche Nr. 20/07).

Drittes Fazit: Ulrich Beck ist offenbar der beste Gesellschaftsanalytiker im deutschen Sprachraum. Man sollte allerdings weniger seinen aktuellen Erkenntnissen über das «Prekariat» oder einer «Brasilianisierung von Westeuropa» vertrauen. Viel besser passt das Bild vom «Fahrstuhleffekt», das Beck 1986 erstmals beschrieben hat. Es skizziert die Realität einer Gesellschaft wie der Schweiz im Jahr 2007, in der alle gemeinsam nach oben fahren: die Reichen, der Mittelstand, aber auch die Armen.

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