Jesus und die Flat Tax

Kolumne 22.06.2007, Bilanz

Im Jahr 2006 führte Obwalden degressive Steuertarife ein. Degressiv hiess: Wer in Sarnen 300 000 Franken im Jahr verdiente, zahlte 16 Prozent Steuern. Wer auf eine halbe Million im Jahr kam, musste nur noch 13 Prozent abgeben. Stieg das Einkommen gar auf eine ganze Million, sank der Steuertarif auf knapp unter 12 Prozent. Das tönt zwar etwas ungerecht, aber das Obwaldner Stimmvolk wollte es so. Dann kam das Bundesgericht in Lausanne ­ und verbot diese Art des «Reichenrabatts». Zur Begründung beriefen sich die höchsten Richter auch auf die Bibel. Im Markus-Evangelium (12, 41-­44) heisse es sinngemäss: Wer mehr habe, solle auch mehr davon abgeben. Worauf ein Journalist des «Tages-Anzeigers» dies sogar als Plädoyer für progressive Steuern interpretierte, wonach proportionale Tarife, also Flat Rates, die Obwalden nun auf das Jahr 2008 einführt, als ungerecht anzusehen wären.Stimmt das? Im Markus-Evangelium lesen wir an der erwähnten Stelle: «Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersass, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein; das macht zusammen einen Pfennig. Jesus rief seine Jünger zu sich und sagte: ‹Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besass.’»Messen wir diese Geschichte an den Realitäten der neuen Flat Rates, dürfen wir konstatieren: Unsere moderne Welt ist um einiges christlicher als die damalige. Sowohl in der Slowakei wie neuerdings in Obwalden zahlen zwar alle gleich viel Prozent – da es aber jeweils einen hohen pauschalen Steuerfreibetrag gibt, müssen Ärmere und die Ärmsten keinen Cent, keinen Rappen mehr abgeben.

Die Kritiker einer Flat Tax freilich haben schon immer weniger auf die Ärmeren geachtet als auf «die Reichen», die in Obwalden oder in der Slowakei «zu gut» wegkämen. Nun hat Jesus nie verlangt, dass «die Reichen» ihren «Überfluss» gänzlich abgeben müssten. Im Gegenteil: Der berühmte Zehnte aus der biblischen Geschichte verweist schon vom Wort her auf eine proportionale Steuer von zehn Prozent. In der Frühzeit des Christentums wurde dieser Zehnte sogar auf freiwilliger Basis eingefordert.

War das gerecht? Kann eine Welt, in der die richtig Reichen genau gleich wenig Prozent abgeben müssen wie die weniger Reichen, je sozial, gerecht, christlich sein?

Die Antwort lautet: ja! Und zur Begründung genügt ein Gedankenexperiment. Nehmen wir einmal an, dass alle Leute, ob arm oder reich, prozentual gleich viel an Steuern abgeben müssten. Dann würde man all diese Einnahmen in einen grossen Topf werfen -­ und diese Summe anschliessend gleichmässig an jeden Einwohner, jede Einwohnerin verteilen, sodass jede Person gleich viel Geld erhielte. Was würde bei einer solch simplen Politik passieren? Sie führte zu einer Umverteilung zugunsten Ärmerer und der Ärmsten, gerade weil alle Leute, ob arm oder reich, in Franken gleich viel erhielten und alle Leute, ob arm oder reich, in Prozent gleich viel einzahlten. So viel zur Theorie.

Und nun zur Praxis: Im heutigen Wohlfahrts- und Steuerstaat zahlen «die Reichen» (ausserhalb von Obwalden) auf ihren Einkommen zwar progressiv steigende Steuern ­ aber nur auf dem Papier. In Wahrheit profitieren sie von unzähligen Ausnahmen und Sonderregelungen, die sie in ihren Steuererklärungen als Abzüge auflisten und die, etwa im Fall von Pensionskassen-Luxuseinkäufen oder Häuserrenovationen, gegen oben schier unbegrenzt sind. Die angebliche Steuerprogression wird damit zum Phantom.

So gesehen ist es nichts als ein Akt der Ehrlichkeit und der Vernunft, wenn souveräne Kleinstaaten wie die Slowakei oder Obwalden zu Flat Rates übergehen. Und sobald die Politiker im Gleichschritt auch noch alle «Steuerrabatte», «Privilegien», «Ausnahmen» abschaffen, also alle heutigen Abzüge streichen, wird das künftige Steuersystem nicht nur einfach, sondern auch gerecht und sozial, ja sogar christlich.

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