Was würde Dutti dazu sagen?

03.09.2007, Weltwoche

Dutti lebt. Gestorben am 8. Juni 1962, taucht er seither regelmässig auf. Bald auch auf der Leinwand, als Hauptfigur im Dokumentarfilm «Dutti der Riese». Derweil wird im Migros-Hochhaus in Zürich und in Leserbriefen gerätselt: Was, um Himmels willen, würde Dutti zur heutigen Migros sagen? Zur Migros, die er einst im Kampf gegen «Trust-Halunken» erfand, die nun aber selber zum orangen Brocken angewachsen ist? Zum Migros-Denner-Pick-Pay-Globus-Konzern, der bald mit der Coop-Waro-Carrefour-Gruppe vier Fünftel des Lebensmittelhandels beherrscht? Kann es gut sein für die Konsumenten, wenn die Migros so mächtig ist?Die Frage stellen und zugleich auf Dutti verweisen heisst: die Antwort vorwegnehmen. Denn der beste Kritiker der Migros ist bis heute ihr Gründer selber: Gottlieb Duttweiler, geboren 1888 in der Zürcher Altstadt, genannt Dutti.

«Gottlieb Duttweiler würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erleben würde, wie heute mit dem Migros-Personal umgegangen wird», schreibt etwa Leser Klaus Morgenthaler im Brief an die Sonntagszeitung, nachdem diese gemeldet hat, die Migros lasse McKinsey nach Sparpotenzial in ihrem Haus suchen.

So lautet das Rezept der Migros-Kritiker bis heute: Man berufe sich auf den Gründer, und das ist leicht. Man kann die Zitatensammlung «Überzeugungen und Einfälle» zur Hand nehmen, die im firmeneigenen Ex-Libris-Verlag erschienen ist, und findet haufenweise Sätze, die fast beliebig passen, auch im Hinblick auf die Denner-Übernahme: «Die frei spielende Konkurrenz ist der beste Freund der Hausfrau.» Oder: «Es rentiert besser, mit der Minderheit recht zu haben, als mit der Mehrheit, Arm in Arm mit den Monopolisten, zu siegen.»

Es war einmal ein in die Höhe geschossener Junge, der eine kaufmännische Lehre in einem Handelsbetrieb machte, mit 19 für seine Lehrfirma nach Le Havre ging und dort als Agent den Kaffeehandel kennenlernte. Später wechselte er nach Genua, kaufte von dort aus Reis, Wolle, Gewürze, Heizöl, Kaffee und Tee ein, zeitweise in grossen Mengen, ohne seine Chefs in Zürich richtig zu fragen. Der kühne Mann gewann auf der ganzen Linie: Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs stiegen die Rohstoffpreise rasant.

Bald stellte er in der Firma Pfister&Sigg, der er treu war seit seiner Lehre, die Vertrauensfrage. Der junge Gottlieb gewann den Poker, aus Pfister&Sigg wurde Pfister&Duttweiler. Richtig reich wurde der Aufstreber ­ innert kürzester Zeit. In Rüschlikon am Zürichsee baute er sich und seiner Frau Adele eine Villa, feierte Partys, fuhr einen Martini-Sportwagen. Als «Kriegsgewinnler» könnte man ihn rückblickend kritisieren, als «Wunderkind» galt er damals.

Dann, nach dem Krieg, fielen die Rohwarenpreise, Duttweiler verlor alles, Pfister&Duttweiler schlossen den Laden. Um «der europäischen Füdlibürgerei» zu entfliehen, wanderte das Duttweiler-Paar nach Brasilien aus, wo es Adele jedoch weniger behagte. Man kehrte zurück, Gottlieb bewarb sich bei der Handelsgenossenschaft Coop, in der sein früh verstorbener Vater einst tätig war; nun wollte sein Sohn dort gewöhnlicher Einkäufer und Disponent werden. Obschon er für den Job qualifiziert war wie kaum jemand, wurde er abgelehnt.

Schriften fast wie die Bibel

«Der Mann war am Ende, als alles begann», notierte der Journalist und Firmenhistoriker Karl Lüönd. Mit 38 Jahren startete Duttweiler sein zweites Unternehmen: die Migros. Und obschon er das zweite Mal noch reicher werden sollte, blieb er bescheiden. Von jetzt an war er Dutti ­ ein Mann des Volkes. Nahm in der Eisenbahn die dritte Klasse. Wohnte wieder in Rüschlikon, doch jetzt in einer Dreizimmerwohnung. Fuhr einen Fiat Topolino.

Als Migros-Chef hatte er sich dem kleinen Mann verpflichtet und vor allem der einfachen Hausfrau ­ mit Preisen, so tief wie nur möglich. Für dieses Ziel tat er alles: als rappenspaltender Händler, umtriebiger Journalist und hitziger Politiker. Er eröffnete Läden, druckte Zeitungen (unter dem schönen Titel Wir Brückenbauer), gründete eine Partei (unter dem schönen Titel Landesring der Unabhängigen). Und weil er so viel und gut schrieb, hinterliess er ein Werk, das bis heute überlebt ­ und «mit dem es sich so ähnlich verhält wie mit der Bibel».

Der Bibel-Vergleich stammt von Christian Lutz, einst Leiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI) in Rüschlikon. Duttis Schriften seien «nicht nur quantitativ fast unübersehbar», sondern «auch so vielfältig und teilweise in sich widersprüchlich, dass jeder gewiefte Exeget durch geschickte Kombination von Zitaten das herauslesen kann, was er möchte». Die Schriften als Angebot zur Selbstbedienung.

«Kein Vertrauen in die eigene Kraft» lautet der Titel eines Leserbriefs im Tages-Anzeiger: «Duttweiler wurde aus dem neuen Leitbild der Migros gekippt, Globus im Luxusbereich übernommen, in Österreich und in Frankreich Hunderte von Millionen verloren, die unbezahlbare Marke Brückenbauer durch das banale Migros-Magazin ersetzt, eine M-Budget-Party in Rimini mit Bier und Kondomen angeboten, und nun der Denner-Deal. Gottlieb Duttweiler sagte 1954: ‹Wir müssen aus eigener Kraft, ohne auf die Konkurrenz zu schauen, für unsere lieben Kundinnen jeden Tag billiger die beste Qualität liefern können.’» Unterschrieben war der Brief mit Roger E. Schärer, Herrliberg, der als PR-Mann agiert, aber vor wenigen Jahren beim GDI Senior Executive Advisor war. Was zeigt: (Fast) alle Migros-Kritiker berufen sich auf Dutti, und oft entstammen sie der Migros selber.

«Wie kann der Mensch statt des Frankens in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Denkens gestellt werden?» ­ Das war die Grundsatzfrage, die sich der Gründer stellte und die er als Leitfrage seinem GDI übergab. Am GDI fand später manche Sternstunde statt, man denke an die «Gefängnis»-Rede von Friedrich Dürrenmatt. Heute pilgern meist ganz normale Marketingleute hierher, um ihren Slang zu üben, sich Gedanken zu machen zum «Airport Shopping 2025» oder Fragen zu stellen wie: «Welche Food Nations liegen im Trend?»

Golfklub statt reine Lehre

Es ist also kein Wunder, dass die Dutti zitierenden Kritiker herziehen über «die Schaumschläger vom heutigen GDI», welche die kulturellen und sozialen Inhalte der Migros «zum gängigen Sponsoring umfunktioniert» hätten. So sagte es einer, der einst selber das GDI leitete: von 1964 bis 1979, als er entlassen wurde, weil er das GDI in eine linksgrüne Instanz verwandelt hatte ­ mit Themen wie: «Die tägliche Revolution: Möglichkeiten des alternativen Lebens in unserem Alltag». Hans A. Pestalozzi, so hiess der zornige Mann, der zuvor persönlicher Mitarbeiter von Duttweiler war und daher beanspruchen durfte, zu wissen, was die Migros war, ist und soll ­ und was nicht. Nach dem Rauswurf am GDI gründete Pestalozzi 1980 den «M-Frühling»: eine Bewegung, die gegen den «Migrosaurier» ankämpfte. «Die Migros gehört nicht ihren Managern», schrieb er, schliesslich habe Dutti seine Aktiengesellschaft verschenkt. «Jedermann soll wissen, wem die Migros wirklich gehört ­ bevor der Gigant uns in sämtlichen Lebensbereichen total vereinnahmt.»

So tönte es Ende der siebziger Jahre, als die Migros in jeder Beziehung minder war als heute: Die Ladenflächen waren kleiner, die Umsätze geringer, die Marktanteile bescheidener.»›

Politisch jedoch war jene Zeit aufgeladen. Gerade hatte die Migros ihre eigene Zeitung geschlossen: die Tat. Roger Schawinski hatte sie neu lanciert, als Boulevardzeitung, und diverse Skandale aufgedeckt. Vor dreissig Jahren bekam er den Job, und wenn er sich heute daran zurückerinnert, beruft sich Schawi ­ wen wundert’s ­ auf Dutti. «Wir seien zu reisserisch, zu aggressiv» gewesen, habe man ihm vorgeworfen. Dabei habe er doch nur «das Credo von Gottlieb Duttweiler als unser Leitmotiv» gewählt. «Wir würden die Konsumenten so gut als möglich informieren und schützen», habe er in sein Konzept geschrieben. «Bei der Präsentation nickten alle Migros-Oberen, doch bald zeigte es sich, dass sie sich als Mitglieder von Golfklubs und Establishment-Vereinen längst von der eigenen reinen Lehre entfernt hatten. Mein praktischer Rückgriff auf das von ihnen nie in Frage gestellte theoretische Gedankengut des Firmengründers traf sie Tag für Tag wie ein Hammerschlag.»

«An die Hausfrau, die rechnen muss!»

Derselbe Kanon seit je: Was die Migros inzwischen tue, sei nicht mehr im Sinne des Erfinders. Das «kurzfristige Gewinnstreben» der «Jungmanager», ereiferte sich neulich ein Leserbriefschreiber, sei wichtiger als «das Wohl des Kunden». Anlass für seinen Ärger war, dass die Migros in ihren Fitnesszentren das billige Senioren-Abo (gültig bis 17 Uhr) abgeschafft hatte. Oder die Cumulus-Karte: Migros-Kunden müssen in der Schlange zusehen, wie vorn ein Kunde seine Bons einlöst und damit einen Rabatt von einem Prozent realisiert. Lächerlich. Schon Dutti amüsierte sich über die «Rabatt-Märkli» der andern, denn er bot «Netto-Preise», die spürbar billiger waren: das Jogurt zu 15 statt 45 Rappen, das Schachtelkäsli zu 8 statt 12 Rappen.

So simpel wie banal war die M-Idee. Dutti studierte den Markt und schloss daraus: Ich verzichte auf Margen, dann sind meine Preise unschlagbar. Ich mache zwar weniger Gewinn ­ aber viel mehr Umsatz. Kein üblicher Detaillist wollte Dutti sein, sondern ein halber Grossist. Die französischen Wörter «demi» (halb) und «en gros» ergaben «Migros». Um den Plan umzusetzen, musste Dutti die Unkosten so tief wie möglich halten. Er beschränkte sich auf ein minimales Sortiment, sofortigen Umschlag, ohne teure Ladenmieten. Seine Lösung: die Migroswagen. Deren Fahrplan liess er in alle Briefkästen verteilen: «An die Hausfrau, die rechnen muss! An die intelligente Frau, die rechnen kann!»

Erst bot er nur sechs Produkte an: Zucker, Kaffee, Teigwaren, Reis, Kokosfett, Seife. Die Chauffeure kassierten sofort, was damals nicht selbstverständlich war, denn die Hausfrauen waren es gewohnt, beim Händler anschreiben zu lassen. Und damit es im Migroswagen möglichst schnell ging, erfand Dutti sein System «Gerade Preise ­ ungerade Gewichte». Drei Tage nachdem die ersten Verkaufswagen unterwegs waren, reagierten die Lieferanten: Der Verband Schweizerischer Teigwarenfabriken rief alle Mitglieder zum Boykott auf. Dutti erinnerte sich daran, was er gelernt hatte, und importierte. Bald verkauften seine Läden «ech-te Neapolitaner»-Spaghetti, während die Haferflocken aus Schottland stammten, unter der neuen Migros-Marke «Highland».

Ein paar Monate später begann Migros mit der Eigenproduktion. 1928 übernahm Dutti eine konkursreife Süssmostfabrik in Meilen. Sofort halbierte er den Preis von 65 Rappen auf 33 Rappen pro Flasche, womit es ihm gelang, den Umsatz innert fünf Jahren zu verfünfzigfachen. Aus dem Nischenprodukt wurde ein Volksgetränk, mit dem Dutti den Bierbrauern empfindlich Umsatz abluchste. Vor allem aber war die neue Marke «Süssmost» alkoholfrei ­ und damit gesund. Fast jedes Migros-Produkt sollte nicht nur billig sein, sondern auch gesund. Der Migros-Reis blieb «naturelle und unglasiert», die Bohnen waren «ungegrünt», das Olivenöl «naturrein».

Bei den Eigenmarken lehnte sich die Migros so nah wie möglich ans Original: «Amphora-Öl», nur einen Zungenschlag entfernt vom bekannten «Ambrosia-Öl». Aus dem «Kaffee Hag» wurde «Kaffee Zaun», und in den Inseraten ging Dutti auf die Markenartikelhersteller los: «Es ist alles wahr», stand da, «was die reklametreibende Konkurrenz über das Ovomaltine etc. schreibt: sie schreibt viel besser als wir. Sie hat auch das Geld, viel MEHR [Hervorhebung: Dutti] über alle Vorzüge dieser Trockenmalz-Präparate zu schreiben. Beherzigen Sie alles ­ aber wenn Sie die Franken zu schützen wissen und einen verwöhnten Gaumen haben, verzichten Sie auf illustre Namen und kaufen EIMALZIN à 2.10 (Verkaufspreis Fr. 2.50 mit 40 Rp. Retourgeld in der Büchse).»

Es kam zu Prozessen, die Duttweiler nicht alle gewann. Aber politisch wurde er immer populärer, geschäftlich immer erfolgreicher. Als Dutti 1931 in Bern wegen «unlauteren Wettbewerbs» zu 100 Franken Busse (plus 300 Franken Gerichtskosten) verurteilt wurde, weigerte er sich zu bezahlen. Schliesslich wandte er sich an die «Frauen» mit der Bitte, ihm per Post je 10 Rappen zu überweisen. Beinahe 5000 Bernerinnen füllten einen 10-Rappen-Einzahlungsschein aus ­ und Dutti überwies die 500 Franken an die Bernische Arbeitslosenfürsorge.

Das also war die Migros: ein Störenfried, angetreten gegen die Mächtigen von damals. Ein Aussenseiter, der den Marktherrschern die Suppe versalzte. Ein klassischer Discounter.

Bald wurden die Läden grösser: 1948 öffnete der erste Selbstbedienungsladen in Zürich, 1952 der erste MM (Migros-Markt) in Basel mit einer Verkaufsfläche von 450 Quadratmetern. Der erste Riesenmarkt MMM öffnete kurz nach Duttis Tod in St. Gallen mit einer Verkaufsfläche von über 7000 Quadratmetern.

1935, mitten in der Wirtschaftskrise, als die Hotelbetten kaum mehr belegt waren, kreierte er den «Hotelplan», von Dutti flapsig als «Hopla» abgekürzt. Das Motto auch hier: tiefere Preise, höhere Auslastung. Und 1944, mitten im Krieg, gründete er die «Klubschule». Seither gibt es Bildung für alle zu bezahlbaren Preisen. 1950 beteiligte sich die Migros an der Ex Libris. Gute Bücher sollten sich wie Gemüse verkaufen. Das nahm die Migros anfänglich wörtlich und verkaufte die Lektüre neben Sellerie und Konfi. Auch den Weg der Migros zum Vollversorger fürs ganze Leben hat ihr Gründer aufgezeigt.

Nach seinem Tod wuchs die Migros weiter zur Gärtnerei, zur Bank, zur Mineralölgesellschaft. Vom M-Budget-Snowboard bis zur Kreditkarte ­ die Migros hat’s. «Bananen wurden von uns popularisiert», erzählt einer der Nachfolger, der frühere Migros-Chef Jules Kyburz. «Als ich ein Bub war, gab es Bananen höchstens an Weihnachten. Dann kam das Poulet. Oder die Ananas ­ das war ein Luxus, bis die Migros kam und das Stück für zwei Franken fünfzig verkaufte. Dann der Lachs, das Tennisspielen und jetzt eben Golf.» Auf dem Migros-Golfpark in Holzhäusern kämpften diesen Frühling sechzig Golfer um die erste «M-Budget-Trophy», Preisgeld: 100000 Cumulus-Punkte (1000 Franken).

Was würde Dutti dazu sagen? «Ich bin so sicher, dass Duttweiler recht hatte: einfach bleiben, immer der Billigste sein, alles unter einem Dach. Das war Duttweiler, und dann sehr streng mit Qualität und Preis»: So sah es Pierre Arnold, Duttis erster Nachfolger. Doch nachdem er selber zurückgetreten war, sah Arnold nur noch schwarz. «Ich hatte Probleme mit den Leuten, die nach mir kamen», sagte er im Jahr 2000 zur Kulturzeitschrift Du. «Es heisst: Duttweiler hätte es heute auch anders gemacht. Ich sage: Nein ­ die andern machen’s jetzt wie Duttweiler, im In- und Ausland.» Keck ergänzte Arnold: Würde Dutti noch leben, er würde eine neue Migros gründen, um der bestehenden den Kampf anzusagen. Dies vollbrachte Karl Schweri, die zweite grosse Handelsnatur der Schweiz, die Denner schuf, ebenfalls einen klassischen Discounter, der bis vor kurzem eine ­ wenn auch kleine ­ «dritte Kraft» im Detailhandel darstellte. Nun geht diese an die Migros.

«Polterer», «Populist», «Volkstribun»

«Ich gebe gerne zu, dass ich den Lebensmittelhandel nur deshalb revolutionieren konnte, weil ich einen gescheiten Partner fand: die Schweizer Hausfrau», sagte Dutti. Zugleich zog er gegen rechts wie links los, so gegen den Sozialdemokraten Robert Grimm, den er als «Prototyp des opportunistischen Lakaien der Wirtschaftsverbände und Trusts» ansah. «Das Wort vom gerechten Preis ist im Volk viel bekannt. Es stammt aus der Bibel. Jetzt wird es meistens gebraucht, um ziemlich hohe Preise zu rechtfertigen.» Dutti konnte aufbrausen, sackgrob sein. Als er sich einmal darüber aufregte, wie ein Vorstoss, den er als Nationalrat eingereicht hatte, verschleppt wurde, warf er zwei Steine in die Scheiben des Bundeshauses. Er galt als «Populist», «Volkstribun», «Polterer», «Demagoge», «Führer», «Patriot». Kurz: Unternehmer und Politiker Dutti war eine Art Christoph Blocher, überzeugt von sich und davon, das Volk von seinen Ideen überzeugen zu müssen. Politisch freilich hätten die beiden das Heu kaum auf derselben Bühne gehabt, Dutti verstand sich stets als «Internationalist», und immer wollte er zuerst die Konsumenten schützen, nie die Konzerne.

Gegen Ende seines Lebens kam er ins Zweifeln. Zu sehen ist das jetzt im Film «Dutti der Riese». Autor Martin Witz stiess auf alte Tonaufnahmen, Selbstgespräche aus den letzten Jahren vor seinem Tod 1962. Da klagt er über «diese fürchterliche Lethargie mit dieser Superkonjunktur», die alles «in Watte» lege. Er spricht gar von einer «Abfütterung der Menge» und folgert: «Dies alles muss überwunden werden.» Auch in Duttis Schriften wird deutlich, dass es ihm ob des M-Wachstums mulmig wurde. Bereits 1946 warnte er: «In einem kleinen und durch und durch demokratischen Land wie der Schweiz könnte das Volk eine mächtige und sich ausdehnende Organisation, wie es die Migros ist, nicht dulden, wenn diese nicht Tag für Tag auf praktische Art den Beweis leisten würde, dass sie ihre hohen sozialen Verantwortungen kennt.»

Zum Beispiel wurde die Migros zur nachhaltigsten Philanthropin im Land. Mit dem «Kulturprozent», gegründet vor fünfzig Jahren, setzte Dutti eine Entwicklung in Gang, die nie enden wird. Und das «soziale Kapital», von Dutti erfunden, lebt: Die Migros bemüht sich um ökologische Standards und akzeptable Tierhaltung, sie zahlt nicht mehr tiefste Löhne unter 3000 Franken. In einem besonderen Marktsegment kehrt die Migros sogar zurück zur Dutti-Regel, wonach man aufsehenerregend billiger sein muss als alle andern. Seit dem Fall der Buchpreisbindung bringt Ex Libris alle Bücher mit 15 Prozent Rabatt unters Volk, die Bestseller mit 30 Prozent. Dies ist, entgegen der reflexartigen Proteste des Kultur-Establishments, kulturverträglich. Denn die Verlage erhalten keinen Rappen weniger, Ex Libris ist billiger, weil es dank des Internethandels einige Kosten einsparen kann.

«Ich bin überzeugt», schrieb Herbert Bolliger, der aktuelle Migros-Chef, in der Weihnachtsausgabe des Migros-Magazins: «Gottlieb Duttweiler hätte an der erfolgreichen Migros von heute seine wahre Freude.»

Sicher ist nur eines: Würde Dutti noch leben, er käme aus dem Staunen nicht heraus. Seine Migros war so erfolgreich, dass die Verhältnisse gedreht haben. Heute ist es nicht mehr so, dass die Markenartikler die Migros boykottieren. Heute fürchten die Markenartikler, dass sie von der Migros samt Coop boykottiert werden. Und dass eine Ovomaltine dann auf dem Schweizer Markt gar nicht mehr präsent wäre ­ weil es neben Migros und Coop keine starke dritte und vierte Kraft mehr gibt, die Ovomaltine anbieten könnte. Was die Schweiz heute braucht, ist ein neuer Dutti, auch wenn dieser Aldi heisst.

«Dutti der Riese», ein Film von Martin Witz,ab 20. September in den Kinos

Gottlieb Duttweiler: Überzeugungen und Einfälle.Ex Libris, 1962

Katja Girschik u.a.: Der Migros-Kosmos.Verlag hier + jetzt, 2003

Karl Lüond: Gottlieb Duttweiler. Vereinfür wirtschaftshistorische Studien, Meilen, 2000

Christian Lutz: Der Brückenbauer. Edition M, 1988

Hans A. Pestalozzi: M-Frühling. Vom Migrosaurier zum menschlichen Mass. Zytglogge, 1980

Curt Riess: Gottlieb Duttweiler, eine Biographie. Ex Libris, 1965

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