«Mein Trip zurück ins Diesseits»

30.04.2009, Schweizer Familie

Nach einer Herzoperation, zwei Hirnschlägen, fünf Wochen künstlichem Tiefschlaf erlebe ich ein Wunder. Das Wunder besteht darin, dass ich aufwache. Immer wieder von Neuem. Seit August 2007 bin ich auf vier Intensivstationen in drei Schweizer Spitälern erwacht.Das erste Mal bin ich sogar vorbereitet. Nach der Einpflanzung einer neuen Klappe im offenen Herz erwacht jeder Patient auf einer Intensivstation. Ich befinde mich im Universitätsspital Zürich, bekomme Morphium, fühle mich nicht gerade high, aber auch nicht besonders mies.Das nächste Mal erwache ich auf der Intensivstation im Kantonsspital Chur. Warum ich in Chur gestrandet bin, kann ich nicht begreifen. Ich habe die Orientierung auch sonst verloren. Zum Beispiel habe ich die Herzoperation vergessen, die eine Woche zuvor stattgefunden hat. Als ich immer wieder nach den Namen meiner beiden Kinder gefragt werde, erschrecke ich. Dass man die Namen seiner eigenen Kinder vergessen kann, so etwas vergisst man nicht so schnell.Nach ein paar Nächten sehe ich gemäss eigener Einschätzung wieder klar. Laut den Ärzten habe ich ein kleines Gerinnsel im Hirn erlitten. Ein Schlegli, wie es auf Schweizer Mundart heisst und wie es nach einer Herzoperation häufig vorkommt. Doch eines Morgens in aller Frühe – ich befinde mich noch immer im Kantonsspital Chur – erwache ich vor Schmerz. Kopfweh habe ich, unverschämtes Kopfweh. Ich werde in einen Rega-Helikopter geladen. Von da an weiss ich nichts mehr.

Fünf Wochen lang im künstlichen Koma

Das unverschämte Kopfweh entpuppt sich als eine Hirnblutung. Eine Riesenblutung. Praktisch die ganze rechte Hirnhälfte ist überschwemmt. So schnell wie möglich öffnen die Hirnchirurgen am Universitätsspital Zürich meinen Schädel, um das viele Blut abzusaugen. Ob und wie gut die Operation gelingt, weiss niemand. Die Ärzte skizzieren gegenüber meiner Frau nur die groben Szenarien: Ich könnte halbseitig gelähmt sein, im ganzen Körper links von oben bis unten. Ich könnte meine Persönlichkeit verlieren, zum brutalen Grobian werden, der alle Hemmungen verliert. Sehr wahrscheinlich sei das Sehzentrum betroffen, während das Sprachzentrum noch intakt sein könnte.

Ich werde ins künstliche Koma versetzt. Fünf Wochen lang herrscht völlige Ungewissheit. An dicken Schläuchen hänge ich, an dünnen Schläuchen, an Sonden, am Beatmungsapparat, an Drainagen, an Kabeln, die zu Monitoren führen, aus denen es piepst, sobald ein kritischer Wert überschritten wird. Ein Infusionsständer, den meine Pfleger fröhlich «Weihnachtsbaum» nennen, spendet mir ständig mehr als zehn Medikamente. Dreimal täglich putzt man meine Zähne, obwohl ich keinen Bissen in den Mund bekomme. Alle zwei Stunden, tags und nachts, dreht man mich in eine neue Position, damit ich keine Wunden fasse vom langen Liegen. Täglich rasiert man mich. Der Coiffeur muss nicht vorbeikommen, das hat der Hirnchirurg besorgt: Kahlschnitt. Alle fünf Tage schneidet man meine Fingernägel.

Ich liege da. Spüre nichts, höre nichts, rieche nichts, fühle nichts. Nichts. Ich liege einfach nur da.

Das Herz, das Grimassen macht

Fünf Wochen später bin ich, wie die Ärzte in ihrem schriftlichen Bericht festhalten, «aufweckfähig». Bald bin ich sogar ansprechbar und merke immerhin, wie sehr sich meine Frau und meine Kinder freuen, wie erleichtert alle sind. Ich höre einen Applaus, der von den Männern in Weiss kommt, die um mein Bett zirkulieren.

Unter Nashörnern lebe ich auf einer Basler Rheinfähre. Dann sitze ich in einem Flugzeug neben einem Tiger aus Vanilleglace, garniert mit frischer Ananas. Wir fliegen Richtung Sumatra. Vor meinem Auge taucht ein Grimassenherz auf. Was das sei, werde ich gefragt. Für mich ist das nichts Besonderes, einfach ein Herz, das Grimassen macht.

Meine Frau sitzt da, die ich als meine Frau erkenne. Meine Buben sind da, deren Namen mir wieder präsent sind. Ich weiss sogar, wo ich herkomme. Direkt vom ominösen Kantonsspital Chur, hergeflogen mit einem Rettungshelikopter.

Der erste Satz, den meine Frau zu hören bekommt, klingt noch düster: «Ich habe einfach das Gefühl … zu viel Gewalt.» Dann reise ich hin und her zwischen Traum und Schlaf, Schlaf und Wirklichkeit, Hirn und Herz, Nashörnern und dem Vanille-Eistiger. Meine Familie ist da, Freunde kreuzen auf. Ich berichte, was ich erlebe, die Leute reagieren auf das, was ich berichte, und anschliessend vermischt sich alles mit allem. Zehn Tage dauert das Aufwachen aus dem fünfwöchigen Koma, und diese zehn Tage erlebe ich wie im Drogenrausch: Es ist mein Trip zurück ins Diesseits.

Ein 47 Jahre altes Riesenbaby

Je mehr man mir von meiner Krankengeschichte erzählt, umso euphorischer werde ich. Meiner Frau schlage ich vor: «Komm, lass uns gehen, wir waren jetzt lange genug da.» Wäre ich in der Lage, meinen Zustand einigermassen einzuschätzen, käme ich kaum auf die Idee, aus der Neurochirurgischen Intensiv- und Überwachungsstation im Universitätsspital Zürich abzuhauen. Meine Beine sind abgemagert, meine Arme knochig, alle Muskeln verschwunden, was völlig normal ist nach einem so langen Koma. Doch ich sehe mich selber nicht. Mit Kissen werde ich gestützt, damit ich sitzen kann. Mit einer Binde wird mein Kopf hinten an der Lehne festgemacht, sonst würde ich wie ein Säugling nach vorn einknicken. Nach wie vor 1,85 Meter lang bin ich, aber nur noch 68 Kilo leicht und weich wie Gummi. Ein Riesenbaby, 47 Jahre alt.

Ich werde in eine Reha-Klinik verlegt. Im Rollstuhl sitzend wird mir langsam klar, was passiert ist – was alles hätte passieren können. Und ich erfahre allmählich, was ich neu lernen muss: alles von vorn. Zuerst das Schlucken. Dann das Sehen. Denn was sich links von mir befindet, entgeht mir. Sitze ich vor einem Tablett mit dem Essen, lasse ich das Dessert stehen. Es ist zum Verrücktwerden. Erst wenn die Pflegerin mit dem Finger auf die Schale links zeigt, sehe ich sie, vorher nicht.

Etwas Ähnliches geschieht, wenn ich das Brot mit Erdbeerkonfitüre bestreichen will. Da wird nur die rechte Seite der Scheibe rot, die linke dagegen bleibt weissgelb wie Butter.

Und erst das Lesen! «Das ABC ist doch kein Problem für mich», behaupte ich zunächst. Doch sobald fünf oder nur vier Buchstaben hintereinandergereiht sind, kann ich dieses Bild nicht mehr als Wort erfassen. Und als mir das gelingt, verschiebt sich das Problem zu den Sätzen. Kein einziger Satz ergibt einen Sinn.

Eine Therapeutin fordert mich auf, diese Sätze vorzulesen. Dann zeigt sie auf Wörter, die ich zuvor gar nicht gesehen habe. Es ist verflixt. Jetzt, da die Therapeutin mit ihrem Finger daraufzeigt, sehe ich sie. Diese Wörter stehen alle links. Und die Sätze bekommen ihren Sinn.

Ich erhalte eine blaue Schablone aus Plastik, die meine Therapeutin «Lesehilfe» nennt. Mit dieser Schablone solle ich den Text abdecken. Dann dürfe ich die oberste Zeile, nur die oberste, aufdecken, um links, wirklich ganz links aussen mit Lesen zu beginnen. Im nächsten Schritt dürfe ich mit der Schablone nach unten rücken, bis die zweitoberste Zeile erscheint. Ich müsse keine Angst, sondern nur etwas Geduld haben. Dank dieser Technik werde ich bald wieder lesen können. Wort für Wort, Zeile für Zeile.

Es hat funktioniert. Die moderne Medizin hat nicht nur in der Herz- und der Hirnchirurgie gewaltige Fortschritte erzielt, sondern auch in der Rehabilitation. Heute jogge ich auf der Finnenbahn, lese Zeitung, löse Sudoku, gehe ins Fitnessstudio. Das Gefühl für Zahlen ist noch nicht voll zurückgekehrt, aber der Umgang mit Worten klappt immer besser.

Das Letzte, was ich noch lernen muss, ist die richtige Selbsteinschätzung. Es dauerte einige Zeit, bis ich überhaupt erkannte, was ein «Hirnschaden» ist. Denn ich bin mehr als nur verlangsamt. Ich werde müde, raste gelegentlich aus oder schnappe ein. Ich kann mich weniger konzentrieren als früher. Ich übersehe nicht nur, was links von mir ist. Alles ist eingeschränkt, alles ein bisschen – bis zum logischen Denken.

Aber ich übe weiter und lebe so diszipliniert wie noch nie. Am Morgen steige ich vor acht aus dem Bett, stelle mich auf die Gymnastikmatte und beginne mit ersten Balanceakten. Ich lege mich quer auf den Gymnastikball, um gezielt jene Positionen zu suchen, dank denen ich meinen ständigen Begleiter – den Schwindel – eines Tages überlisten werde. Darauf folgen Liegestützen, Bauchpressen, das ganze Programm. Meine Waden und Oberarme sehen aus wie früher. Ich schlafe viel. Und ich spaziere viel, seit ich zu Hause bin, täglich mindestens zweimal rund um den Friedhof.

«Ich habe viel Glück gehabt», sagte ich neulich zu meinem Kardiologen, der mir die Herzoperation empfohlen hatte. Seine Antwort: «Am Ende schon. Aber am Anfang haben Sie Pech gehabt.»

Journalist und Verleger

Markus Schneider, geboren 1960, ist verheiratet, wohnt in Zürich und hat zwei Kinder im Alter von 14 und 16 Jahren. Er war früher «Weltwoche»-Autor und «Bilanz»-Kolumnist. Im Februar 2007 gründete er zusammen mit den beiden Art-Direktoren Wendelin Hess und Beat Müller den Echtzeit-Verlag in Basel. Seit August 2007 ist er aus medizinischen Gründen arbeitsunfähig. Aber nicht mehr lange. Zurzeit absolviert er auf der Redaktion der Schweizer Familie ein Arbeitstraining, bezahlt von der IV unter dem Motto «Integration vor Rente».

Übersicht