«Es war der beste Kartoffelsalat meines Lebens»

29.04.2009, Tages-Anzeiger
Herzoperation, Hirnblutung, Koma, harziger Neustart. Der preisgekrönte Journalist Markus Schneider schildert mit Humor, wie er wieder lesen und leben lernte – ein Buchauszug. 29.04.2009, Tages-Anzeiger
Von Markus SchneiderWo ich sei? Inzwischen war ich auf solche Fragen vorbereitet, darum antwortete ich prompt, beflissen, ja stolz, dass ich mich in Baden im Kanton Aargau aufhalte, im Kantonsspital. Welchen Tag wir hatten, wusste ich noch immer nicht. Immerhin erkannte ich die Jahreszeit, nachdem mich der Arzt aufgefordert hatte, ich solle einfach versuchen, aus dem Fenster hinauszuschauen und dabei auf das Laub der Bäume achten. Herbst wars, Oktober.Christa, meine Frau, legte mir eine Zeitschrift vor, in der mein letzter Artikel erschienen war: über «Dutti», Gottlieb Duttweiler, den Migros-Gründer. Diesen Text hatte ich kurz vor der Herzoperation abgeliefert, so viel war mir klar. Offenbar war er gedruckt worden, als ich im Koma lag. Doch das interessierte mich jetzt überhaupt nicht. Ich schob die Zeitschrift zur Seite. Dann stellte ich um auf stur: Dass ich das Lesen verlernt haben könnte? Unmöglich!Tatsächlich erkannte ich jeden einzelnen Buchstaben fast wie früher. Das grosse und kleine Abc, kein Problem – solange ich jeden Buchstaben einzeln lesen durfte. Waren hingegen nur schon vier Buchstaben hintereinandergereiht, konnte ich dieses Bild nicht als Wort erfassen.Und als es mir gelang, solche Bilder zu erkennen und erste kurze Wörter zu entziffern, verschob sich das Problem zu den Sätzen. Alle Sätze, selbst wenn sie aus kurzen Wörtern bestanden, ergaben keinen Sinn. Ruhig forderte mich die Therapeutin auf, ihr diese Sätze einmal laut vorzulesen. Dann zeigte sie mit ihrem Finger auf Wörter, die ich gar nicht gesehen hatte. Es war verflixt. Jetzt, da die Therapeutin auf sie zeigte, sah ich sie, klar und deutlich.

Zum Schluss zeigte mir die Therapeutin, welche Wörter ich selber sah und welche ich erst auf den zweiten Blick entdeckte – nachdem sie auf diese gezeigt hatte. Die Letzteren standen allesamt links auf der Seite.

Die Therapeutin überreichte mir eine Schablone aus Plastik. Mit ihr solle ich von nun an einen Text, den ich lesen wolle, abdecken. In einem ersten Schritt dürfe ich dann die oberste Zeile, nur die oberste, aufdecken. Anschliessend solle ich diese oberste Zeile lesen, von links bis rechts. Dabei müsse ich achtgeben, dass ich wirklich ganz links aussen beginne. Im nächsten Schritt dürfe ich mit der Schablone nach unten rücken, langsam, bis die zweitoberste Zeile erscheine. Ich müsse keine Angst, sondern nur etwas Geduld haben. So werde ich bald wieder lesen können.

Plötzlich stand eine Gestalt aus einer andern Zeit vor mir: Genosse Sassezki. Ein russischer Soldat, der 1943 im Krieg von Granatsplittern getroffen wurde. Seine linke Gehirnhälfte war zerstört. Seine Sprache, sein Denken, alles weg. Sassezki kam sich vor «wie ein seltsames Kind oder wie jemand, der verhext war oder sich in einem grauenhaften Traum verloren hat».

Trotzdem schrieb und schrieb er. Sein Arzt sah, dass Sassezki «jedes Wort, an das er sich zu erinnern, jeder Satz, den er zu bilden, jeder Gedanke, den er zu fassen versuchte, quälende Anstrengungen abverlangte». Wenn es gut lief, schaffte Sassezki höchstens zwei Seiten pro Tag; danach fühlte er sich völlig erschöpft. Wollte er seine Axt holen, um Holz zu spalten, ging er zum Schopf. Als er im Schopf ankam, hatte er vergessen, was er holen wollte. Schreiben war seine Verbindung mit dem Leben. Ein Vierteljahrhundert ging vorüber, doch am Ende hatte er durch das Schreiben das Lesen wieder gelernt.

Sein Arzt, der Neurologe Alexander R. Lurija, der spätere Begründer der Neuropsychologie, hat Sassezkis Tagebuch unter dem Titel «Der Mann, dessen Welt in Scherben ging» veröffentlicht. Ein Stück Weltliteratur, fand ich damals, als ich das Buch gelesen und manchen Freunden empfohlen hatte.

Bei Sassezki war die linke Gehirnhälfte verletzt, bei mir die rechte. Die daraus folgenden Sehstörungen verlaufen in entgegengesetzter Richtung.

Als in meinem Spitalzimmer in Baden das Telefon läutete, wollte ich wissen, wo zum Teufel das Telefon versteckt sei. Immer am selben Ort, neben dem Bett, fix montiert, erklärte Christa. Es war verrückt – jetzt, als sie darauf zeigte, sah ich es. Das Bett stand tatsächlich direkt vor mir. Und links daneben, fix montiert, das Telefon. Dabei war ich mir zu hundert Prozent sicher: Vorhin stand kein Bett da.

Trotz solcher Zwischenfälle legte ich eine frappante Nonchalance an den Tag. Ich wisse nicht, was alle Leute an mir herumzunörgeln hätten: Ich sehe doch gut!

Ich war tatsächlich kein Sassezki. Bei mir war es exakt halb so schlimm. Bei mir ist die Hälfte der Hälfte des Gesichtsfeldes weg: der Quadrant unten links. Dasselbe beim Gedächtnis: im Vergleich zu Sassezki alles halb so schlimm. Bei mir fiel nur das Kurzzeitgedächtnis aus. Sagte mir Christa, sie könne mich am nächsten Tag ausnahmsweise erst gegen Abend besuchen kommen, erkundigte ich mich am nächsten Mittag bei allen Pflegern, wo sie stecke.

Alles andere hingegen, was weiter zurücklag, blieb mir allgegenwärtig. Ich hätte den PIN-Code meines Natels bewältigt. Ich hätte den Code meiner EC-Karte präsent gehabt, wenn ich in der Lage gewesen wäre, einen Bancomaten zu erkennen und mich vor einen solchen zu stellen. Ich verstand Englisch. Auf Deutsch konnte ich mich, wie sich Mediziner ausdrücken, «adäquat» unterhalten. Zwar brauchte ich vielleicht drei, vier, fünf Sekunden, bis mir jeweils eine passende Antwort, eine Pointe einfiel, doch das waren aus meiner Sicht «Kunstpausen», die auch manche Gesunde einschalten könnten.

Die Ergotherapeutin klärte mich auf, was ich bei ihr alles zu erwarten hatte. Zuallererst kam die Aufnahme der Nahrung. Auf militärische Art diktierte sie, wie ich den Tee zu trinken hatte: Schlucken. Schlucken. Schlucken. Nachdem mir dieser Vorgang am Exempel Tee gelungen war, durfte ich eine Bouillonsuppe löffeln und später mit Kartoffelstock probieren.

Überraschend schnell folgte darauf der ganz grosse Moment. Die Pfleger machten sich an das, was sie eine «Befreiungsaktion» nannten. Schläuche, Infusionen, Katheter – alles weg, alles auf einen Schlag. Christa traute ihren Augen nicht, als sie mich gegen Mittag besuchen kam.

Später stellte sich heraus, dass ich nicht essen wollte. Keinen Appetit hatte ich. Denn alles, was ich in den Mund bekam, schmeckte nicht etwa nach nichts. Ob Brot, Teigwaren, Reis oder frische Himbeeren: Alles schmeckte nach Karton. Keinen Bissen brachte ich herunter. Dann lockte die Therapeutin mit Süsse. Zucker sei der intensivste Geschmacksverstärker überhaupt. Mit vereinten Kräften wurde ich zur Erdbeerkonfitüre überredet, die ich immer so geliebt hatte. Als ich widerwillig das Brot bestrich, geschah etwas Seltsames: Nur die rechte Seite der Scheibe wurde rot, die linke blieb weissgelb wie Butter. Das fanden meine Söhne ziemlich lustig.

Warum ich das Dessert nicht esse, fragte mich Christa. Wo hier ein Dessert sei, fragte ich zurück. Es war schon wieder zum Verrücktwerden: Sobald Christa mit ihrem Finger auf die Schale links zeigte, sah ich sie. Der Arzt zuckte nur die Schultern. Einerseits hätte ich eben das linke Gesichtsfeld verloren und andererseits den Geschmackssinn. Aber das mit dem Geschmackssinn sei vermutlich nur eine Nebenwirkung des Antiepileptikums. Er werde das Luminal absetzen und die Dosis von Keppra erhöhen. In der Tat: Innert Kürze schmeckten die frischen Himbeeren nach frischen Himbeeren. Köstlich! Zum Abendessen servierte man mir einen Kartoffelsalat, den ich für den besten Kartoffelsalat meines Lebens hielt.

Und dann erst das Natel! Endlich brachte mir Christa das Natel. Tief sass der Schock, als ich realisierte, dass ich nicht mehr fähig war, ein SMS zu schreiben. Ebenso schlimm kam es heraus, wenn ich eine Telefonnummer eintippen wollte. Zu meinem Glück erinnerte ich mich, dass ich die gewünschten Nummern in der Liste der gespeicherten suchen und anklicken könnte. Tatsächlich nahm jetzt am andern Ende des Netzes ein Kollege das Telefon ab, nur war es nicht unbedingt der, den ich anrufen wollte. Als ich die Combox abhören wollte, landete ich statt beim Buchstaben C wie Combox bei B wie Brigitte, dann bei A wie Aendu.

Mit Aendu plauderte ich über meine letzten Stationen: Universitätsspital Zürich, Reha-Klinik Seewis, Kantonsspital Chur, Universitätsspital Zürich, Kantonsspital Baden. Ich solle einmal einen Schweizer Spitalführer herausgeben, empfahl mir Aendu, mit einem Kapitel zur Spitalküche, einem Kapitel zum Therapieangebot und so weiter. So ein Buch habe doch das Potenzial zum Bestseller.

«Grimassenherz»: Von einem heiklen Lebensabschnitt

Der gekürzte Buchauszug auf dieser Seite spielt im Oktober 2007 im Kantonsspital Baden. In dessen Reha-Abteilung wird Markus Schneider verlegt, nachdem er einige Tage zuvor im Zürcher Uni-Spital aus dem Koma erwacht ist.

Dabei hat die Geschichte als Routine-Operation begonnen: Schneider geht am 6. August 2007 gefasst ins Spital. Eine Aortenklappenkorrektur steht an. Ein Standard-Herzeingriff. Doch er gehört zu den ein, zwei Prozent Menschen, bei denen eine Komplikation eintritt. Es kommt nämlich zu einer dramatischen Hirnblutung und einem epileptischen Anfall.

Schneider wird ins künstliche Koma versetzt. Angehörige und Freunde bangen. Fünf Wochen später erwacht er. Unklar vorerst, wie sehr sein Gehirn gelitten hat. Es ist eine schöne Fortsetzung der Geschichte, dass der mehrfach ausgezeichnete Wirtschaftsjournalist und Buchautor in Zürich einen Gutteil seines alten Lebens zurückerhalten hat. Mit den gesundheitlichen Folgen kämpft er nach wie vor. Doch gleichzeitig probt er den beruflichen Wiedereinstieg als Produzent bei der «Schweizer Familie». Als Persönlichkeit, als Ehemann und zweifacher Vater ist er längst wieder da.

Seine Erlebnisse hat Markus Schneider, 49, in seinem Buch «Grimassenherz» verarbeitet, das die Geschichte vom Anfang bis zu ihrem vorläufigen Schluss erzählt. Nicht um eine distanzlose Moritat handelt es sich, sondern vielmehr um einen mit Witz geschriebenen, hoffnungsgetränkten Bericht über einen heiklen Lebensabschnitt. (TA)

«Grimassenherz» ist ab sofort im Echtzeit-Verlag erhältlich. Sonderangebot: Auf www.echtzeit.ch/tagesanzeiger gibt es das Buch porto- und spesenfrei für 25 statt 28 Franken.

Copyright: 2009, Echtzeit-Verlag, www.echtzeit.ch

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