Bin ich ein Spital-Schmarotzer?

250 000 Franken haben Operationen und Therapie bisher gekostet. Darf dem Schweizer Gesundheitswesen das Überleben eines Einzelnen wirklich so viel wert sein?
Ein Patient zieht Bilanz. 06.09.2009, NZZ am Sonntag

Damit prahlt niemand gern herum, aber ich schreib es jetzt trotzdem in die Zeitung: Ich habe Gesundheitskosten von 109 400 Franken verursacht. Ich allein im Laufe eines einzigen Jahrs. So hat mir das meine Krankenkasse für 2007 bescheinigt.Von persönlicher Warte würde ich die Ereignisse in jenem Jahr nicht beziffern. Vor allem empfinde ich das Total in Franken nicht als «hoch». In meinem Fall ist die Krankenkasse sogar günstig davongekommen. Schliesslich habe ich für diesen sechsstelligen Betrag eine Menge erhalten.Zuerst haben die Chirurgen eine künstliche Aortenklappe aus Titan in mein Herz eingesetzt, ein Hightech-Ding, das lebenslänglich hält. Gleichzeitig haben sie mir den oberen Teil der Aorta, also meiner Hauptschlagader, durch einen Goretex-Schlauch ersetzt, der garantiert lebenslänglich hält. Nach dieser Herzoperation erlitt ich zwei Hirnschläge.Mein Schädel konnte zum Glück sofort geöffnet werden. Beim Aufwachen brachen hingegen epileptische Krämpfe aus, so dass ich ins Koma versetzt werden musste – und zwar wochenlang. Während dieser Wochen wurde ich so intensiv behandelt, wie es heute technisch und praktisch möglich ist. Oder, wie es manchmal vorwurfsvoll heisst: Mein natürliches Leben wurde künstlich verlängert.

Schläuche, Sonden, Kabel

An dicken Schläuchen hing ich, an dünnen Schläuchen, an Sonden, am Beatmungsapparat, an Drainagen, an Kabeln, die zu Monitoren führen, aus denen es piepst, sobald ein kritischer Wert überschritten wird. Minuziös wie Buchhalter führte das Fachpersonal Flüssigkeitsbilanz: Wie viel künstliche Nahrung in meinen Körper reinging, wie viel raus, säuberlich in Säckchen entsorgt.

Ein Infusionsständer, den meine Pfleger fröhlich «Weihnachtsbaum» nannten, spendete ständig ein Dutzend Medikamente. Dreimal täglich putzte man meine Zähne, obwohl ich keinen Bissen in den Mund bekam. Alle zwei Stunden, tags und nachts, drehten mich Physiotherapeuten in eine neue Position, damit ich keine Wunden bekam vom Liegen. Täglich rasierte man mich. Der Coiffeur musste nicht vorbeikommen, das hatte der Hirnchirurg besorgt: Kahlschnitt. Alle fünf Tage schnitt man meine Fingernägel.

Ich lag. Spürte nichts, hörte nichts, roch nichts, fühle nichts. Nichts. Ich lag einfach nur da. Es herrschte, wie die «Weltwoche» kürzlich in einem Kommentar getitelt hat, «Sozialismus live». Die Rechnung nämlich hat meine Krankenkasse bezahlt. Ziemlich genau 85 400 Franken kostete dieser Aufenthalt in der neurochirurgischen Intensiv- und Überwachungsstation im Universitätsspital Zürich, der vom 25. August 2007 bis zum 12. Oktober 2007 dauerte. Rechne: 85 400 Franken geteilt durch achtundvierzig Tage = 1780 Franken pro Nacht!

Ist das teuer? Bitte sehr: Eine grosse Suite im Zürcher Grand-Hotel Dolder schlägt doppelt so stark zu Buche, obschon man dort nur schläft, ohne dass Chirurgen, Ärzte, Intensiv-Pfleger und Therapeuten etwas zu schaffen haben. Das tönt nach einem Äpfel-mit-Birnen-Vergleich, aber dahinter steckt politische Brisanz. Schweizer Spitäler verrechnen keine Vollkosten. Sie bieten uns Patienten eine personal- und kapitalintensive Spitzenmedizin an, die «halb gratis» ist. Effektiv verrechnen sie den Krankenkassen nur die Hälfte der stationären Kosten. Die zweite Hälfte wird vom Kanton und von der Gemeinde subventioniert. Konkret wiegen die staatlichen Subventionen umso stärker, je personalintensiver die Behandlung ist.

So wie es bei mir eindeutig der Fall war. Nachdem ich alles überstanden hatte, besuchte ich die neurochirurgische Intensiv- und Überwachungsstation, in der ich achtundvierzig Tage und achtundvierzig Nächte durchgeschlafen hatte. Ärzte kamen auf mich zu, Chirurgen, Pflegerinnen und Pfleger, Therapeuten, alle schüttelten mir die Hand. Alle kannten mich, alle freuten sich. Ein wandelndes Produkt der Spitzenmedizin war ich, wie es auf dieser Station nicht alle Tage auftaucht; aber manchmal eben schon. Ich stand da, kannte niemanden, und vor allem stand ich noch tattrig auf meinen damals dünnen Beinen, bis mir schwindlig wurde. Auf einem Stuhl sitzend nahm ich halbwegs wahr, wie viel Betrieb hier herrscht.

Als ich nach dem langen Koma in erfreulich gutem Zustand aufwachte, ging’s für drei Wochen in eine neurologische Früh-Rehabilitation im Kantonsspital Baden und zum Abschluss für zwei Monate in die Rehaklinik nach Bad Zurzach. Dort halfen mir Therapeutinnen und Therapeuten buchstäblich auf die Beine und brachten mich wieder zu Sinnen. Ich erhielt Massagen, Heublumenwickel, Thermalbäder – «all inclusive» für 109 400 Franken vom August 2007 bis zum Dezember 2007. Ich war weder privat noch halbprivat versichert. Schritt für Schritt, mit und ohne Bewusstsein erlebte ich, was heute im Schweizer Gesundheitswesen Standard und Brauch ist. Alle Leistungen gehörten zum Katalog der Grundversorgung samt den Mahlzeiten, die oft besser schmecken als ihr Ruf. Selber bezahlt habe ich 1000 Franken: die minimale Franchise von 300 Franken plus den maximalen Selbstbehalt von 700 Franken.

Bin ich deswegen ein Spital-Schmarotzer? Ein bettlägeriger Kommunist, der sich auf Kosten der Gemeinschaft von einem Heer von Medizinmännern, Therapeutinnen und Pflegerinnen und Spitalköchen verwöhnen liess?

Ich selber bin heute einfach dankbar, dass ich noch lebe. Aber ich fühle mich deswegen nicht als Egoist. Genau für einen solchen Fall schliessen wir alle die obligatorische Grundversicherung der Krankenkasse ab: um das grosse Risiko abzusichern. Damit im Ernstfall niemand fragt, wie wir versichert sind. Damit die Ärzte nicht als Erstes nach einer Patientenverfügung suchen. Nein: Wir alle wollen, dass in einem solchen Ernstfall, der hoffentlich nie eintritt, das medizinische Personal unternimmt, was es für richtig hält, um Leben zu retten.

Ich wurde mehr als gerettet. Dank vielen Therapien habe ich fast alles wieder gelernt: Ich kann wieder schlucken, gehen, lesen, rechnen. Ich kann mich wieder konzentrieren und einigermassen logisch denken. Ich kann schreiben. Klar muss ich noch viel üben und oft trainieren, um meine früheren Leistungen ansatzweise zu erreichen. Aber ich arbeite daran. Ich lebe so diszipliniert wie noch nie, unterstützt von professionellen Therapeutinnen. Ich stehe unter ambulanter medizinischer Kontrolle bei Neurologen und Kardiologen. Insofern muss ich warnen: Meine Kosten laufen weiter. Die 109 400 Franken plus zirka 150 000 Franken Subventionen, die ich im Jahr 2007 «einkassiert» habe, stellen nur eine Zwischensumme dar. Ich bin und bleibe ein Profiteur der Krankenkassen-Umverteilung.

Aber ich bin neunundvierzig Jahre alt geworden. Und habe, rein statistisch, noch mehr als dreissig Jahre vor mir. Das ist eine schöne «Restzeit», obschon dreissig Jahre kaum genügen werden, um meine «Schulden» mit neuen Prämien abzutragen. Dreissig Jahre werden auch nicht genügen, um die Subventionen, die ich, in Spitalbetten liegend, bereits empfangen habe, mit Steuern abzustottern. Im Gegenteil: Ich beziehe neue, zusätzliche Subventionen. Von der Invalidenversicherung erhalte ich Taggelder, um auf der Redaktion einer Familienzeitschrift ein Arbeitstraining zu absolvieren unter dem Motto «Integration vor Rente».

Keine Scheininvaliden

Auch diesbezüglich habe ich kein schlechtes Gewissen, im Gegenteil. Die Schweiz leistet sich keine Scheininvaliden-, sondern eine Invalidenversicherung: damit im Notfall, der hoffentlich nie eintritt, Massnahmen zur Integration ergriffen werden können. Und damit im schlimmsten Fall, wenn diese Integration nicht gelingt, Renten gesprochen werden können.

Ob kerngesund oder halb invalid – wir profitieren alle vom medizinischen Fortschritt. Die statistische Lebenserwartung in der Schweiz wächst und wächst. Bei Männern steigt sie jedes Jahr um zusätzliche drei Monate, bei Frauen jedes Jahr um zusätzliche sechs Wochen. Es wird etwas erreicht mit dem vielen Geld, das wir in unsere Prämien stecken und das die Kantone und Gemeinden in den Betrieb ihrer Spitäler fliessen lassen.

Konsequenterweise sind die meisten von uns zufrieden mit unserem Gesundheitswesen: «Der aktuelle Leistungskatalog in der Grundversicherung ist in hohem, sogar wachsendem Masse akzeptiert», heisst es wörtlich in der neuesten Umfrage «Gesundheitsmonitoring» des GfS-Forschungsinstituts. «Mit 73 Prozent Zustimmung ist der bejahende Anteil 2009 so hoch wie noch nie.» Also explodieren die Kosten nicht von Gott gewollt. Das wird vom Volk bestimmt – in demokratischen Ausmarchungen. Schön regelmässig sagt eine Mehrheit Ja zur freien Wahl des Arztes, Ja zur freien Wahl des Spitals, Ja zur freien Wahl der Krankenkasse, sogar Ja zur freien Wahl der Therapie, eingeschlossen die Komplementär-Methoden.

Nein, ich will den Spitalstaat Schweiz nicht für mich allein. Wir alle wollen ihn für uns. Koste er, was er wolle.

Markus Schneider, geboren 1960, war Autor der «Weltwoche» und Kolumnist der «Bilanz». Im April erschien ein Buch, in dem er seine Krankengeschichte erzählt: Grimassenherz. Eine Reise zurück ins Leben. Echtzeit-Verlag, Basel 2009. 96 Seiten, Fr. 25.–.

Im Angesicht des Todes

Der Buchautor und Journalist Markus Schneider, 49, erlitt nach einer schweren Herzoperation zwei Hirnschläge.

«Selbst bezahlt habe ich 1000 Franken: 300 Franken minimale Franchise und den maximalen Selbstbehalt.»

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