Der Seher von Bad Ragaz

Er sah die Finanzkrise voraus, jetzt warnt er vor dem Staatsbanktrott

18.03.2010, Schweizer Familie

Weil er als AHV-Rentner nicht verblöden will, tut er etwas. Er schreibt. Jeden Winter ein Buch, jeden Winter ein neues. Diesen Winter schreibt er sein Buch über die kommenden «Staatsbankrotte». Das sei keine gewagte Prognose. Island, Griechenland, weitere werden folgen. Offen ist für den rüstigen Rentner aus Bad Ragaz bloss, «wann wie viele Staaten bankrott sind».Dies ist bereits ein typischer Walter-Wittmann-Satz: klar, direkt, provokativ, ohne jede Altersmilde. 75 Jahre wird er und schreibt noch immer nicht abgeklärt und ausgewogen wie ein Professor. «Wissenschaft ist das, was die Leute nicht verstehen», spasste er, als er noch aktiv an der Universität Freiburg Vorlesungen zur Volkswirtschaft hielt.

Heute tragen seine Bücher knallige Titel wie «Der nächste Crash kommt bestimmt».

Als er dieses Manuskript Ende des Winters 2006 abgab, warnte er seinen Verleger: Es handle sich um «verderbliche Ware», die schnell auf den Markt müsse. Es klappte. Das Buch erschien im Juni 2007, just bevor der nächste Crash kam. Auch der Autor handelte rechtzeitig. Im Mai 2007, als die letzten Zeilen fertig waren, stiess Walter Wittmann seine letzten Aktien ab. Dafür kaufte er Gold, «denn Gold kann nicht bankrott gehen», wie er im Buch voraussagte. Er habe über die ganze Finanzkrise «kein Geld verloren».

Trotzdem oder gerade deswegen schrieb er letzten Winter wieder ein Buch: «Finanzkrisen – woher sie kommen, wohin sie führen, wie sie zu vermeiden sind.» Im Vorwort, beendet im Mai 2009, notierte der überzeugte Marktwirtschafter: «Es steht ohne Wenn und Aber fest. Die freie Marktwirtschaft hat immer wieder versagt. Sie ist die eigentliche Ursache von Finanzkrisen.»

«Das globale Desaster» kam zu früh

Solche Sätze erscheinen in Auflagen von 7000 bis 8000 Exemplaren, beachtlich für hiesige Verhältnisse. Aber ein solcher Erfolg haut einen Walter Wittmann nicht vom Stuhl. Sein Buch «Das globale Desaster», angepriesen mit Inseraten in der «Welt am Sonntag», ging 42 000-mal über die Ladentische, vor allem in Deutschland. Das war 1995, und der Autor blickt lapidar zurück: «Dieses Buch kam zu früh.»

Sein Untertitel nämlich erfüllte sich nicht. «Politik und Finanzen im Bankrott», prophezeite Wittmann – zu früh. Anschliessend wurde der Euro eingeführt, und in der Folge mussten die EU-Länder Bedingungen erfüllen, um bei der Währungsunion mitmachen zu dürfen. Erstmals gab es Grenzen für die staatliche Schuldenmacherei. Zum Beispiel eine Limite fürs Total der öffentlichen Budgetdefizite von drei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Diese strenge Regel würde zurzeit gerade noch ein Staat auf der ganzen Welt knapp erfüllen: die Schweiz. Überall sonst läuft ab, was Walter Wittmann «das globale Desaster» nennt. Japan leistet sich eine Neuverschuldung von 7 Prozent seines Bruttoinlandprodukts, die USA von 10 Prozent, Grossbritannien von 14 Prozent. «Das Thema wird heisser.» Und wenn die deutsche oder die griechische Regierung ankünden, sie würden bis 2020 ihr Budget ausgleichen, weiss Wittmann aus Erfahrung: «Das sind doch alles Märchen.»

Den kleinen Leuten unter seinen Leserinnen und Lesern empfiehlt er: Bleibt solid und schuldenfrei. Schulden dürfe man allenfalls für eine Immobilie eingehen, die einem so gut gefällt, dass man selber darin wohnen möchte. Das sei die Garantie, dass das Haus oder die Wohnung einen sicheren Wert hat.

Disziplin und Fleiss, solche Werte lebt ein Walter Wittmann bis heute täglich vor. Das Bett verlässt er, sobald er sich ausgeschlafen fühlt: morgens um sieben. Nach dem Frühstück liest er Zeitungen, dann rudert er auf dem Hometrainer. «50-mal in aller Ruhe.» Anschliessend geht er raus: zusammen mit seiner Frau Inge, beide an zwei Stöcken. Nordic Walking bei jedem Wetter. An zwei Tagen in der Woche trainieren sie im Fitness-Center. Seine Frau müsse wegen ihres Rückens, und da habe er zum Arzt gesagt, er gehe gleich mit.

Nach dem Duschen machen sie sich um halb zwölf das Mittagessen. Sugo, Salat, eine Beilage. Danach trinkt Walter Wittmann einen Espresso, steht abrupt auf und beginnt, wenn Winter ist, mit Schreiben. Eine Stunde. Im Schnitt schafft er anderthalb Seiten pro Tag. Ökonomisch rechnet er vor: «120 x 1,5 Seiten = 180 Seiten = 1 Buch». Pro Winter.

Seine Abrechnung mit der Heimat trug den Titel: «Der helvetische Filz». Ihn störte diese Mixtur aus Armee, Zürcher Freisinn und Finanzplatz schon lange. Auch dieses Buch kam pünktlich auf den Markt: zur Beerdigung der Swissair.

Wittmann passt bis heute in keine Schablone. «Ein origineller Kopf, der selbständig und ab und zu querdenkt», lobt der Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner. Von einer Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU hält Wittmann zum Beispiel gar nichts: «Die Schweiz ist zu klein, hat keine Rohstoffe und bildet ihre eigene Jugend zu wenig gut aus.»

Wittmann fordert heute den EU-Beitritt der Schweiz, kritisiert die direkte Demokratie, verlangt neue Regulierungen zur Zerschlagung der Grossbanken. Vor allem habe er «lange vor vielen andern davor gewarnt, dass Staatsschulden und unseriös kalkulierte Sozialverversicherungen in den Ruin führen», anerkennt Beat Kappeler, der frühere Gewerkschafter und heutige liberale Publizist. Um zu ergänzen: «Eine gewisse Tragik liegt darin, dass Wittmann dies immer wieder wiederholen muss.»

Die Zeitschrift «Cash» hat ihn einmal als «Schwarzseher vom Heidiland» betitelt, was ihn bis heute ehrt. Denn «Cash» gibts nicht mehr, während Walter Wittmann munter bemerkt: «Schwarzseher treffen wenigstens ab und zu ins Schwarze.» Seit der Finanzkrise gebe es neben den Pessimisten und den Optimisten noch eine dritte Kategorie: «Die Blinden, die nichts vorausgesehen haben». Für sich persönlich sah er voraus, dass er die dritte Säule nicht nötig haben werde. Und schrieb, im Winter 2003 wars, ein Buch mit dem Titel «Der Sicherheitswahn». Darin machte er sich lustig über die grassierende Zukunftsangst, die «im Alter, insbesondere bei den Nicht-mehr-Erwerbstätigen, speziell ausgeprägt» sei. Angst steigere die Angst und führe zu Hysterie. Zusammen mit seiner Frau bezieht er heute von der AHV und der Pensionskasse knapp 110 000 Franken im Jahr. «Ich finde das sehr gut. Wir können sogar sparen.»

«Vertraue keinem Bankberater!»

Geboren wurde er als Sohn eines Bergbauern in Disentis. Fünf Kühe im Stall, ein paar Ziegen und Schafe, das Land gepachtet vom Kloster. Mit sieben hatte er das Kleinvieh unter sich, mit zehn begann er mit Holzspalten. Kalberte im Stall eine Kuh, kreuzte er ungewaschen in der Klosterschule auf. Der Pfarrer habe dann zu seinem Vater gesagt, er müsse ins Gymnasium. «Wahrscheinlich hat er gehofft, ich werde Pfarrer.»

Stattdessen studierte er Ökonomie, nachdem er herausgefunden hatte, dass dies das schnellste Studium ist. Von einem Bauern erhielt er ein Darlehen in Höhe von 6000 Franken, das er so bald wie möglich zurückzahlte. Bis heute ist er stolz, sein Studium ohne Stipendien geschafft zu haben. Schweizerinnen und Schweizer brauchen wieder mehr Mut zum Risiko und zur Erneuerung, fordert er in seinen Büchern.

Zumindest bei technischen Innovationen ist er kein Vorbild. Er hat kein Handy, keinen Computer, kein Internet. Er wolle doch nicht den ganzen Tag E-Mails lesen, sondern seine Ruhe haben. Zur Verkäuferin im Laden sagte er neulich, sie solle ihn warnen, bevor die Produktion der Farbbänder für seine Schreibmaschine auslaufe. Dann kaufe er 50 Stück aufs Mal und lege sie in den Tiefkühler.

Letzte Frage: «Wie schützen wir uns vor dem Staatsbankrott?» – «Indem wir keine Staatsobligationen kaufen», antwortet er. Oder höchstens Bundesobligationen lautend auf Schweizer Franken. Auch bei Aktien hält er sich zurzeit eher zurück und mahnt: «Vertraue keinem Bankberater!» Am schlimmsten sei es, wenn man den Berater persönlich kenne.

Schon wieder weiss er, wovon er spricht. Sein Sohn Beat hat an der Zürcher Goldküste in Zollikon eine Firma für Vermögensverwaltung gegründet. Dort hält sich Vater Walter heraus, bewusst und vornehm. Er wolle nicht wissen, welche Kunden ein und aus gehen. «Wenigstens wir halten uns noch ans Bankgeheimnis.»

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