Ein Leben in der Schwebe

Ein Potrait von Freddy Nock jr.

25.03.2010, Schweizer Familie

Auf dem Seil weltbekannter Tänzer der Lüfte, am Boden heimatverwurzelter Familienvater: Freddy Nock gibt vor Tourneebeginn mit dem Circus Knie Einblicke in sein «Spiel mit der Angst».Text Markus Schneider
Der kleine Freddy spielt mit seiner Cousine draussen vor dem Zelt. Dort, wo bei Vorstellungen das Popcorn verkauft wird, ruft jemand: «Achtung, der Bär ist los!» Der Bub kriecht unter den Buffetwagen, doch der grosse Braunbär holt ihn mit seiner Pranke hervor, packt ihn am Kopf. Was danach passiert ist, weiss er nicht mehr. Sicher ist, dass der Bub im Kantonsspital Aarau landete für sechs Monate. Und dass dort ein Arzt zum Fünfjährigen sagte: Hinten an seinem Kopf würde kein Haar mehr wachsen, sein Leben lang.

Das war eine Fehlanzeige. Freddy Nock jr., heute 44, siebte Generation der Zirkusdynastie Nock, trägt seine Frisur seit je gleich: hinten lang. Die Haare fallen ihm vorn an der Stirn aus. Wegen des Alters und nicht wegen des Bären. Dessen Biss hinterliess beim Opfer andere Spuren: «Seither trage ich die Stärke des Bären in mir.»

Mit vier trat er zum ersten Mal in der Manege auf: bei sich zu Hause im Circus Nock. Mit 16 gab er eine Sondervorstellung an der Ausstellung «Grün 80» in Basel: auf dem Seil über dem Löwenkäfig. Mit 40 lief er hinauf zum Säntis – auf dem Draht der Seilbahn. Viermal schaffte er es ins Guinness-Buch der Rekorde. Und bald ist er Stargast beim Nationalcircus Knie. Am 26. März ist Premiere in Rapperswil.

Der Weltrekordler

Von unten nach oben: So schaut Freddy Nock die Welt an. Spaziert er durch die Gegend, springen ihm Hochspannungsleitungen ins Auge. Noch weiter oben, auf dem Seil, das über diesen Leitungen gespannt ist, dort oben möchte er «einen Lauf» hinlegen. Das wäre sein Traum. «Etwas Einmaliges. Der erste Mensch läuft über Hochspannungsleitungen.» Brav und förmlich hat er angefragt bei Alpiq, dem grössten Stromkonzern der Schweiz mit Sitz in Olten. Aber die Herren dort wollten sich nicht einmal mit ihm an den Tisch setzen. Dabei weiss er selber genau, was passiert, wenn er auf die Leitungen fiele.

Schüchterne Nachfrage: Ob dieses Seil über den Hochspannungsleitungen nicht etwas gar dünn sei? Er sei gewohnt, auf dünnem Seil zu laufen. Wenn es sein müsse sogar über ein Seil mit vier Millimetern Durchmesser. Der Eindruck täusche ohnehin. In Wirklichkeit sei das oberste Seil über den Hochspannungsleitungen «ein 15er oder ein 16er». Zentimeter, nicht Millimeter wohlverstanden.

Bei seiner Show in Seoul in Südkorea lief er über ein 20er, zügiger als ein Fussgänger. 30 Meter weiter unten strömte der Fluss Han. Ein Kilometer in 10 Minuten und 18 Sekunden, dann war Freddy Nock am andern Ufer. Sein Tempo: fast sechs Stundenkilometer. Weltrekord. Zwei seiner schärfsten Konkurrenten, ein Russe und ein Chinese, sassen erschöpft auf dem Seil. Der Schweizer eilte zurück und nahm beide auf seine Schultern.

Und wenn er einmal ausrutschen würde? Daran denkt Nock nicht. Danach gefragt, antwortet er: «Dann fange ich mich.» Genau das trainiere er doch vor seinem Einfamilienhaus in Uerkheim AG: Fangtechniken. Mit den Händen fängt er sich, den Füssen, den Beinen, je nach Situation. Am wichtigsten sei die Hand, seine Rechte.

Im Alter von 18 oder 19 erlebte auch er seinen Absturz. «Das war dumm.» Eine Blondine sass in der Loge, der junge Freddy wollte übertreiben und prallte auf den Asphalt. Er brach sich das Handgelenk. Wenig später ging er wieder nach oben, und seither sagt er die immer gleichen zwei Sätze: «Ich habe keine Angst. Ich habe nur Respekt.»

Gleichzeitig spielt er mit der Angst der andern. Demonstrativ trägt er einen Fernsehreporter auf den Schultern über das Trainingsseil. Er nimmt Journalisten mit ins Todesrad, damit die am eigenen Leib erfahren, wie sich der aufrechte Gang im drehenden Rad anfühlt. Oder er lässt eine Journalistin ihren Kopf hinhalten, mit einem Apfel darauf gesetzt. Dann zieht er die Armbrust.

Wer mitmache, traue ihm. Das habe nichts mit Dummheit zu tun, sondern eben mit Vertrauen. Und natürlich mit seinen Fähigkeiten. Klar, passieren könnte immer etwas. Das Risiko schätzt er grob auf 1 Prozent.

Seine Tochter Stéphanie, 20, wagt sich mit ihm in die Motorradkugel. Das sieht so gefährlich aus, wie es ist, deswegen stünden viele Zuschauer da: weil zwei ineinanderkrachen könnten. «Sind wir doch ehrlich: Wir alle brauchen den Kitzel. Sonst würde niemand ein Autorennen besuchen.»

Der Ungesicherte

Er selber läuft ungesichert über jedes Seil. Sonst mache es doch keinen Spass. Und darum darf er in der Schweiz, dem Land mit den meisten Versicherungsgesellschaften, bald keine Seilbahn mehr be- treten. Es sei denn, er wird offiziell ein-geladen wie von der Luftseilbahn Adliswil-Felsenegg. Die dann mit dem Slogan wirbt: «Es gibt bequemere Wege, auf die Felsenegg zu kommen.» Auf dem Foto: Freddy Nock mit seiner Balancierstange. Was man nicht sieht: Er lief mit Socken. Denn als er starten wollte, klebte gerade schmieriges Öl am Seil. Spontan zog er die Turnschuhe aus.

Seine Jugend im Circus Nock schildert er weniger romantisch, als wir uns das vorstellen. Manchmal war die Toilette verstopft oder das Wasser gefroren. Im «fliegenden Klassenzimmer» reifte sein Entscheid, sich eher auf die Seilkunst als auf eine Berufsausbildung zu konzentrieren.

Als sein Vater mit seinem neu gegründeten Circus Alfredo Nock in Deutschland touren wollte, ging er Pleite, weil der Park, der sie eingeladen hatte, kein Honorar zahlte. Also schloss er sich wieder dem traditionsreichen Familienzirkus an. Nach 23 Jahren Ehe trennten sich seine Eltern. Freddy jr., damals 16, lebte eine gewisse Zeit bei seiner Mutter, verdiente sein erstes Geld bei einem Glaser, machte eine Schnupperlehre als Spengler. Dann kehrte er zum Vater zurück – zurück in die Zirkuswelt der Familie Nock und trat in wechselnden Partnerschaften neu auf. Meistens auf dem Seil in internationalen Engagements. Nur etwas wusste er von Anfang an: dass seine Kinder einst nicht ins ««fliegende Klassenzimmer» eines Zirkus, sondern in eine richtige Schule gehen sollen. Damit sie besser lesen, rechnen und schreiben lernen als er lesen, rechnen und schreiben kann.

Alicia, 7, das Mädchen seiner Lebenspartnerin Ximena Soltermann, kommt aus der Primarschule heim. Fleissig setzt sich Alicia hinter die Hausaufgaben. Ob sie auch einmal zum Zirkus wolle? «Nein!», antwortet sie resolut, «nie im Leben!» Ruhig murmelt Freddy, man solle nie «nie» sagen. Andrés, 9, taucht auf, das zweite Kind von Ximena: in einem Kostüm. Doch auch er ist nicht auf dem Weg zum Zirkus, sondern zur Jugi.

Der Beschützte

Freddy Nock verdient sein Geld heute, wenn er nicht beim Knie auftritt, mit Galavorstellungen, Firmenanlässen, Fernsehauftritten, in Turnhallen oder auf Dorfplätzen: Tell-Apfelschuss, Todesrad, Hochseil, Motorradkugel. Ende August lief er in 50 Minuten von der Bergstation über das Seil hinauf zur Zugspitze, mit 2962 Metern über Meer der höchste Berg Deutschlands. Schon wieder Weltrekord – zugunsten der Stiftung «Menschen für Menschen», der Äthiopien-Hilfe von Karlheinz Böhm.

Dieses Wochenende zog es Freddy Nock nach China. Im Naturschutzgebiet, wo der Film Avatar gedreht wurde, balancierte er über das Seil einer Gondelbahn mit 74 Prozent Steigung und stellte erneut einen neuen Weltrekord auf. 74 Prozent? Das empfindet selbst Freddy Nock als «steil». Zu Hause in Uerkheim wäre Freddy Nock gern fürs Dorffest vom Gemeindehaus zur Kirche rübergelaufen. Doch das durfte er nicht. «Weil der Kirchturm aus Holz ist, hätte er durch den Zug des Seils zusammenbrechen können.» Spontan fiel Freddy Nock eine Lösung ein: Er liess das Stahlseil über den Friedhof spannen, berechnet von einem professionellen Statiker. Das Fest gelang. Kurz darauf wurden Freddy und seine Partnerin Ximena im Gemeindesaal gefeiert. Die Kirche blieb im Dorf. Abergläubisch ist Freddy Nock nicht. Er trägt zwar immer ein Kreuz und macht vor jedem Auftritt das Kreuz. Doch sollte er dieses Ritual einmal vergessen, fällt er deswegen nicht vom Seil. Schliesslich weiss er aus Erfahrung: «Engel gibts.» All diejenigen, die ihn bis jetzt beschützt haben.

Box:

Eine lange Geschichte – Die Nocks im Circus Knie

Freddy Knie jr.,, der artistische Leiter des Circus Knie, präsentiert diese Saison Freddy Nock jr., der mit Ramon Kathriner auftreten wird. Hiermit kreuzen sich die beiden Schweizer Zirkus-Dynastien Nock und Knie – und dies nicht zum ersten Mal. Ausgerechnet «Knieli«, der wohl berühmteste Clown und Liebling aller Kinder in den 60er- und 70er-Jahren, war ein Nock: Um genau zu sein: Arthur Nock, ein Cousin des Grossvaters von Freddy Nock jr. Dessen Frau Lotti, von allen «Tante Lotti» gerufen, wurde zu so etwas wie der «guten Seele» beim Knie. Sie trat als Nummerngirl auf und zierte einmal das Plakat.

Bis heute unvergessen ist Pio Nock, ein Cousin des Vaters von Freddy Nock jr. Pio spielte an der Seite von John Wayne im Hollywood-Film «Circusworld». Auch er trat mehrmals im Knie auf. Und starb im Alter von 77 in der Manege bei einem Auftritt in Dortmund an einem Herzversagen.

Knie und Nock auf tournee

Der Circus Knie mit Freddy Nock feiert am 26. März wie jedes Jahr in Rapperswil SG Premiere mit dem neuen Programm. Alle Tourneedaten auf www.knie.ch
Freddy Nock auf www.freddynock.ch

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