«Ich wusste nicht, dass ich Sportler bin»

Ein Gespräch mit Daniel Albrecht

01.04.2010, Schweizer Familie
Interview Markus Schneider

Wir haben uns noch nie gesehen, noch nie miteinander gesprochen, aber wir duzen uns sofort. Sportler duzen sich, Patienten in einer Rehaklinik duzen sich auch. Wir treffen uns im noblen Hotel Zürichberg, vor kurzem hätten wir uns ebenso gut im Spital begegnen können. In Folge von Hirnblutungen lagen wir beide einige Wochen im künstlichen Koma und hatten am Ende dasselbe: ein Riesenglück. Jetzt wollen wir schon wieder dasselbe: zurück in unseren früheren Beruf, so schnell wie möglich. Dafür trainieren wir hart und diszipliniert. Denn wir wollen wieder so gut werden, wie wir es früher einmal waren.Markus Schneider: Vergangene Nacht habe ich kaum geschlafen. Habe mich herumgewälzt. Was soll ich ihn zuerst fragen? Wie fortfahren? Um vier in der Früh stand ich auf, um an meinen Fragen zu feilen. Dann wurde es draussen hell.

Daniel Albrecht: Ich muss mich auch auf jedes Gespräch vorbereiten. Ich überlege mir immer zum Voraus, was ich sagen will. Dann bin ich fixiert, sage es und sage es nochmals, selbst wenn es mein Gegenüber längst begriffen hat.

Du merkst nicht, dass du dich wiederholst?

Ich brauche vorher viel Zeit, um zu speichern, was ich sagen will. Habe ich es gespeichert, ist es in mir drin. Dann kann ich nicht mehr wechseln. Ich bin nicht mehr flexibel. Als ich im Spital aufwachte, hatte ich, wenn es gut lief, einen Gedanken pro Tag. Jetzt sind es zum Glück wieder ein paar mehr.

Die Rehaklinik war für mich eine Mischung aus Trainingslager und Schule. Hattest du auch einen fixen Stundenplan?

Ja. Und wenn ich gerade keine Therapie hatte, sass ich eine Stunde im Zimmer und schaute in den Spiegel. Da kam mir Stams in den Sinn, immer wieder Stams. Und ich fragte mich: Was ist Stams?

Und, was ist Stams?

Ein Ort im Tirol mit einem Sportgymnasium. Dort kam ich mit 14 hin, noch als Bub unter lauter kräftigen Männern. Darum stand ich vor dem Spiegel: um zu kontrollieren, ob meine Muskeln wachsen.

Als ich nach fünf Wochen Koma aufwachte, waren auch alle Muskeln weg. Ich hätte nicht einmal sitzen können, weich wie Gummi war ich. Aber ich selber, ich habe das nicht wahrgenommen. Das musste man mir später erzählen.

Mir auch. Wie ich aus dem Koma aufgeweckt wurde – davon weiss ich absolut nichts. Meine Freundin erzählte mir, ich hätte nicht einmal stehen können. Und als man mich für ein paar Minuten auf einen Stuhl setzte, wurde ich so müde davon, dass ich ein paar Stunden schlafen musste.

Was war deine erste Übung in der Physiotherapie?

Ein Gleichgewichtstest. Das war vorher meine grosse Stärke, mein Talent. Jetzt wollte die Therapeutin, dass ich auf ein Bein stehe. Das kann doch nicht so schwierig sein, dachte ich. Ich schaffte es drei Sekunden. Nach einer Pause probierte ich es nochmals; diesmal schaffte ich vier Sekunden.

Ich musste in der allerersten Physiotherapie-Stunde den «Vierfüssler» zeigen. Da kniest du auf beide Knien und stützt dich vorn auf beide Hände.

Vielleicht habe ich auch so angefangen, aber das weiss ich nicht mehr. Das ist meine Lücke im Gedächtnis. Ich erinnere mich nur, dass ich irgendwann auf einem Bein stand. Wochen später musste ich im Spital eine Treppe runter und wieder hinauf. Einen Stock nur. So bekam ich Tritt für Tritt zu spüren.

Und wie war es in der Ergotherapie?

Man legte mir Zeichnungen vor die Nase, und ich hätte das passende Wort finden müssen. Es war verflixt. Ich sah einen Schmetterling, aber ich hatte das Wort vergessen.

Bei mir war es umgekehrt. Ich erkannte die Figuren nicht. Bis heute habe ich Mühe damit. Kürzlich wollte die Physiotherapeutin, dass ich die Zahl 8 auf dem Boden laufe. Ich machte eine oder zwei Schlaufen zu viel.

Als ich zum ersten Mal übers Wochenende nach Hause durfte, sassen plötzlich vier, fünf Leute am Tisch. Dieses Durcheinander von Gesprächen – ich wusste gar nicht mehr, wo ich war. Meine Ergotherapeutin führte mich dann auf den Bahnhof Bern. Rundum Leute, hinten, vorn, überall bewegte sich etwas. Ich war total im Sumpf.

Und heute?

Es hat sich gebessert. Aber es ergeben sich immer noch Situationen mit zu vielen Reizen. Jetzt gerade in Garmisch am Weltcup-Finale: ein Gewimmel von Leuten, die ich alle kenne. Die sehen mich, fragen etwas, mir kommt gerade keine Antwort in den Sinn, und schon will der Nächste etwas Nächstes wissen. Plötzlich fühlte ich mich hilflos und allein.

Wir haben die richtige Selbsteinschätzung verloren. Entweder wir überschätzen uns, oder wir unterschätzen uns.

Ich weiss bis heute nicht genau, wo ich stehe. Ich finde manchmal, jetzt sei fast alles wieder normal. Aber das dachte ich vor vier Monaten auch schon. Trotzdem habe ich seither Neues dazulernen müssen.

Es kommt immer darauf an, womit du vergleichst. Denkst du an die schlimmen Folgen, die nach deinem Horrorsturz möglich gewesen wären, ist alles grossartig. Wenn du dich an deinen früheren Leistungen misst, beginnst du zu hadern.

Ich kam nie in die Krise und habe mich oft gefragt: Warum kommt diese Krise nicht? Hätte ich realisiert, welche Folgen ein Schädelhirntrauma haben kann – ich wäre am Boden zerstört gewesen.

Nach meinem ersten Hirnschlag hatte ich die Namen meiner beiden Kinder vergessen. Ich kam mir leer vor. Kannst du dieses Gefühl besser beschreiben?

Da ist nichts. Ein Arzt kommt herein, sagt «Hallo, wie gehts?» Ich antworte, es gehe ganz gut, der Arzt ist froh und glücklich. Dann fragt er: «Sagen Sie mir noch schnell, wie alt Sie sind?» Doch da war nichts.

Deine Mutter meint, du hättest sie sofort erkannt. Du behauptest, du hättest niemanden erkannt. Wer hat recht?

Meine Mutter sieht mich nach drei Wochen Koma aufwachen, schaut mich an, ist glücklich, dass ich endlich die Augen öffne, zeigt mir ihre Freude und lächelt. Also tat ich dasselbe wie sie und lächelte zurück.

Das war tatsächlich das Erste, was ich merkte beim Aufwachen: die Freude, die Erleichterung aller Menschen um mich. Zwar hatte ich keine Ahnung, was mir alles gedroht hatte, aber alle andern schon. Die Neurologen haben meiner Frau den schlimmstmöglichen Fall offen dargelegt – und den bestmöglichen, der dann herausgekommen ist.

Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Österreich und der Schweiz. In Österreich sind die Ärzte immer positiv: «Alles wird gut, alles im Griff», sagen sie – obschon sie wissen, dass es auch anders enden könnte. Zu meinen Eltern meinten sie, ihr Sohn werde schon bald wieder Rennen fahren. Als ich von Innsbruck nach Bern ins Inselspital verlegt wurde, tönte es anders. Und meine Eltern dachten, ob ich in Österreich vielleicht besser aufgehoben gewesen wäre. In Österreich!

Ein guter Witz. Ist Humor deine Strategie zur Bewältigung des Traumas?

Ich probiere, alles so gut zu erklären, wie es mir möglich ist. Das endet dann oft in einem halben Witz.

Ich mache das absichtlich. So, wie gewisse Leute nach Komplimenten fischen, so fische ich nach Lachern. So lange es mir gelingt, eine Pointe zu setzen, kann ich nicht total auf den Kopf gefallen sein.

Am Anfang konnte ich gar kein richtiges Gespräch führen. Meine Mutter erzählte und erzählte, aber ich begriff nichts. Mit meiner Freundin ging es viel besser. Die wusste, wo meine Probleme liegen. Die wusste, dass sie mich so weit bringen musste, dass ich Fragen stelle. Weil ich nur das begreifen konnte, was ich mir selber erfragt hatte.

Und woher wusste das deine Freundin?

Von den Ärzten. Sie ging direkt auf sie zu, sie suchte diesen Kontakt.

Du hast deine Freundin einmal mit deiner Physiotherapeutin verwechselt.

Mir wurde gesagt, um vier Uhr komme eine Physiotherapeutin aus Deutschland vorbei. Dann hatte ich diese drei Dinge fix im Kopf: Deutschland, Physiotherapeutin, vier Uhr. Es wurde vier Uhr, die Tür ging auf – und meine Freundin kam herein, und ich hielt sie für meine Physiotherapeutin.

Wie hat sie reagiert?

Sie blieb ruhig, sie besprach ja alles mit den Ärzten. Als die Ärzte ihr gegenüber einmal klagten, sie fänden es nicht so toll, dass ich sie alle, auch den Professor, duze, antwortete meine Freundin: «Der ist so.» Als Spitzensportler sei man mit allen per du.

Genau das Gleiche sagte auch meine Frau zu den Ärzten. «Der ist so.» Das war, als ich auf der Intensivstation mitten in einer Arztvisite zu ihr sagte: «Komm, wir gehen heim, wir waren jetzt lange genug da.»

Es ist schon speziell. Am Anfang wusste ich nicht, dass ich Sportler bin. Dennoch wollte ich vom ersten Moment an besser werden. Jeden Tag wollte ich, dass es morgen besser geht.

Das ist das Schöne an einer Hirn- verletzung: Es wird tatsächlich besser, es geht aufwärts. Am Ende hat man das Gefühl, es sei alles nur eine Frage der Geduld.

Dieses Gefühl kommt auf und gibt einem die Ruhe, die es braucht. Ich bin schon als Spitzensportler nie in ein Loch gefallen. Hatte ich ein Ziel nicht erreicht, nahm ich mir ein neues vor. Vielleicht ahnte mein Körper schon damals, dass mir irgendwann etwas wirklich Schlimmes geschehen wird.

Manchmal verlieren wir die nötige Distanz zu uns selbst. Alles dreht sich nur noch um uns. Ich habe schon zu meiner Frau gesagt: «Wenn ich dich wäre, hätte ich mich längst verlassen.«

Ich sagte meiner Freundin auch schon: «Wenn du dich nicht mehr wohlfühlst, wenn ich plötzlich ein ganz anderer Mensch bin, den du nicht kennst, musst du mich verlassen.» Ich könnte ihr ja nicht einmal böse sein. Sie hat doch die ganze Zeit immer zu mir geschaut. Ich habe ihr versichert: «Du wirst mir so oder so in guter Erinnerung bleiben, egal, wie du dich entscheidest, ich werde immer für dich da sein.» Verlassen hat sie mich bis heute nicht.

Kaum konntest du wieder auf einem Bein stehen, fuhrst du wieder Ski. Jetzt bist du zurück im Weltcup-Zirkus – als Vorfahrer. Kaum hatte ich das Lesen wieder gelernt, fing ich an mit Schreiben. Warum sind wir so? Warum wollen wir so schnell wie möglich wieder dasselbe?

Weil wir das Glück hatten, dass wir schon früher das machen durften, was wir am liebsten tun. Als die Ärzte im Inselspital antönten, es gehe vielleicht nicht mehr mit Spitzensport, fragte ich mich: Will ich Schreiner werden? Maurer?

Woher nimmst du die Motivation, immer besser zu werden?

Das hatte ich schon immer in mir drin. Als Kind wollte ich Weltmeister werden. Nachdem ich Weltmeister war, wollte ich Olympiasieger werden. Wenn mir die Ärzte jetzt sagen, dass der Spitzensport in meinem Fall eventuell unmöglich sein wird – allein diese Aussage motiviert mich, das Gegenteil zu beweisen.

Ich habe es besser als du. Bei mir steht niemand mit der Stoppuhr da. Ich darf an einem Satz so lange basteln, bis er sitzt.

Bei mir wollen alle Leute wissen, wie viel Zeit ich verliere. Bereits im Sommertraining lief die Uhr immer mit. Ich wusste, wie viel mir fehlt. Aber das behielt ich für mich.

Ich werde immer gefragt, zu wie viel Prozent ich zurück sei. Ich antworte: Beim Arbeitspensum sind es 50 Pro-zent, gemessen an meiner früheren Leistung bin ich bei 20 Prozent. Du aber gewinnst, selbst wenn du bei 97 Prozent ankommst, kein Rennen mehr.

Wenn ich jetzt starten müsste, würde es kaum zur Qualifikation reichen. Okay, im Riesenslalom war ich die Nummer 1, da könnte ich mit 97 Prozent vielleicht unter die ersten 15 fahren.

Fotos Philipp Rohner

Sportler und Journalist

Daniel Albrecht, 26, Skirennfahrer. 2007 wurde er Weltmeister in der Super-Kombination und Vizeweltmeister im Riesenslalom. 2003 Juniorenweltmeister in der Abfahrt, im Riesenslalom und in der Kombination. Im Januar 2009 stürzte er in Kitzbühl im Training vor der Zieleinfahrt bei einem 70-Meter-Sprung. Folgen: Schädelhirntrauma, Hirnblutungen, zerquetschte Lunge, drei Wochen künstliches Koma im Unispital Innsbruck. Für die Rehabilitation kam er ins Inselspital nach Bern. www.daniel-albrecht.ch

Markus Schneider, 50, Journalist und Buchautor, schrieb für die «Weltwoche» und die «Bilanz», heute für die «Schweizer Familie». Im August 2007 erlitt er nach einer Herzoperation Komplikationen. Folgen: zwei Hirnschläge, anhaltende epileptische Anfälle, fünf Wochen künstliches Koma im Universitätsspital Zürich. Über seine Krankengeschichte schrieb er das Buch «Grimassenherz» (Echtzeit Verlag).

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