Im Auftrag Steine werfen

Wie gut halten die Scheiben eines Zugs, der in Algerien unter Beschuss von Jugendlichen gerät? Handballer Daniel Stahl machte den Härtetest.
01.07.2010, Schweizer Familie
Daniel Stahl freute sich nicht wie ein Bub. Schliesslich ist er 28 Jahre alt, 2,04 Meter lang, 108 Kilo schwer. Ein ausgewachsener Handballer, der für Fortitudo Gossau in der Nationalliga A spielt. Daniel Stahl plante auch keinen Streich. Er wurde aufgeboten zu einer Aufgabe, die ihm als «sehr interessant» erschien. Zusammen mit acht Clubkollegen stand er am SBB-Gleis auf der Strecke Sulgen–Romanshorn. Es war ein Sonntagmorgen, acht Uhr in der Früh. Es gab Kaffee und Kuchen, Getränke und Gipfeli, alles offeriert vom lokalen Eisenbahnbauer Stadler Rail.Am Abend zuvor hatten die Gossauer Handballer noch den HSC Suhr Aarau besiegt. Jetzt standen sie nicht mit Shirts und kurzen Hosen da, sondern waren ausgerüstet mit Helmen und Schutz-anzügen der Polizei. In ihren Händen hielten sie statt des Balls einen Stein. Mit dem Ziel, diesen Stein mit solcher Wucht ins Fenster eines vorbeifahrenden Zugs zu schmettern, dass es klirrt.

Rückblickend fragt Daniel Stahl nüchtern: «Wer ausser einem Handballer kommt in Frage, ein schwer industriell gefertigtes Produkt mutwillig zu zerstören?» Der erste Zug fuhr mit 60 Stundenkilometern vorbei. In den Augen von Daniel Stahl war das langsam. Er habe ruhig zielen und voll werfen können. Doch die Scheiben hielten dicht. Daniel Stahl hat nicht Physik studiert, aber dank Abitur in Deutschland ahnte er: Je schneller der Zug fahren wird, umso grösser werden die Vibrationen sein. E = m x c2, formelte Albert Einstein. Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat. Der nächste Zug brauste mit irdischen 90 Kilometern an den Handballern vorbei. Daniel Stahl hörte einen Ton, als ob eine Scheibe geborsten wäre. Zumindest hoffte er das. Tatsächlich: Nachdem der Zug gewendet hatte, zückten die Leute von Stadler Rail, assistiert vom wissenschaftlichen Dienst der Stadtpolizei Zürich, die Kamera: Nicht ein Stein, zwei Steine waren stärker als das Glas.

Als beim dritten Versuch eine dritte Scheibe in Bruch ging, wurde das Experiment abgebrochen. Der Beweis war erbracht: Das Spezialglas von Stadler Rail, obschon zehn Millimeter dick, obschon mit einer Folie beklebt, ist nicht stark genug, wenn Mannen wie Bären Steine werfen.

Damit hatten die Ingenieure von Stadler Rail nie gerechnet. Aber die Funktionäre der Algerischen Staatsbahn SNTF eben schon. Die bestellten bei Stadler im Thurgau 64 S-Bahn-Züge unter dem sanft klingenden Namen «Flirt». Bedingung des Vertrags: Die Fensterscheiben müssen Schottersteinen standhalten. Genau das war nicht der Fall. «Steinewerfen ist unter Algeriens Jugendlichen ein Volkssport», erfuhr Philipp Staerkle, Präsident des Handballvereins Fortitudo Gossau. Auf Wunsch von Stadler Rail bot er seine kräftigsten Spieler zum Test am Sonntagmorgen auf. Daniel Stahl und seine Mannen waren mehr als vom Ehrgeiz gepackt. Zusätzlich lockte sie Stadler Rail mit einer Wette: Für jede zersplitterte Scheibe gebe es eine Kiste Wein. Ans nächste Heimspiel in Gossau wurden denn auch drei Kisten Wein geliefert. Bald dürfen die Handballer im Thurgau nochmals Steine auf einen algerischen «Flirt» werfen. Diesmal wird das Spezialglas nicht 10 Millimeter dick sein, sondern 15 Millimeter.

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