In der Not ist Rettung nah

Es gibt wohl keinen besseren Ort auf der Welt, um auf offener Strasse in Ohnmacht zu fallen: Ein Lob auf die Schweiz zum 1. August.

29.07.2010, Schweizer Familie

Jeder Mann und jede Frau kann jederzeit zusammenbrechen. Mitten auf dem Fussgängerstreifen, zuvorderst an der Kasse in der Migros, beim Schwimmen in der Badeanstalt, überall. Ursache kann ein Herzinfarkt sein, ein Hirnschlag, ein Kreislaufkollaps. Bei mir ist es in der Regel ein epileptischer Krampf, der mich flachlegt. Ich sacke zusammen. Wie das passiert, weiss ich nicht; ich werde ja nicht bewusst bewusstlos.Zu meinem Glück droht unmittelbar keine Lebensgefahr. Wenn ich hier im Büro der «Schweizer Familie» diese Zeilen tippend vom Stuhl fiele, wüssten meine Kolleginnen und Kollegen, wie sie zu reagieren hätten. Erstens: Ruhig bleiben, keine Panik. Zweitens: Mich auf die Seite legen. Drittens: Die Telefonnummer 144 einstellen mit der Durchsage: «Epilepsie-Verdacht.»Aber wenn es draussen auf der Strasse passiert? Wenn ich mit dem Kopf auf den Randstein des Trottoirs pralle? Oder unters Tram gerate? Gemäss Statistik sterben in der Stadt Zürich mehr Menschen an einem Tramunfall als an einem Autounfall.

Bin dann mal weg

Selber setze ich mich hinter gar kein Steuer, das Autofahren haben mir die Neurologen längst verboten. Viel zu gefährlich (für die andern). Schwimmen darf ich eigentlich auch nicht. Zu gefährlich (für mich), besonders im See. Streng genommen dürfte ich mich unbeaufsichtigt nicht einmal daheim in die Wanne legen. Rudi Dutschke, der deutsche Studentenführer aus den 68er-Jahren, ist tatsäch- lich in seiner Badewanne ertrunken – wegen eines epileptischen Anfalls, den er als Spätfolge des Kopfschusses erlitten hatte.

Vor dem ersten Mal sass ich zu Hause in der Stube auf dem Sofa. Soeben hatte ich anti-epileptische Tabletten geschluckt, welche mich nebenwirkend müde und schwindlig machen, hauptwirkend aber epileptische Anfälle verhindern – verhindern soll-ten. Das Sofa war weich. Und seither wissen meine Frau und meine Söhne, wie so ein epileptischer Krampf bei mir ausschaut: Ich zucke nicht wild herum, ich strecke meine Arme in die Länge – und bin dann mal weg.

Keine Panik!

Vor dem zweiten Mal stieg ich in Zürich-Wollishofen in die S 24. Es war der 4. Januar dieses Jahres und draussen bitterkalt. In Thalwil wollte ich in den Zug nach Bad Ragaz wechseln, denn in Bad Ragaz erwartete mich der Wirtschaftsfachmann und Crash-Prophet Walter Wittmann zum Interview für die «Schweizer Familie». Doch in Thalwil öffnete die Tür des Zugs nicht, vielleicht weil sie eingefroren war wegen der Kälte, vielleicht weil ich auf den falschen Knopf gedrückt hatte. Der nächste Halt war dann eine Station mit dem für mich sonderbaren Namen «Oberrieden Dorf».

Ich war mehr als verwirrt, regte mich auf, telefonierte meiner Frau, die mir – nach Konsultation des Fahrplans – empfahl, einfach nach Thalwil zurückzufahren und dort den nächsten Zug nach Bad Ragaz zu nehmen, alles um eine Stunde verschoben. Vor allem aber sagte sie mir: «Ruhig bleiben, keine Panik.»

In Thalwil hatte ich lauter Zahlen im Kopf: Ankunftszeit, Gleise, Abfahrtszeit, Gleise. Weil ich das Mobiltelefon nicht mehr abnahm, telefonierte meine Frau dem Bahnhofvorstand in Thalwil. Ja, eine Person sei auf dem Perron 4 zusammengebrochen, jemand habe die Ambulanz gerufen, die schon dort sei. – Nach einer Nacht im Spital konnte ich entlassen werden.

Vor dem dritten Mal war ich mit ehemaligen Arbeitskollegen zum Apéro verabredet. Es war der 27. Mai dieses Jahres, sonnig, aber nicht heiss. Auf dem Paradeplatz mitten in Zürich stieg ich aus dem Tram, um zu Fuss in die Talackerstrasse einzubiegen. Bis mich jemand heftig am Arm zog: «Halt! Jetzt wären Sie doch voll ins Tram hineingelaufen.»

Ich erschrak. Nicht weil das Tram von links kam. Seit einer Blutung in meiner rechten Hirnhälfte habe ich das Gesichtsfeld nach links verloren. Seither weiss ich, dass ich immer aufpassen muss, links nichts zu übersehen. Doch bis dahin hatte ich gut aufgepasst.

Wieder einmal war ich mehr als verwirrt. In der Talackerstrasse erkannte ich immerhin einen Blumenladen. Tatsächlich wäre ich auf dem richtigen Weg gewesen.

In der Bar warteten meine Kollegen. Weil ich mein Mobiltelefon nicht abnahm, riefen sie bei mir zu Hause an. Mein jüngerer Sohn, 15, sagte, ich sei an einem Apéro. Als er hörte, ich sei dort nicht eingetroffen, rief er spontan die Polizei an. Ob sein Vater in irgendeinem Spital gelandet sei?

Das Universitätsspital Zürich meldete sich zuerst auf dem Mobiltelefon meiner Frau. Dieses Spital hat alle Daten und Details meiner Krankengeschichte samt den Nummern meiner Angehörigen gespeichert. Wenig später telefonierte die Polizei meinem Sohn. Die Nachrichten waren gut: Alles unter Kontrolle. Nach einem epileptischen Anfall hatten zwei Passanten die Ambulanz gerufen. – Nach einer Nacht im Spital konnte ich entlassen werden.

Alles richtig gemacht

Tage später telefoniert mir ein Polizist. Wie es mir gehe? Er freute sich. Zufällig sei er gerade in der Talackerstrasse auf der Höhe des Blumenladens gestanden und dann hergewinkt worden. Aber eigentlich hätten die beiden Passanten bereits alles richtig gemacht: mich fachgerecht seitlich gelagert und sofort die Ambulanz gerufen. Gerne gab er mir die Namen und Adressen meiner beiden Retter durch.

Zum Dank versandte ich zwei Briefe. Aus dem gleichen Grund schreibe ich jetzt diesen kleinen Artikel zum 1. August über das Funktionieren der Ersten Hilfe in der Schweiz. Weil ich ganz einfach froh bin, an einem Ort zu leben, wo im Notfall vieles perfekt zusammenspielen kann: Passanten, Freunde, die Familie, Rettungssanitäter, Notfallärzte, Spitäler, patrouillierende Polizisten, der Bahnhofvorstand. Solange wir alle einen Beitrag leisten, lebt und überlebt die Schweiz.

Neulich zum Beispiel, draussen war es heiss, stand ich zuvorderst an der Migros-Kasse. Mir war schwindlig, noch mehr schwindlig als üblich. «Ist Ihnen schlecht?», fragte mich die Kassiererin und holte mir einen Stuhl. Ich setzte mich darauf und sagte zu mir: Ruhig bleiben.

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