«Wir sind nicht mehr hungrig nach mehr»

Interview mit Patrizia Laeri

09.12.2010, Schweizer Familie

«Wir sind nicht mehr hungrig nach mehr»Interview Markus Schneider und Marianne Fehr

Schweizer Familie: Frau Laeri, Zeitungen haben ihren Geldonkel, das Fernsehen hat Sie – das pure Gegenteil.

patrizia laeri: Das sehen viele Leute nicht mehr so traditionell. Angelsächsische Börsensender setzen schon lange auf Frauen.

Warum haben Sie Wirtschaft studiert?

Ich machte die Matura mit Latein. Mit 17 nahm ich an einer Wirtschaftswoche teil. Wir mussten so tun, als würden wir ein Unternehmen führen: Pfannen vermarkten mit Werbespots, Flyern, Aktionen. «Hot Pots» nannten wir unsere Pfannen. Unser Team gewann, das beflügelte mich.

Ihr Vater war forensischer Psychologe, befasste sich also mit Straftätern. Hilft Psychologie auch, die Finanzmärkte zu verstehen?

Mein Vater interessierte sich für jeden einzelnen Menschen, und genau das kann ich jetzt als Journalistin ausleben. Wenn ich Interviews führe, will ich die Menschen verstehen.

Sie wurden vor anderthalb Jahren über Nacht berühmt, als Sie den damaligen UBS-Präsidenten Peter Kurer interviewten.

Ich war schon seit sechs Jahren Wirtschaftsjournalistin, hatte den früheren deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Aussenminister Joschka Fischer interviewt, führte kritische Gespräche mit Nationalräten und Schweizer Konzernchefs. Dann kam dieses «10 vor 10»-Interview mit Peter Kurer. Dass es solche Schlagzeilen auslösen würde, war für mich nicht absehbar.

Im Gespräch mit Peter Kurer ging es um die hohen Boni der Banken. Peter Kurer kam ins Stottern, Sie blieben ruhig.

Ruhig, aber hartnäckig. Man nennt dies das «Harvard-Prinzip»: betont höflich, aber in der Sache hartnäckig. Andere Journalisten fragen aggressiv – das ist nicht mein Stil.

Ihre Mutter ist unter Bergbauern aufgewachsen, eine andere Welt als die des Geldes.

An Weihnachten konnte sich die Familie meiner Mutter keine Geschenke kaufen. Sie schnitten Bilder aus dem Katalog aus, klebten sie auf ein Blatt Papier, und versahen sie mit ein paar persönlichen Worten.

Schaut Ihre Mutter heute «SF Börse»?

Natürlich. Aber am Anfang hatte sie gar keine Freude, dass ich zum Fernsehen wollte. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn ich zu einer Bank gegangen wäre und einen «richtigen Beruf» gewählt hätte. Seit der Finanzkrise sieht sie es anders.

An der Börse geht es einen Tag rauf, am nächsten Tag runter. Wird das mit der Zeit nicht langweilig?

Die Börse ist nicht einfach eine Kurve, die Börse ist die Herzfrequenz der Welt. Alles fliesst hinein: Politik, gesellschaftliche Unruhen, Krisen, aber auch Erwartungen und Hoffnungen. Die Aktien von Lebensmittelfirmen hängen von den Ernten ab, von den Rohstoffpreisen. Mich faszinieren die grossen Linien: Auf fast jeden Aktien-Crash folgt eine Krise der realen Wirtschaft. Die Anleger haben die Zeitungen von morgen schon gelesen.

Und schlagen daraus Profit?

Mich ärgern Leute, die behaupten, Aktien seien nur etwas für Raffgierige und Spekulanten. Sollen die Leute das Geld auf dem Sparbüchlein horten? Das nützt niemandem etwas. Ich finde es wirtschaftsethisch sinnvoll, das Geld in Firmen zu investieren, in Menschen, in Arbeitsplätze, in Innovationen.

Jetzt dürfen Sie von Berufs wegen keine Aktien kaufen.

Als Wirtschaftsjournalistin darf ich nicht in Verdacht geraten, für einzelne Firmen Partei zu ergreifen. Darum kann ich keine Aktien von einzelnen Firmen halten. Aber ich darf Fonds kaufen. Zum Beispiel einen Index-Fonds, der parallel zum Schweizer Aktienindex SMI läuft. Mit solchen Index-Fonds muss ich automatisch in alle Schweizer Aktien investieren, auch zum Beispiel in Banken, mit deren Bonus- und Lohnpolitik ich nicht einverstanden bin.

Warum verzichten Sie nicht darauf?

Weil es sinnvoll ist, wenn Kapital dort eingesetzt wird, wo es am effizientesten ist. Etwa in der Forschung und Entwicklung energiesparender Technologien.

Wenn Freunde und Verwandte Sie um Rat fragen, dann antworten Sie: «Kauft Nestlé! Kauft Novartis!»

Ich sehe mich nicht als Börsenguru. Ich sage höchstens: Investiert langfristig und nicht in eine Firma allein. Selber habe ich auch schon Themen-Fonds gekauft, zum Beispiel Gold. Das war das beste Geschäft meines Lebens.

Der Goldpreis ist stark gestiegen. Eine nächste Blase, die platzen könnte?

Gold ist an den Dollar gekoppelt. Das funktioniert nach dem Prinzip: Geht der Dollar runter, geht das Gold rauf. «Zurzeit ist Dollar nur noch Konfetti», sagt der Börsenguru Marc Faber. Behält er recht, steigt Gold weiter.

Sind Sie risikofreudig?

Privat schon. Ich reise gern. Im Umgang mit Geld bin ich aber vorsichtig. Dass Märkte übertreiben können, habe ich schon an der Uni gelernt. Im Boom der Neunzigerjahre wurden wir verwöhnt. Wir hatten noch nicht einmal das Grundstudium hinter uns, da buhlten die Firmen um uns und flogen uns mit Helikoptern herum. Dann kam die Krise, und viele meiner Kollegen fanden nicht einmal einen Job.

Vor einem Jahr waren Sie für «10 vor 10» im indischen Mumbai. Dort besuchten Sie nicht die Bankenviertel, sondern die Slums. Wie bringen Sie diese zwei Welten unter einen Hut?

Ich sah dort, wie Wirtschaft im Kleinen funktioniert, wie Not erfinderisch macht. Ich traf noch nie so viel Unternehmergeist an wie in den Slums von Mumbai. Klar: Es ist die Hölle, es gibt keine Medikamente, keinen Sozialstaat, keine Arbeitsrechte, alles ist schlimm.

Bringt Not die Leute auf neue Ideen?

Ja, weil so viele Menschen arbeiten wollen, entsteht ein Mikrokosmos – etwa mit kleinen Banken, die Kredite vergeben an arme Leute mit einer Rückzahlquote von 97 Prozent. Diese Form von Kreativität sehe ich in der Schweiz selten. Wir werden in ein bequemes Nest geboren und sind zufrieden. Wir sind nicht mehr hungrig nach mehr. Es ist erwiesen, dass wir ab einem Einkommen von 70 000 Franken nicht mehr glücklicher werden. Der Trend spiegelt sich in den Börsen: Der Boom findet in Brasilien statt, in China, in Indien.

Sind wir Schweizer zu reich, um noch kreativ zu sein?

Unter den Secondos entsteht statistisch gesehen viel mehr Unternehmertum als unter den Schweizern. Weil die Zuwanderer mehr kämpfen mussten. Die Gewichte verschieben sich: Die Vergangenheit war gesättigt, alt, männlich. Die Zukunft ist hungrig, jung, weiblich, wie das der Trendforscher David Bosshart schön formuliert.

Sind Frauen auch die besseren Börsianer?

Studien der Deutschen Bank zeigen, dass gemischte Teams in der Finanzkrise klar besser gearbeitet haben als Männer allein.

Heute investieren viele Leute in Öko-Fonds. Warum?

Weil sie dann ein gutes Gewissen haben. Das macht glücklicher, obschon man gerade auch mit Öko-Fonds in den letzten Jahren viel Geld verlieren konnte. Dennoch: Es ist ein Trend in die richtige Richtung. Wir müssen nachhaltiger leben, können nicht unbegrenzt unsere Ressourcen verschleudern.

Sie sehen nicht aus wie eine radikale Grüne.

Ich habe einen ökologischen Fussabdruck gemacht, er ist zu gross. Ich fahre kein Auto, nur nützt dies wenig. Denn ich wohne in einer schlecht isolierten Altbauwohnung.

Was läuft falsch in der Finanzbranche?

Das sehen ja alle. Um zu merken, was falsch läuft, muss man nicht Ökonomie studiert haben. Nur so viel: Vor jeder Krise ging die Lohnschere auseinander. Jetzt werden ganz oben schon wieder Rekordboni bezahlt.

Heisst das, die nächste Krise steht schon bevor?

Nein, doch die Krise wird uns noch eine Weile verfolgen, etwa in Form von hoch verschuldeten Staaten.

Haben Sie nie bereut, dass Sie Journalistin wurden und so weit weniger verdienen als in der Privatwirtschaft?

Fast alle meine Studienkollegen sind entweder bei der UBS oder der CS gelandet. Sie verdienen viel mehr als ich – aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie deswegen glücklicher sind.

Fotos Siggi Bucher

Ökonomin und TV-Frau

Patrizia Laeri, 33, ist seit 2008 Moderatorin von «SF Börse» – jeweils vor der «Tagesschau» – sowie Redaktorin beim Nachrichtenmagazin «10 vor 10». Sie lebt in Zürich. Nach dem Ökonomiestudium arbeitete sie in der Privatwirtschaft, 2002 stieg sie beim Schweizer Fernsehen als Praktikantin bei «Kassensturz» ein und realisierte in den folgenden Jahren Beiträge für die «Tagesschau» und die «Rundschau».

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