Heute steht sie vor der ganzen Klasse. Zusammen mit zwei Kameradinnen hält sie einen Vortrag zum Thema 1. August. Carla präsentiert Bilder alter Trachten mit Frauen in langen Röcken und Männern in kurzen Hosen. Die Elfjährige referiert ruhig und klar.
Eine Stunde später beim Turnen darf sie, wie gesagt, keine Bäume purzeln. Doch wenn ihr beim Mattenlauf ein Fehler unterläuft, macht sie zur Strafe sieben Liegestütze so, wie alle andern auch.
Angst hat Carla in der Schule nicht. Angst hat sie in der Nacht. Weil alle epileptischen Anfälle, die sie bisher durchgemacht hat, in der Nacht geschahen. Carla spürte «etwas» kommen, was Neurologen eine «Aura» nennen (siehe Box). Was sie dabei spürte, kann sie nicht genauer sagen. Auf jeden Fall stieg sie die Treppe hinauf zur Mutter Barbara Seffinga. «Carla war blau im Gesicht, atmete kaum, war nicht mehr ansprechbar und schlotterte. Ihre Füsse waren kalt und wurden steif.» Die Mutter dachte, ihr Kind stirbt.
Im Kinderspital mussten sie zusammen in einem Zimmer warten. «Mami, jetzt kommt es wieder.» Die Mutter drückte auf die Klingel, Ärzte rannten herbei und gelangten mit eigenen Augen zur Diagnose: Das hier war ein Status Epileptictus, ein länger anhaltender Krampf. «Die haben wohl vorher geglaubt, ich sei eine hysterische Mutter», dachte Barbara Seffinga. Nun staunte sie, wie das medizinische Fachpersonal mit ihrer Tochter umging: «Carla durfte einen Tag lang nicht mehr aufstehen und wurde im Rollstuhl von einer Untersuchung zur nächsten geschoben.»
Seit diesem ersten Mal hatte Carla drei weitere Anfälle: alle in der Nacht. Wie und was passiert, kann die Elfjährige so wenig erzählen wie erwachsene Epileptiker. Sie erlebe das halb bewusst, halb bewusstlos. Einmal sah sie Fröschlein rund um ihre zitternden Beine. «Carla träumt viel», sagt ihre Mutter. «Kürzlich ging sie in die Waschküche, um Zahlen zu suchen.» Das sei doch nur schlafwandeln, meint Carla.
Valium in flüssiger Form
Neurologen nehmen solche Symptome ernst. Sie formulierten einen Notfallplan, den ihre Mutter in den Computer tippte und mehrfach ausdruckte. Zuoberst steht: «Schauen, dass Carla sich nicht verletzen kann.» Darum soll man sie «sofort in Seitenlage bringen». Nächster Punkt: «Eine Person bleibt bei Carla» um sie zu beruhigen und ihr das Notfall-Medikament zu verabreichen: Diazepam. Das ist Valium in flüssiger Form, verpackt in einer Tube, die man wie ein Grippezäpfchen in den Po einführt. «Normalerweise dauert der Anfall zwei bis drei Minuten», heisst es optimistisch in Carlas Notfallplan.
Dieses Stück Papier half: der Mutter, dem Vater, dem Bruder, der Schwester, dem Babysitter, der Lehrerin, den Kameradinnen und Kameraden in ihrer Schule. Carla hat im Klassenrat selber darüber gesprochen und alle informiert. Von da an wusste ihr Umfeld, wie zu reagieren wäre.
Nur eine Person blieb verunsichert zurück: Carla. In Nächten, in denen die Angst neu über sie kam, schlich sie die Treppe hoch und bettelte: «Mami, gib mir Valium.» Als der Kinderarzt davon hörte, sagte er streng zu Carla und ebenso streng zu ihrer Mutter: «Lasst euch nicht ins Bockshorn jagen und versteckt die Valiumpaste!»
Ist Carla in der Schule müde?
Inzwischen schluckt Carla Anti-Epileptika: zwei Tabletten am Morgen, zwei am Abend. Diese Tabletten sollen Anfälle prophylaktisch verhindern mit allen erwünschten und unerwünschten Wirkungen und Nebenwirkungen. Anti-Epileptika dämpfen die erhöhte Erregbarkeit des Nervensystems, wirken muskelentspannend, was auf Deutsch heisst: Sie machen müde, manchmal schwindlig. Manche Kinder verlieren die Konzentration so stark, dass sie in der Schule auf sonderpädagogische Massnahmen angewiesen sind.
Auch Carla? «Ist sie in der Schule müde?», fragt ihre Mutter Barbara Seffinga besorgt die Lehrerin. Judith Spangl, antwortet: «Nur so müde, wie manch anderer Schüler auch sein kann.»
In der Freizeit bleibt Carla aktiv wie je. Fährt Velo, spielt mit den Hasen, reitet einmal in der Woche aus, fährt im Winter im Skiclub mit. In den Herbstferien hat sie sogar im Meer geschnorchelt. Würde sie hingegen allein im nahen Greifensee baden gehen, hätte ihre Mutter Angst. Das darf sie nicht, warnen auch Ärzte.
«Jetzt ist sowieso Winter», antwortet Carla, lacht und demonstriert auf diese Weise: Sie hat gelernt, mit dem Risiko auf natürliche Art umzugehen dank Familie, den Schulkamerädli und der Lehrerin.
Fotos René Ruis
Wer bietet Rat?
ParEpi, die Vereinigung der Eltern epilepsie-
kranker Kinder. Zum Angebot gehören Kurse
für Eltern und Kinder. Tel: 043 488 65 60 begin_of_the_skype_highlighting 043 488 65 60 end_of_the_skype_highlighting
www.parepi.ch
Epi-Suisse: Die Schweizerische Vereini-
gung für Epilepsie und epilepsiebetroffene
Menschen richtet sich vor allem an
erwachsene Patienten. Tel: 043 488 68 80 begin_of_the_skype_highlighting 043 488 68 80 end_of_the_skype_highlighting
www.epi-suisse.ch
Epilepsie Warum sie entsteht und wie man sich schützt
Was ist Epilepsie?
Eine vorübergehende Funktionsstörung im Gehirn. Die vielen Nervenzellen, die normalerweise genau aufeinander abgestimmt sind, kommen für einen Moment aus dem Gleichgewicht und entladen sich auf verschiedene Art. Wegen der Vielfalt der Formen spricht man Epilepsie meist in der Mehrzahl aus: Epilepsien. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Kontrolle über einzelne Körperfunktionen verloren geht.
Wie sieht ein «Anfall» aus?
Kleine Anfälle äussern sich in kurzen Absenzen, Aussetzern, Pausen, die kaum wahrnehmbar sind. Die betroffene Person fällt nicht in Ohnmacht und stürzt nicht. Auf Französisch nennt man solche Anfälle «Petit-mal». Schwerere Anfälle halten länger an: Die betroffene Person verliert das Bewusstsein, stürzt, «krampft». Das äussert sich zum Beispiel in wilden Zuckungen oder langsamen Streckungen der Arme und Beine. Auf Französisch nennt man solch sichtbare Anfälle «Grand-mal». Dauern sie länger an, sprechen Mediziner von einem Status Epilepticus.
Was ist eine «Aura»?
Das Gefühl im Kopf oder im Magen, das einem Anfall vorausgeht. Das kann Schwindel sein, Kopfleere, Tränenfluss, eine schleppende Sprache, ein Kribbeln oder Ameisenlaufen auf der Haut. In seltenen Fällen auch Euphorie. Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski, selber ein Epileptiker, sagte einmal: «Ich weiss nicht, ob diese Glückseligkeit Sekunden oder Stunden oder Monate währt, aber glauben Sie mir aufs Wort, alle Freuden, die das Leben geben kann, würde ich dafür nicht eintauschen.»
Was ist die Ursache?
Viele Epilepsien sind angeboren. Andere sind Folgen einer Hirnanlagestörung oder einer Hirnverletzung nach Hirntumoren oder Hirnblutungen. In Folge von Hirnoperationen können rund um die Vernarbungen epileptische Herde entstehen. In mehr als der Hälfte der Fälle jedoch bleibt die Ursache unbekannt trotz sorgfältiger Abklärung.
Wie viele Menschen sind betroffen?
In der Schweiz etwa 70 000 Erwachsene und 15 000 Kinder.
Wie wirken Medikamente?
Rund 70 Prozent der Betroffenen haben dank Tabletten keine Anfälle mehr. Gängige Marken sind Keppra, Tegretol, Dekapine, Lamictal oder Orfinil. Bei akuten Fällen werden auch stark beruhigende Tabletten eingesetzt (Benzodiazepine wie Valium oder Urbanyl).
Wie können sich die Betroffenen selber schützen?
Indem sie keinen Alkohol trinken, regelmässig schlafen, Stress und zu viele Reize meiden (Lärm, laute Musik und grelles Licht). Kinder mit grösserem Risiko müssen auch im Alltag einen Helm tragen, damit sie sich bei einem Sturz nicht verletzen können. Aber eigentlich sollten von Epilepsie Betroffene leben wie gesunde Menschen und sich wegen der allfälligen Vorsichtsmassnahmen an den Rat ihrer Ärzte halten.