Wir pendeln, also sind wir

Politiker und Professoren behaupten, die Pendler seien gestresst und unglücklich. Sie würden die Luft verpesten, das Land zersiedeln, Lärm machen und viel Geld kosten. Zeit für eine Richtigstellung.
10.03.2011, Schweizer Familie
Das alte Lied kommt aus dem Untergrund. «Warum syt dir so truurig?», fragte Mani Matter. «Söttet emal öiji Gsichter gseh, wenn der fahret im Tram.» Er selber fuhr mit dem Auto zum nächsten Konzert, als er in in einen Baum raste und auf der Unfallstelle starb. Die neue Lehre kommt von oben aus dem Elfenbeinturm. Bruno S. Frey, international renommierter Gücksforscher der Universität Zürich, will herausgefunden haben, was ein langer Arbeitsweg mit sich bringt: Stress, Stress und nochmals Stress.Ob Sozialwissenschaftler oder Troubadour, beide übersehen, was Pendeln ist: unser Lebenselixier. Ein Zaubertrank, der uns Flügel verleiht. Die kleine Schweiz ist kein Amerika mit unbegrenzten Landreserven. Dort müssen die Leute nicht pendeln, dort dürfen sie zügeln: ihren Jobs hinterher, von Ort zu Ort, locker, ohne Sack und Pack. Im neuen Haus angekommen, fahren sie zum Möbelladen und posten sich ein neues Bett samt Schrank. Das ist der typische American Way of Life. Jedes Individuum muss jederzeit mobil sein. Sonst erlahmt die Gesellschaft, sonst kann sich der Kapitalismus nicht frei entfalten.Anders in der engen Schweiz. Wir werden sesshaft. Haben wir einmal eine Wohnung gefunden, die uns gefällt und sogar zahlbar ist, kleben wir darin fest – und geniessen den gesetzlichen Schutz vor Mietzinserhöhungen. Die alte Loge ist fast in jedem Fall günstiger ist als jedes neue Appartement.

Das Nachsehen haben die andern, die auf neuen Wohnraum angewiesen wären: Schweizer Familien mit Kindern und die vielen Zuwanderer aus dem europäischen Ausland. Sie alle müssen dort einziehen, wo neuer Wohnraum errichtet wird: in den Vorstädten, in der Provinz, auf dem Land. Resultat ist unser täglicher Arbeitsweg hin und zurück. Deswegen brauchen wir Pendler kein schlechtes Gewissen zu haben, im Gegenteil. Wir sind nicht das Problem, wir sind die Lösung. Damit in der Schweizer Enge die Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer finden, müssen die Leute flexibel sein. Mobil. Zum Wohle der Schweiz.

Wir pendeln, also sind wir. Moderne Nomaden, die traditionellen Bauern ähneln. Denn wir werden zu gemütlichen Subventionsempfängern im Dienst der Umwelt. Wie Landwirte um Hangbeiträge kämpfen, so verteidigen wir Steuerabzüge für ÖV-Abonnemente und Kilometerpauschalen.

Dabei lassen wir uns nicht auseinanderdividieren. «Die Guten» sitzen so wenig im ÖV, wie «Die Bösen» im PW die Abgase rauslassen. Wir alle tun dasselbe: Wir fahren von daheim zur Arbeit – und das in gewaltigem Ausmass. Umgerechnet in Kilometer transportieren private Autos fünfmal mehr Passagiere durchs Land als das gesamte System des öffentlichen Verkehrs. In Zukunft werden diese Ströme kaum verlagert: Auf der Strasse ist der Zuwachs zweimal höher als auf der Schiene.

Warum bloss stehen die Autopendler zurzeit weniger in der Kritik? Weil der «explodierende» Strassenverkehr kaum wahrgenommen wird. Das ist dem technischen Fortschritt zu verdanken: Autos sind «sauberer», «leiser» geworden – und aus Sicht der Allgemeinheit «billiger». Autofahrer finanzieren mit ihren Treibstoffzöllen wenigstens ihre Strassen selber und leisten sogar einen Obolus an die Neue Eisenbahn-Transversale Neat.

Wer hingegen ein Billett für den Zug, das Tram oder den Bus löst, zahlt weniger als die Hälfte der effektiven Betriebskosten. Die ganze Infrastruktur (Gleise, Tunnels, Bahnhöfe, Stellwerke samt Unterhalt) gibts zum Nulltarif obendrauf. Da darf sich niemand wundern, wenn zu Stosszeiten in den Zügen, Trams und Bussen alle Plätze besetzt und Perrons verstopft sind.Was fast gratis ist, wird voll genutzt. Wir Pendlerinnen und Pendler tun nur, wozu uns die Politikerinnen und Politiker ermuntern. Wir schonen die Umwelt.

So ändern sich die Zeiten. Zu Mani Matters Tagen mögen wir noch traurig aus dem Tram geschaut haben, inzwischen geniessen wir neue Freiheiten. Im Postauto, auf dem Schiff, im Zug versenden wir Mails und SMS, verfolgen Börsenkurse oder Wetterprognosen. Wir telefonieren (aus Anstand leise), wir entspannen uns mit Musik.

Und schauen wir träumend aus den SBB-Fenstern, erkennen wir: Neues entsteht im ganzen Mittelland. Wohnblöcke, Strassen, Einfamilienhäuser, Bürotürme werden aus dem Boden gestampft. Pro Sekunde wird ein Quadratmeter grüne Wiese verbaut. Pro Tag sind das zehn Fussballfelder. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist: Sehen wir über den Stadtrand hinaus, fahren wir mit einem hoch subventionierten Regionalzug die Täler hinauf, den Blick nach oben schweifend, entdecken wir: Auf dem Berg oben wächst Grünes nach. Pro Sekunde verwandelt sich ein halber Quadratmeter Alp in Gebüsch und später in Wald. Pro Tag sind das fünf Fussballfelder.

Diese Verwaldung, die manchmal «Vergandung» geschimpft wird, ist eine schöne Wiedergutmachung. Oben in den steilen Hängen waltet die Natur, wild spriesst sie in die Höhe, während im Mittelland Siedlungen aus dem Boden schiessen. Das ist schade, aber anders geht es nicht, denn wir alle wünschen grosse und immer grössere Wohnungen. Irgendwo muss dieser neue Wohnraum gebaut werden.

Die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf nimmt laufend zu, bald sind wir bei 50 Quadratmetern pro Person angelangt. Was beweist: Die Schweiz ist nicht reich, sie wird reicher. Unser Wohlstand wächst weiter.

Damit diese Rechnung auch in Zukunft aufgeht, müssen wir unseren knappen Boden besser nutzen. Zum Beispiel, indem wir höher bauen. Zürich hat jetzt immerhin einen 105,5 Meter hohen «Wolkenkratzer» und Basel demnächst eine hübsche «Skyline». Schön sichtbar aus unseren fahrenden Zügen.

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