«Mein Kopf ist noch klar»

Der amerikanischen Psychologe Richard Tylor über sein Leben mit Alzheimer
30.06.2011, Schweizer Familie
Interview Markus Schneider und Ginette Wiget Richard Taylor empfängt uns in Schüpfen bei Bern im Haus seines Lektors. «Ich bin Richard», stellt er sich vor. Fast zwei Meter gross, zeigt er auf den Esstisch. «Fühlen Sie sich frei, setzen Sie sich.»Schweizer Familie : Wie geht es Ihnen?

Richard Taylor: Sehr gut. Ich war so müde, dass ich die ganze Nacht durchgeschlafen habe. Sonst stehe ich meist um vier oder fünf Uhr auf. Leute mit Demenz schlafen schlecht, machen aber tagsüber mehr. Das ist die schöne Seite.

Waren Sie früher schon in der Schweiz?

Mir wird gesagt, dass ich vor einem Jahr schon einmal in Zürich war, um einen Vortrag zu halten. Das kann höchstens für zwei, drei Tage gewesen sein.

Ärgern wir Sie, wenn wir Sie so etwas fragen, um Ihr Gedächtnis zu testen?

Machen Sie ruhig weiter. Sie dürfen einfach nicht beleidigt sein, wenn ich etwas vergessen habe. War ich schon einmal in der Schweiz oder nicht? So etwas fragt man Leute mit Demenz normalerweise nicht. Doch das ist falsch. Nehmen Sie keine Rücksicht, fordern Sie mich heraus, das habe ich gern.

Man traut Ihnen nicht so viel zu?

Vor allem schaut man mir nicht mehr in die Augen. Man fragt mich auch kaum normales Zeug wie: «Richard, wie geht es dir heute? Hat dir das Frühstück geschmeckt?» Die Leute fürchten, solche Fragen tönen wie: Richard, was läuft heute wieder falsch bei dir? In Amerika nennen wir das «the long goodbye», den langen Abschied. Himmel, ich bin doch immer noch da! Heute Morgen habe ich echte Berner Kühe beobachtet. Ich schlummere nicht einfach weg. Klar kann ich nicht mehr so gut lesen. Aber wenn man anfängt, mir alles vorzulesen, werde ich bald tatsächlich nicht mehr lesen können.

Sie lesen noch Zeitung?

Höchstens fünf Minuten. Leute mit Demenz verlieren nicht die Fähigkeit zu lesen. Sie verlieren das Interesse. Vielleicht lese ich den Titel, oder einen Abschnitt. Nach zwei, drei Sätzen habe ich bereits etwas Neues im Kopf. Das ist frustrierend. Früher, als Psychologe, gab ich andern Leuten schlaue Ratschläge. Heute sollte ich mir selber den Rat geben: Richard, höre auf, die Seiten so schnell zu blättern, so kannst du doch gar nicht lesen. Konzentriere dich! Und mach mal eine Pause, du redest zu viel!

Womit haben Sie sonst aufgehört?

Ich darf nicht mehr Auto fahren. Ich kann nicht mehr mit Geld umgehen, weil ich Rechnungen entweder zwei Mal oder kein Mal bezahle. Ich weiss nicht mehr, was ich am Abend zuvor im TV sah. Was war Ihre Frage? Ach ja, ich musste meinen Beruf aufgeben. Ich machte den Fehler, an der Universität meinem Dekan zu sagen, dass ich eine Demenz habe, möglicherweise vom Typ Alzheimer. Aber nur eine milde Form, kein Problem. Ich war fest überzeugt, als Professor meine Vorlesungen weiter halten zu können, vielleicht mit etwas Assistenz. Dann wurde ich gefeuert.

Von einem Tag auf den andern?

Genau. Und nur weil ich dem Dekan diese kleine Information preisgab. Er war ein Freund von mir. Doch sobald er etwas von Demenz hörte, war ich jemand anders für ihn.

Sie fühlen sich nicht krank?

Als ich die Diagnose erhielt, sagte man mir, die durchschnittliche Lebensdauer betrage noch zehn Jahre. Ein Todesurteil, ausgesprochen vor genau zehn Jahren. Heute sitze ich hier und lache darüber. Klar, ich vergesse viel, bin oft verwirrt, verwechsle manche Dinge, begreife Kompliziertes nicht mehr so schnell. Alles Symptome von Alzheimer. Aber alles gehört auch zum normalen Älterwerden. Deswegen erschrecken die Leute, wenn sie die Diagnose erhalten. Das ist der berühmte «Alzheimer-Moment». Von einem Moment zum andern ist alles anders, und du wirst stigmatisiert. Das ist lustig.

Sie scherzen.

Wer nicht mehr über sich selber lachen kann, nimmt sich zu wichtig. Stellen Sie mir weitere Fragen!

Sie haben die Alzheimer-Diagnose früh erhalten, bereits mit 58  …

… und seither weiss ich immerhin, wie ich sterben werde. Ich werde in einem Stuhl sitzen, stumm vor mich hin dämmern, aber ansonsten nicht viel merken. Es geht abwärts und abwärts. Das wissen alle, die Alzheimer haben. Aber es geht langsam abwärts. Die Leute um uns, die kein Alzheimer haben, sehen nur das Ende und meinen, wir «leiden» an Alzheimer. Welch ein Unsinn! Ich leide nicht, physisch tut mir gar nichts weh. Ich empfinde psychischen Schmerz im Herz und im Geist rund um die Frage: Wie kann ich im Hier und Jetzt noch ein glückliches, aufregendes Leben führen?

Ginge es Ihnen besser, wenn Sie nicht wüssten, dass Sie Alzheimer haben?

Als mir der Neurologe sagte, ich hätte Demenz, sassen meine Frau und mein Bruder im Raum. Wir sagten kein Wort. Beim Heimfahren sprachen wir immer noch kein Wort. Als ich aus dem Auto stieg, begann ich zu weinen. Drei Wochen lang weinte ich, drei Wochen lang. Ich bin ein ziemlich guter Psychologe, aber ich fand nie heraus, warum ich so lange geweint habe. War es die Angst, ich werde die Kontrolle über mich selbst verlieren? Oder war es die Idee, ich könnte zweimal sterben? Das sagen doch alle: Jetzt stirbst du zweimal. Das erste Mal, wenn du die Diagnose erhältst – das zweite Mal, wenn du tatsächlich stirbst. Zum Teufel, niemand kann zweimal sterben!
An dieser Stelle legt Richard Taylor plötzliche eine Pause ein. Er stiert auf die Tischplatte. Wir warten. Dann redet er von neuem los.
Meine Tante hatte Alzheimer. Als sie inkontinent wurde, steckte man sie in ein Heim. Zweimal in der Woche nahm ich den Zug nach Chicago, um ihr Babynahrung einzulöffeln. Sie sass in einem grossen Raum mit lauter Schizophrenen, so etwas verstand ich schon als Bub nicht. Meine Tante war doch immer noch ein menschliches Wesen! Ihr Leben hatte noch eine Qualität und einen Sinn!

In einem Youtube-Film, den Sie ins Internet gestellt haben, sagen Sie, Alz­heimer sei Ihr neuer Sinn des Lebens.

Ich startete ein zweites Leben, indem ich mit Schreiben angefangen habe. Jeden Tag von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr abends schreibe ich. Jeden Morgen lese ich nach, was ich am Tag zuvor geschrieben habe. Solange ich verstehe, was ich schreibe, weiss ich: Ich bin noch okay. Irgendwann begann ich, anderen Leuten zu zeigen, was ich so schreibe. Die fanden das interessant. Daraus wurde ein Buch. Als es herauskam, wurde ich angefragt, einen Vortrag zu halten. Ich hätte das ­Ticket selber bezahlt, so glücklich war ich, dass mir jemand zuhören wollte. Meine Familie wurde langsam müde, mir immer zuhören zu müssen.
Der Fotograf fragt, ob Richard Taylor draussen vor dem Haus auf einen Felsen klettern kann. Selbstverständlich macht er mit. Oben angekommen, reisst er die Arme in die Luft: «Ich habe das Matterhorn bestiegen!» Währenddessen reden wir mit seiner Frau Linda Taylor.

Wir haben gelesen, Richard habe es nicht gern, wenn man ohne ihn über ihn redet.

Linda Taylor: Was er nicht ausstehen kann, ist, wenn ein Arzt seine Fragen an mich richtet, während er dabeisitzt. Da fühlt er sich entmündigt.

Was ist, wenn er allein zu Hause ist?

Ich arbeite als Krankenschwester, wir haben eine Hilfskraft. Zudem wohnt sein Sohn mit den beiden Enkelkindern gleich gegenüber. Natürlich kann immer etwas passieren. Am 1 . Januar verliess Richard das Haus. Sieben Stunden haben wir nichts gehört, sieben. Als wir ihn fanden, hatte er keine Schuhe mehr an.

Wie haben Sie ihn entdeckt?

Sein Bruder war krank, er wollte ihn besuchen. Aber der lebt in einem andern Staat. Richard lief zur Busstation, die meilenweit weg ist. Es kam kein Bus, es war ja Feiertag. Dann rief er uns per Telefon an, womit wir eine Nummer hatten, auf die wir zurückrufen konnten. Er war in einem Restaurant. Als wir dort ankamen, war er schon wieder weg. Wir fanden ihn auf einem grossen Feld.

Woher hatte er die Telefonnummer, um Sie anzurufen?

Er trägt immer zwei Stück Papier auf sich mit zwei Fotos samt den zwei Nummern. Damit er allen Leuten sagen kann: Das ist meine Frau, das ist mein Sohn.

War er traurig, als Sie ihn fanden?

Er war wütend. Ich fragte: Richard, wo sind deine Schuhe? Wo ist deine Brille, wo ist dein Portemonnaie? Er antwortete nur, wir stellten ihm zu viele Fragen. Dann wollte er ins Bett.

Wenn wir heute mit Ihrem Mann reden und nichts wüssten, würden wir nichts von Alzheimer merken.

So geht es allen. Mit mir allein ist er schon auch frustriert. Er merkt sehr wohl, dass ich ihm überall helfen muss. Wenn er eine Strasse runtergehen will, muss ich ihm sagen, das ist die falsche Strasse. Für mich ist das okay, aber ihn ärgert das.
Richard Taylor kommt vom Fototermin zurück, bestens gelaunt.

Ihre Frau erzählte uns gerade, wie Sie von zu Hause weggelaufen sind.

Richard Taylor: Ja, mein Bruder. Ich machte mir so grosse Sorgen um ihn, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Meine Grosskinder waren dabei, als ich auf jenem grossen Feld gefunden wurde – ohne Schuhe, mitten im Winter. Das war mir peinlich.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie allein zu Hause sind? In einem Käfig gefangen?

Ich fühle mich nicht so, ich bin es. Die Türen sind zwar nicht fix verriegelt. Es hängt ein Schlüssel da, den ich hinein­stecken und drehen könnte. Aber bald werde ich diesen hängenden Schlüssel nicht mehr als passenden Schlüssel erkennen. Das ist eine Aussicht, als wenn man mir kaltes Wasser ins Gesicht schütten würde. Zum Glück kann ich mit ­meinen Enkelkindern noch Velotouren machen, Kinder haben einen gesunden Umgang mit Behinderungen.

In Ihrem Buch «Alzheimer und Ich» nennen Sie drei Stufen von Alzheimer. Stufe eins: Man entdeckt an sich selber, dass etwas nicht mehr stimmt. Stufe zwei: Man realisiert, dass man ein anderes Leben führen muss. Stufe drei beginnt …

… wenn man nicht mehr merkt, dass man über Stufe zwei hinaus ist.

In welchem Stadium sind Sie?

Ich habe einen Fuss in der ersten und den anderen Fuss in der zweiten Stufe. Ich habe alle Symptome. Trotzdem spüre ich noch, ob mir das Essen schmeckt. Ich habe noch Sex. Mein Kopf ist noch klar.

Haben Sie Angst vor Stufe drei?

Ich habe mehr Angst, als Sie mir vielleicht anmerken. Sie zögern … Ich erlebe auch andere Momente. Neulich war ich an einem Nachtessen in einem ­Alzheimer-Heim. Fünfzehn Leute an einem langen Tisch. Niemand sagt etwas, niemand lacht. Bis ich sage: Seht her, ich habe ein Problem, ich vergesse fast alles. Hat jemand von euch dasselbe Problem? Als eine Frau den Arm aufstreckt, tut einer nach dem andern dasselbe. Jemand sagt: Ich weiss nicht, was ich dagegen tun soll. Andere sagen etwas anderes. Das waren Leute, die vorher jahrelang kein Wort mehr herausgebracht hatten. Weil niemand wissen wollte, was im Kopf von Leuten, die Alzheimer haben, vorgeht. Das zu erleben, war ein hoffnungsvoller Moment.

Warum?

Weil ich glaube, dass uns der «human spirit», dass uns die Seele nie verlässt. Dafür müssen wir kämpfen: Wir sind immer noch menschliche Wesen, die zum Beispiel berührt werden wollen. Wir schlummern nicht einfach dahin.

Was hilft Ihnen?

Ich aktiviere meine gesunden Hirnzellen. Mit Kartenspielen, Bridge, Computerspielen. Ich empfehle allen Leuten mit kognitiven Behinderungen: Meldet euch zu Wort! Redet! Sind Sie bei Facebook? Werden Sie dort meine Freunde, jede Form von Kommunikation tut mir gut.

Jetzt haben Sie mehr als zwei Stunden gesprochen. Sind Sie müde?

Ja, ich möchte ein Nickerchen machen.

Heute Abend halten Sie in Zürich eine Rede. Werden Sie uns dann wieder erkennen?

Ich werde so tun als ob.

Biobox:

Richard Taylor, Professor für Psychologie in Texas, ist heute 68 Jahre alt. Vor zehn Jahren erhielt er die ­Diagnose Alzheimer. Seither beobachtet er sich selber, schreibt Bücher über sein Schicksal und hält Vorträge und Reden. Er ist auch im Internet sehr aktiv. Auf der sozialen Plattform Facebook ist er unter dem Namen «Richard Taylor, PhD» zu finden, und seine Website lautet:
www.richardtaylorphd.com

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