Die letzte Meile

Der Ökonom Markus Schneider verfasste eine Kosten-Nutzen-Rechnung des medizinischen Fortschritts. Dann landete er unversehens selber auf der Intensivstation.
02.08.2011, NZZ Folio
Nüchtern hatte ich analysiert und mit Zahlen belegt, wie sich der medizinische Fortschritt verlangsamt. Auch für viel Geld, so meine These, lasse sich unsere Lebenserwartung nicht mehr gross steigern. Dies sei nicht als Kritik zu verstehen, sondern als Kompliment: «Das Wunder ist vollbracht!» Das Wunder nämlich, dass von der Geburt bis zur Pensionierung praktisch nichts mehr schiefgehen kann.Jetzt ergänze ich aus persönlicher Erfahrung: Das Wunder ist nicht nur vollbracht, ich habe es selber erlebt. Im August 2007 wurde mir eine Aortenklappe aus Titan ins Herz gepflanzt. Im Anschluss kam es zu Komplikationen mit Hirnblutungen, die spitzenmedizinisch gemeistert wurden. Wochenlang hing ich an den Apparaten in der neurochirurgischen Intensivstation im Universitätsspital Zürich. Seit ich dort aufgewacht bin, haben mir etliche Ärzte versichert: Früher seien Pa­tienten in meiner Situation einfach gestorben.

Ich hingegen konnte soeben meinen 51. Geburtstag feiern und habe statistisch noch 31 Lebensjahre vor mir, die ich hoffentlich ge­nies­­sen kann. Genau darauf achtet ein Ökonom, um zu beurteilen, ob sich eine Operation lohne: auf die Anzahl der gewonnenen Lebensjahre bei befriedigender Lebensqualität. «Gute Noten erzielen zum Beispiel Herzklappenersatz-Operationen oder neurochirurgische Eingriffe bei Kopfverletzungen», schrieb ich in erschreckender Voraussicht.

Nun bin ich wieder fast gesund. Ich arbeite in meinem Beruf als Journalist, bin dabei aber auf die Invalidenversicherung und den guten Willen meines Arbeitgebers angewiesen. Ich werde weiterhin ärztlich betreut und therapiert. Denn ich kann mich nicht mehr so gut konzentrieren und auch nicht mehr so gut logisch denken. Trotzdem wage ich folgendes Fazit: Die moderne Medizin ist kein Sisyphus, der alte Menschen noch ein wenig älter macht. Die moderne Medizin ermöglicht uns, alt zu werden.

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