Wo der Herbst besonders leuchtet

Das Moor von Rothenthurm: Weekend-Tipp

06.10.2011, Schweizer Familie

Am Bahnhof Rothenthurm treffen wir uns zur Moorwanderung. Sieben Erwachsene, zwei Kinder. «Ich bin Albert, in Rothenthurm geboren und hier aufgewachsen», stellt sich Albert Marty vor und zeigt auf die imposante Kirche von Rothenthurm mit ihrem Turm, der 33 Zentimeter höher ist als jener bei der Kirche im Kantonshauptort Schwyz. Der Pfarrer habe das so gewollt – aus Trotz. Als er das Geld dafür eigenhändig zusammenbettelte, wollte die Kantonsregierung keinen Rappen spenden.Wanderführer Albert entpuppt sich als Geschichtenerzähler, der Land und Leute wahrlich kennt. «Guetä Morgä Tobias», grüsst er den Bauern, der zwei Kühe quer über die Strasse treibt. Bei ihm hat das Vieh Vortritt, die Autos müssen warten.
Berühmt wurde Rothenthurm am 6. Dezember 1987, als das Schweizervolk die Moorlandschaften der Schweiz unter Schutz stellte. Nur das Wallis, der Thurgau und der betroffene Kanton Schwyz haben die Rothenthurm-Initiative abgelehnt. Wie Albert Marty damals abgestimmt hat, möchte er lieber nicht sagen.
Heute jedenfalls ist Marty «der beste Kenner von Fauna und Flora, Kultur und Entstehungsgeschichte der einmaligen Landschaft», wie der «Einsiedler Anzeiger» lobt.
Mehr als zehn Qadratkilometer misst das Moor von Rothen­thurm. Uns zeigt Marty eine Spinne, die im taufrischen Gras ihr Netz spannt, während die aufgehende Sonne erste Strahlen durch den Nebel sendet. Dann präsentiert er die fleischfressende Pflanze Sonnentau. Mit glitzerndem Sekret lockt sie Insekten an, die kleben bleiben. «Meine Mutter hat Sonnentau gesammelt und nach Genf geschickt. Die machten daraus Kosmetika und Heilmittel gegen Husten.»
Albert ist kein studierter Biologe, er war Berater einer Versicherung. Seit seiner Frühpen­sionierung liest er noch mehr über die Natur als früher. Dieses Wissen will er nun weitergeben. Also führt er Schulklassen, Familien oder ganze Betriebe durchs Naturschutzgebiet, als wäre er «Moorlehrer» von Beruf.
Er nimmt einen Schwamm aus der Tasche, legt ihn in einen Teller und giesst Wasser hinein. Um uns zu demonstrieren: Genau so entsteht Moor. Das Torfmoos schlägt keine Wurzeln, es steht direkt im Wasser und saugt dieses auf wie ein Schwamm. Albert Marty zieht ein Büschel Moosgräser aus dem Boden, drückt darauf und flutsch, Wasser spritzt heraus.
Das Torfmoos stirbt von unten her und vertorft. Langsam. Einen Millimeter wächst der Torf pro Jahr. Bis ein Moor ein Moor ist, vergehen Jahrtausende.
Wo das Hochmoor endet, sieht Albert den Pflanzen an. Im Hochmoor stehen sie direkt im Regenwasser, und Regenwasser ist so sauer, dass darin nur zwei Handvoll Arten gedeihen. Die Flachmoore hingegen sind in Kontakt mit dem Grundwasser und darum halbsauer. Hier gibt es über hundert verschiedene Pflanzenarten.
Zum Beispiel die schlichte schnurgerade Binse. Die hat keinen Zweig, selbst wenn man noch so lange suchen ginge. Das sei eben eine sprichwörtliche «Binsenwahrheit». Da wird ein Kind von einer Wespe gestochen. «Komm», sagt Marty, nimmt einen Spitzwegerich und tupft etwas Saft auf die Wunde. «Das ist die beste Medizin.»
Je nach Jahreszeit wechselt er ­ sein Programm. Jetzt, im Herbst, besuchen wir eine Vogel­beringungsstation. Im Frühling gibt es dafür Schmetterlinge zu beobachten und Orchideen zu entdecken, im Sommer macht man Kräutertouren samt Suppenkochen im Wald oder Mondscheinwanderungen. Im Winter geht es auf Schneeschuhen los. Die meisten, die einmal hier waren, kommen später wieder, sagt Albert Marty.