Das Wörterbuch der Finanzkrise

27.10.2011, Schweizer Familie
Seit Sommer 2008 folgt eine Hiobsbotschaft auf die nächste: Aktien sinken, Banken wanken, der Staat rettet, die Nationalbank interveniert, Griechenland ist praktisch pleite, die USA sind nicht mehr voll kreditwürdig, und wir Schweizerinnen und Schweizer müssen um unsere Altersrenten bangen, weil Pensionskassen Verluste einfahren. Was läuft schief? Wo? Warum? Wie? Experten überschütten uns in ihren Antworten auf diese Fragen mit Fachenglisch, ganz ähnlich, wie «Zentralbanken» die «Geldmärkte» mit «Liquidität» überschwemmen.Die «Schweizer Familie» bietet Hilfe: Wir erklären die wichtigsten Begriffe – so einfach wie möglich. 19 sind es geworden. Diese haben wir nicht alphabetisch geordnet, sondern inhaltlich. Um die innere Mechanik der ­Finanzkrise zu zeigen und verständlich zu machen, wie aus einem lokalen Feuer (Immobilien-Crash in den USA) ein Brand geworden ist, der die ganze Welt bedroht. Wir konzentrieren uns der Einfachheit halber auf das Finanzwesen. Alles andere blenden wir aus: die Auswirkungen auf einen griechischen Fischer, einen Obdachlosen in New York oder einen Schweize r Autokäufer._Finanzkrise
Alle reden davon, unklar bleibt, was genau gemeint ist. Sicher ist nur, dass die jetzige Krise nicht die erste in der ­Geschichte ist. In der Weimarer Republik der Zwanzigerjahre kam es zur Hyper­inflation. Über Nacht multiplizierten sich die Preise, am Ende war die deutsche Währung gar nichts mehr wert. 4,2 Billionen Reichsmark musste man auf den Tisch legen, um einen einzigen US-Dollar einzutauschen. Das war dann die absolute Währungs­krise. Es folgte der Schwarze Freitag, ­ der 25. Oktober 1929, an der Wall Street. Die Aktienkurse stürzten ins Bodenlose, die Arbeitslosenrate stieg auf 25 Prozent, eine Arbeitslosenversicherung gab es nicht. Aus der Währungskrise ist eine ­generelle Wirtschaftskrise geworden. Die Finanzkrise, die seit 2008 grassiert, ist ­ im Kern eine Schuldenkrise. Eingeläutet wurde sie unter dem Titel «Subprime», der aus den USA nach Europa rübergeschwappt ist.

_Subprime
Was heisst Subprime? Das Wort ist eine Mischung aus Englisch und Latein. Den «Primus» kennen wir schon von der ­Schule her. So heisst der Klassenbeste. Die Vorsilbe «Sub» meint «unterhalb». Subprime steht für «zweitklassig». Gemünzt war es auf Leute in Amerika, die mit wenig Geld hohe Schulden machten und Häuser kauften, die wenig wert waren. Das Erwachen war bös: Schuldner waren unfähig, Zinsen zu zahlen. Und als sie ihre Häuser verkaufen wollten, sackten die ­Immobilienpreise ab. Die Banken sassen auf «faulen Krediten».
_Verbriefte Hypotheken
In der Not sind Bankiers erfinderisch. Mit ausstehenden Hypotheken taten sie, was gewöhnlich Sterbliche mit Altpapier tun: Sie machten Bündel. Diese ernannten sie zu «Wertpapieren», die sie fröhlich von Bank zu Bank verschoben – ohne dass sie genauer hinschauten, was in den Bündeln voller Schulden drinsteckte. So gross das Risiko war, es lockte schneller Profit. Man müsse nur warten, bis sich der Häusermarkt ­erholt hat, dann liessen sich diese Hypotheken wieder verkaufen – bündelweise, mit Gewinn, dachten Investmentbanker.
_Investmentbanking
Jene Abteilung einer Bank, die sich ums grosse Geld kümmert. Übernimmt ein Konzern einen andern, planen Investmentbanker den Deal. Braucht eine Firma neues Geld, platzieren Investmentbanker eine Anleihe auf dem Kapitalmarkt. Oder sie bringen die Aktien der betreffenden Firma direkt an die Börse. All das ist weder abscheulich noch abenteuerlich, sondern erwünscht. Mit der Zeit jedoch wurden die Investmentbanker richtig kreativ. Sie schufen – analog zu verbrieften ­ Hypotheken – laufend neue «strukturierte Produkte». Da werden «Basiswerte» (Aktien, Währungen, Rohstoffe) gebündelt. Da wird darauf gewettet, ob Kurse von Aktien künftig steigen oder sinken. Der mögliche Gewinn ist fett, der mög­liche Verlust saftig bis unberechenbar. Das Risiko trägt der Kunde.
_Eigenhandel
Investmentbanker gehen mit dem guten Beispiel voran. Wer solch künstliche Kon­strukte ausbrütet, traut sich zu, selber am besten damit umgehen zu können. Die Bank glaubt das auch, schliesslich offeriert sie ihren Investmentbankern höchste ­Löhne. Das Risiko trägt jetzt aber die Bank. Im Fall des Londoner Investmentbankers Kweku Adoboli präsentieren sich die Eckdaten wie folgt: Der Mann ist 31 Jahre jung, stand vier Jahre im Dienst der UBS, verdiente eine halbe Million Franken im Jahr (ohne Bonus) und bescherte der UBS einen Verlust von 2,3 Milliarden Dollar.

_Too big to fail
Zu gross, um in Konkurs zu gehen. Müsste die Credit Suisse oder die UBS in der Schweiz ihre Schalter schliessen, stünde die ganze Wirtschaft still. Fast jeder kleine Laden, fast jede einzelne Person hängt ­direkt oder indirekt an einer der beiden Grossbanken, sei es über einen Kredit oder ein Guthaben. In den USA wurde während der Subprime-Krise die Investmentbank Lehman Brothers fallen gelassen. Als danach auch Spar- und Leihkassen taumelten, musste zum Beispiel Fannie Mae verstaatlicht werden, weil die in Amerika eine Bedeutung hat wie die Raiffeisen-Gruppe bei uns.

_Toxische Papiere
Rettet der Staat eine Bank, nimmt er ihr zuerst die toxischen (giftigen) Papiere ab – seien es gebündelte Hypotheken oder Obligationen bankrotter Staaten. Nachdem die UBS beim Bundesrat in Bern um Hilfe angeklopft hatte, führte die Nationalbank in Zürich am nächsten Tag «gebündelte» toxische Hypotheken aus den USA in Höhe von 60 Milliarden Franken in ihren Büchern. Seither sichten die Fachleute bei der Nationalbank Kredit für Kredit – und registrieren verblüfft: Es ist nicht alles «Schrott». Nicht jede US-­Immobilie ist eine Bretterbude, einzelne ­Objekte lassen sich verkaufen. Die Nationalbank wird nun mit diesen Papieren einen Gewinn von einigen hundert Millionen Franken erzielen. Was wiederum bestätigt, dass die UBS-Investmentbanker ­keine Ahnung hatten von den inneren Werten, die sie eigenhändig gebündelt hatten.
_Eigenkapitalquote
Damit Banken in Zukunft in der Lage sind, sich selber aus dem Dreck zu ziehen, brauchen sie genug Eigenkapital. Darum soll eine minimale Eigenkapitalquote festgelegt werden. Sobald sie für ihre gewagten Aktionen geradestehen müssten, würden sie automatisch vorsichtig, hoffen Politiker von rechts bis links.
_Credit Default Swaps
Was entsetzlich tönt, ist ein nützlicher Indikator für die Schwere einer Krise. Es handelt sich um Versicherungen gegen Kreditausfälle. Banken, die davon Gebrauch machen, müssen eine Prämie zahlen wie wir für unsere Haftpflicht. Die Höhe der Prämie deutet an, wie hoch das Risiko eingeschätzt wird. Auf dem Höhepunkt der Subprime-Krise wollte sich jede Bank absichern, bevor sie mit einer andern Bank in Kontakt trat. Heute stehen ganze Staaten im Epizentrum. Die versicherungstechnische Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren seine Zahlungsunfähigkeit anmeldet, beträgt 12 Prozent. Für Italien 25 Prozent, für Griechenland 70 Prozent. Es drohen neue Kreditausfälle, die neue Auswirkungen auf das globale Bankenwesen haben werden. Der erste Notfall ist in Belgien aufgetreten: Die Dexia-Bank musste verstaatlicht werden, weil sie viele griechische Staatsanleihen in ihren Büchern führt.

_Staatsbankrott
Bei einer Privatperson gehts ruckzuck: Betreibung, Konkurs, Notversteigerung. Bei einem Staat läuft derselbe Prozess in Etappen ab. Denn jeder Staat kann sich – vorerst – weiterverschulden.
_Staatsanleihen
Ein Staat besorgt sich neues Geld, indem er Schuldpapiere (Obligationen) verkauft. Die Laufzeit ist fix, meist zehn Jahre. Der Zins steigt umso stärker, je tiefer das Vertrauen sinkt. Die aktuelle Lage präsentiert sich so: In der Schweiz, dem solidesten Land der Welt, muss der Bund für eine zehnjährige Obligation weniger als 1 Prozent Jahreszins zahlen. In Deutschland und in den USA sind es 2 Prozent. In Spanien 5 Prozent. In Griechenland 24 Prozent. Damit ist Griechenland praktisch am Ende. Neue Schulden sind schlicht zu teuer.

_Umschuldung
Wäre Griechenland tatsächlich zahlungsunfähig, müssten die «Gläubiger» (Private, Banken, andere Staaten) die Konsequenzen ziehen – indem sie ihre griechischen Staatsanleihen auf null abschreiben. Bevor dieser Totalschaden eintritt, suchen die Parteien den «Kompromiss». Die «Gläubiger» verzichten auf einen Teil der Schuld. Umgekehrt muss das Schuldnerland auch etwas leisten: nämlich das Versprechen, für den andern Teil der Schuld künftig brav die Zinsen zu zahlen. Experten sprechen sarkastisch von einem «hair cut» (Haarschnitt). Im Fall von Griechenland laufen die Diskus­sionen so: Die «Inhaber» der Staats­­- an­leihen schreiben 60 Prozent ab, auf der andern ­Seite lässt sich Griechenland für die restlichen 40 Prozent in die Pflicht nehmen.
_Troika
Damit die Umschuldung klappt, braucht Griechenland mindestens zur Überbrückung Hilfe von aussen. Darüber befindet eine Dreierdelegation, bestehend aus Spezialisten des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und einer Mission der EU-Regierungen. Diese Troika stellt nun harte Bedingungen: Griechenland müsse den Gürtel endlich eng schnallen. Der Preis: soziale Unruhen, Streiks, Proteste, Krawalle.
_Währungskrise
Hängt zusammen mit der Schuldenkrise. Der Dollar sinkt, weil die US-Regierung sich selber «umschuldet». Das funktioniert so: Die US-Zentralbank kauft im grossen Stil US-Staatsanleihen. Die Folgen sind in jedem ökonomischen Lehrbuch nachzulesen: Es kommt zu Inflation. Vom Apfel bis zum Zucker, alles wird früher oder später teurer, und der Wert des US-Dollars sinkt heute schon.
_ Euro -B onds
Dasselbe Szenario droht dem Euro. Politiker wollen gemeinsame Staatsanleihen für den gesamten Euro-Raum schaffen (Euro-Bonds). Damit gäbe es keine toxischen griechischen Staatsanleihen mehr und auch keine soliden deutschen Staatsanleihen mehr. Sondern nur noch Euro-Bonds. Und die Euro-Zentralbank (EZB) käme politisch unter Druck, solche Euro-Bonds im grossen Stil zu kaufen – um Griechenland zu retten samt französischen und anderen Banken, die griechische Staats­anleihen halten. Falls das geschieht, wird der Wert des Euro tauchen.

_Starker Franken

Alles ist relativ. Der Wert einer Währung bildet sich im Vergleich zum Wert der andern Währungen. Weil sowohl der Dollar als auch der Euro sinken, landet das Geld der Anleger in einem «sicheren Hafen»: im Gold, dem japanischen Yen oder eben beim Schweizer Franken. Denn je grösser die Nachfrage nach einer Währung, desto grösser ihr Wert.
_ Devisenmarkt­interventionen
Wegen des harten Frankens werden ausländische Produkte für uns billiger, während Schweizer Produkte für Ausländer teurer werden. Darunter leiden Schweizer Exporteure und der hiesige Tourismus. Deshalb greift die Nationalbank jetzt aktiv in den «Markt» ein. Als Laie darf man sich das so vorstellen: Die Nationalbank wirft Schweizer Franken auf den Markt und kauft damit Euros. Das schwächt den Franken – und stärkt den Euro. Im Prinzip kann die Nationalbank so viele Schweizer Franken einsetzen, wie sie will. Auf längere Sicht droht dann Inflation. Und auf kürzere Sicht sinken die Zinsen gegen null.
_Libor
So heisst der Leitzins der Nationalbank. Libor ist die englische Abkürzung für «London Interbank Offered Rate». Zu ­diesem Satz leihen sich Banken in London gegenseitig das Geld aus. Gemäss dem offiziellen Ziel der Nationalbank bewegt sich der Libor aktuell zwischen 0,0 bis 0,75 Prozent. Damit kann sich jede Schweizer Bank in London quasi gratis mit neuen Schweizer Franken versorgen. Und weil auch einige einheimische Hypotheken vom Libor abhängen, zahlen diese Hausbesitzer im ­Moment weniger als ein Prozent Schuldzins. Tiefer gehts nimmer.
_Die Grosse Depression
So nannten Amerikaner ihre Krise in den Dreissigerjahren. Angeheizt wurde sie durch einen fatalen Fehler der US-Zen­tralbank: Sie hielt das Geld knapp. Die Zinsen stiegen. Kein Unternehmer wollte mehr investieren, alle sparten an allen Ecken, kürzten die Löhne, senkten die Preise. Es war das pure Gegenstück zur Inflation. Alles wurde billiger. Am Ende wollte niemand mehr etwas kaufen, weil am nächsten Tag alles noch billiger war. So etwas darf nie mehr vorkommen, ­sagen sich die Chefs aller Zentralbanken. Und machen nun das Gegenteil: Sie ­drehen den Geldhahn ­auf. In den USA, in Japan, im Euro-Raum, in der Schweiz, überall heisst die Losung: «Lieber ein bisschen Inflation als der totale Zu­sammenbruch des internationalen Finanz­systems.» Hoffentlich geht die Rechnung auf.

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