Wohnen morgen

So funktioniert Raumplanung auch in der Scheiz: Das Beispiel Köniz
12.04.2012, Schweizer Familie
Warum Köniz? Warum wird dieser Vorort von Bern, der den meisten Leuten höchstens vom Hörensagen bekannt ist, mit dem Wakkerpreis 2012 des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichnet?Eine erste Antwort bietet der Blick vom Berner Hausberg Gurten. Von oben herab wird sichtbar: Köniz ist keine übliche «Agglo», über die Städter gern die Nase rümpfen. Köniz ist kein anonymer «Siedlungsbrei». Kein Exempel für die landesweit beklagte Zersiedelung.Köniz ist das Entweder-oder. Entweder ist Köniz grün. Grün wie ein Park, eine Wiese, eine Weide. Oder Köniz ist besiedelt. Besiedelt mit Häusern, Fabriken, Strassen. In Köniz fliesst das eine nicht ins andere über. In Köniz gibt es eine «scharfe Grenze zwischen dem Siedlungsgebiet und der Kulturlandschaft», lobt der Schweizer Heimatschutz.

Köniz könnte das Modell sein für die Schweiz der Zukunft, in der bald acht Millionen Menschen, später neun und irgendwann zehn Millionen Platz finden wollen. Das klappt nur, wenn wir zwei Dinge gleichzeitig schaffen: Erstens müssen wir die Landschaft schützen. Zweitens müssen wir mehr Wohnraum schaffen. Also müssen wir den freien Boden besser ausnützen.

Seesicht für jede Wohnung

Diese Politik kennt und pflegt Katrin Sedlmayer, Gemeinderätin in Köniz. Als Vorsteherin des Amts für Planung und Verkehr ist sie mit ihrem Team dafür zuständig, dass beides nebeneinander Platz hat. Hier moderne Architektur mit bezahlbaren Wohnungen. Dort Natur zur Erholung der Bewohner.

Für heute hat Katrin Sedlmayer ein Mobility-Auto gemietet. Denn die Wege sind weit, wenn sie Köniz zeigen will. Die grösste Agglomerationsgemeinde der Schweiz bietet 40 000 Einwohnern Heimat, mehr als die Städte Neuenburg, Schaffhausen oder der Kanton Glarus.

Zuerst fährt Katrin Sedlmayer zum Park Liebefeld. Er sieht noch etwas karg aus, weil er neu angelegt wurde wie der zugehörige künstliche See. Die Treppe am Ufer lädt zum Sonnenbad ein. Im Sommer öffnet ein Café, im Winter ist Schlittschuhlaufen angesagt.

Hinter dem kleinen See richtet sich die neue, weisse Siedlung «Dreispitz» auf. Es sind keine Wolkenkratzer. Allerdings sind die sechsstöckigen Vierecke so kompakt zusammengebaut, dass sie Platz bieten für 300 Wohneinheiten. Eine kleine Vorstadt in der grossen Vorstadt.

Wer im «Dreispitz» wohnt, muss trotzdem keine Platzangst haben. Jede Wohnung bietet mindestens eine freie Sicht ins Grüne. In manchen Häusern befinden sich Mietwohnungen, in andern Eigentumswohnungen, eineinhalb Meter über dem Wasser des Sees.

Hier wohnt die Familie Röthlisberger auf einer Fläche von 120 Quadratmetern. Ihr Garten ist ein Streifen Wiese mit Gartenbeet, Himbeerhecke, Rosenbäumchen und Mirabellenbaum. «Fast wie im Einfamilienhaus, nur etwas kleiner und feiner », sagen Monika und Michael Röthlisberger. Dafür haben ihre Kinder Anja, 8, und Maya, 6, den Spielplatz samt den Kameraden gleich vor der Tür. «Verdichtet wohnen?» Das gefällt der Könizer Familie Röthlisberger: «Wir wohnen gerne stadtnah und ohne eigenes Auto.»

«Verdichtet bauen» ist für die Könizer Chefplanerin Katrin Sedlmayer die konstruktive Antwort auf die Einwanderungsproblematik. Allein im letzten Jahr haben sich 75 000 Personen neu in der Schweiz angesiedelt. Das ist fast Köniz mal zwei. Gleichzeitig haben wir aber steigende Ansprüche. Jede Person in der Schweiz bewohnt jedes Jahr einen zusätzlichen halben Quadratmeter. Inzwischen sind wir bei einer Wohnfläche von 50 Quadratmetern angelangt: pro Kopf im Durchschnitt. Also stellt sich die Frage: Wie schafft die kleine Schweiz zusätzlichen Wohnraum? «Sicher nicht mit neuen Einfamilienhäusern auf tausend Quadratmeter grossen Grundstücken », antwortet Katrin Sedlmayer.

Autoverkehr ohne Hektik

Köniz plant anders, wie der Blick vom Gurten zeigt: Köniz hat, im Vergleich zum übrigen Mittelland, nur wenige Einfamilienhauszonen. Im Gegensatz zu Bern Bümpliz hat Köniz auch keine richtigen Hochhäuser. Köniz setzt auf das Sechs- bis maximal Zehnstöckige im Grünen.

Ein Bach, der früher verborgen war, wurde an die Erdoberfläche geholt – zur Freude der vielen Kinder, die in der Siedlung Weissenstein Neumatt wohnen. Hier sind die Wohnungen noch dichter gebaut als auf dem Dreispitz, bieten aber stattliche Balkone, die in warmen Jahreszeiten ein zusätzliches Wohnzimmer hergeben, und das bei Mieten für eine 4,5-Zimmer-Wohnung ab 1900 Franken.

Stolz zeigt Katrin Sedlmayer das Zentrum von Köniz. Kein Lärm, kein Hupen, keine Hektik. Friedlich steht die elegante neue Migros vis-à-vis dem traditionellen Coop. Dazwischen eine Strasse, befahren von 17 000 Autos am Tag und alle drei Minuten vom Bus. Nur ist von dem motorisierten Massenverkehr nichts zu spüren. 300 Meter lang ist der Strassenabschnitt im Zentrum. Es gibt kein Rotsignal, keinen Zebrastreifen, keine Schwellen, leuchtenden Tafeln oder Kreisel. Die geforderte Langsamkeit von maximal 30 km/h wird trotzdem eingehalten.

Wie schafft Köniz dieses Wunder? Dank seiner Lebendigkeit. Die vielen Fussgänger, die kreuz und quer über die Strasse laufen, bewirken, dass die Autofahrer acht geben. Für seine 300 Meter Strasse ist Köniz City «weltberühmt». Katrin Sedlmayer hat schon TV-Teams empfangen, die aus Japan angereist sind.

Zwar gab es hitzige Diskussionen, als das Tempo von 50 auf 30 gedrosselt wurde. Schliesslich ist es keine Wohnstrasse, sondern die Hauptverkehrsachse von Bern nach Schwarzenburg. Inzwischen profitieren alle still. Der Verkehr strömt flüssiger als früher – und sicherer. Es gibt weniger Staus und 30 Prozent weniger Unfälle.

Die Idylle lässt sich planen

Drei Autominuten den Hügel aufwärts beginnt eine andere Welt. In Herzwil plätschert der Brunnen. Rund herum sechs prächtig geschmückte Bauernhöfe, die ebenso gut im Freilichtmuseum Ballenberg stehen könnten. Kuhglocken bimmeln. Nur der gelbe Wanderwegweiser erinnert, wo Herzwil liegt: eine Stunde und zehn Minuten bis Bern.

Herzwil ist einer von fünf Weilern in Köniz, und alle gehören sie zum Inventar schützenswerter Ortsbilder Schweiz. In diesen Weilern wird nie ein Bagger auffahren. Denn ohne seine Weiler wäre Köniz nicht Köniz; eine Stadt mit 40 000 Menschen, 1815 Kühen, 416 Schafen, 168 Pferden, 60 Kaninchen und 20 Lamas.

Das idyllische Zusammenleben ist geplant. Während «Raumplanung» in weiten Teilen der Schweiz ein Fremdwort geblieben ist, hat Köniz im Jahre 1994 337 Hektaren Land «ausgezont»: Diese Fläche, fast so gross wie der Zugersee, war kein Bauland mehr, sondern Agrarland.

Warum Köniz den diesjährigen Wakkerpreis bekommen hat, das wollen wir auch vom Schweizer Heimatschutz selbst erfahren, der ihn alljährlich vergibt. Also fahren wir nach Zürich an die Seefeldstrasse 5. Dort stellt Monique Keller, zuständig für Architektur und Heimatschutz, klar: Der Heimatschutz verstehe sich nicht als Denkmalschutz. Selbstverständlich wolle man schöne alte Dörfer schützen: Splügen, Fläsch, Guarda, Vrin, alle in Graubünden gelegen, haben schon den Wakkerpreis erhalten. Selbstverständlich hat eine grosse Altstadt ihren Wert: Basel und Bern haben den Wakkerpreis erhalten. Auch eine Agglo-Gemeinde, die ihren Dorfkern bewahrt wie Muttenz BL, ist preiswürdig.

Bloss: «Es genügt nicht, das Alte unter Schutz zu stellen. Die Schweiz braucht im Büro des Heimatschutzes, was Katrin Sedlmayer an der Front in Köniz umsetzt: Qualität beim Bauen. Das Neue darf, ja es muss eine Dichte aufweisen, damit Platz zum Wohnen entsteht – und Platz für die Natur ringsum übrig bleibt.

Die Kunst, Grenzen zu ziehen

Fünfzig Schritte vom Sitz des Schweizer Heimatschutzes entfernt liegt der Bahnhof Stadelhofen. Von hier fährt der Zug in eine Stadt, die es unter diesem Namen gar nicht gibt: die «S-5-Stadt» ist ein gedankliches Konstrukt des Wohnforums an der ETH Zürich. Die Region zählt 300 000 Einwohner in 27 Gemeinden aus drei Kantonen. Die S-5-Stadt wurde nicht geplant, sie hat sich so ergeben entlang der S-Bahn-Linie 5. Vom Bahnhof Stadelhofen gehts durch den Tunnel nach Uster, Wetzikon, Bubikon, Rüti, vorbei am Greifensee und Pfäffikersee nach Rapperswil im Kanton Sankt Gallen und den Seedamm entlang nach Pfäffikon im Kanton Schwyz. «Der öffentliche Verkehr prägt neue Lebensweisen », heisst es in der Studie . So viel weiss jedes Schulkind.

Als die Forschenden des S-5-Stadt- Projekts aber auf den Berg Bachtel stiegen und vom Aussichtsturm hinabschauten, staunten sie: Sie sahen keine übliche «Agglo », keinen «Siedlungsbrei». Neben den natürlichen Seen gibt es andere unverbaute Stellen. Wälder, Felder, Wiesen, die grösser sind als nur kleine Flecken.

Und als sie durch das «Verbaute» streiften, staunten sie erst recht. Denn sie entdeckten Dorfkerne mit verwunschenen Gassen, Uferpromenaden oder sogar eine Kulturfabrik.

Die kürzeste Zusammenfassung der ETH-Studie ist ein Wortspiel: «AgglOasen ». Die berüchtigte «Agglo» mag eine Wüste sein. Aber als sich die Architektinnen, Raumplaner und Politologinnen in die Wüste wagten, entdeckten sie: Oasen.

Ganz ähnlich erging es den Menschen, die in der «S-5-Stadt» leben. Sie kamen nicht ganz freiwillig. In Befragungen sagten sie etwa: «Eigentlich wollten wir in der Stadt bleiben, haben dort aber keine Wohnung gefunden. » Seit sie in der «S-5-Stadt» gelandet sind, sagen sie: «Wir schätzen das Grüne.»

Damit die schöne «S-5-Stadt» schön bleibt, müsste sie künftig geplant und geschützt werden. Dabei könnte Köniz Vorbild und Modell sein. Denn was Katrin Sedlmayer will, fordert auch die Studie der ETH: «Man sollte besonders wertvolle Landschaften zu Schutzgebieten erklären, indem man sagt: Bis dahin darf sich die Siedlungswüste ausbreiten, aber nicht weiter. Im Central Park von New York kommt ja auch niemand auf die Idee, ein Haus zu bauen.»

Im Wakkerpreisjahr 2012 bietet die Gemeinde Köniz Führungen per Bus, E-Bike oder zu Fuss an. Ab zwei Stunden Dauer. Informationen unter 031 970 93 12 oder www-koeniz.ch/wakker12

INFORMATIONEN ZUR S-5-STADT:

Das Buch: «AgglOasen», herausgegeben vom ETH Wohnforum, Verlag Hier + Jetzt, 160 S., 80 Abb., 38 Fr., www.s5-stadt.ch

Die Ausnützungsziffer ist ein Mass dafür, wie gut oder wie schlecht der Boden genutzt wird. Wie viele Quadratmeter Wohn- oder Bürofläche werden geschaffen im Verhältnis zur Grösse des Grundstücks?

Rechenbeispiel: Auf ein Stück Land von 1000 Quadratmetern wird ein dreistöckiges Haus gebaut. In jedem Stock entstehen zwei Wohnungen zu 125 Quadratmetern. Das ergibt eine gesamte Wohnfläche von 3 x 2 x125 = 750 Quadratmetern.

Diese Geschossfläche wird dividiert durch die Arealfläche:

750 : 1000 = 0,75

Eine Ausnützungsziffer von 0,75 bedeutet in der Schweiz «dicht bebaut». Das entspricht in etwa dem Durchschnitt der Stadt Zürich.

Einfamilienhäuser

Das frei stehende Einfamilienhaus ist der grösste «Landfresser», Reihen- Einfamilienhäuser schneiden bereits besser ab. Heute werden ältere «Häuschen» oft abgerissen und durch «Klötzchen» ersetzt. Oft wohnen dann zwei Familien auf dem Areal, wo früher ein Einfamilienhaus stand.

0,2 – 0,4

Siedlung Dreispitz in Köniz BE

Neu, modern und grosszügig. Die Ausnützungsziffer beträgt 1,0. Auch in Köniz gibt es einige ebenfalls neue Siedlungen, die dichter gebaut sind.

1,0

Siedlung Leonhard- Ragaz-Weg, Zürich

Eine vor zwei Jahren neu gebaute genossenschaftliche Siedlung in der Stadt Zürich. Die Ausnützungsziffer wurde verdoppelt. Eine 4,5-Zimmer- Wohnung kostet 2000 Franken – für Zürcher Verhältnisse «sehr günstig».

1, 6

Altstadt von Bern

Die verwinkelten Häuser in den mittelalterlichen Altstädten von Zürich, Basel oder Bern sind bis heute nicht nur die «dichtesten» Orte der Schweiz, sondern gehören auch zu den attraktivsten, wie die teuren Mieten zeigen.

4

Messeturm Basel

Das zweithöchste Haus der Schweiz hat die höchste Ausnützungsziffer. Der Prime Tower in Zürich steht auf einem relativ grossen, dreieckigen Areal. Die rechnerische Ausnützungsziffer ist darum geringfügig tiefer.

6 ,1

Manhattan New York

Die Wolkenkratzer sind eng aneinandergebaut. Das Mass der Dichte ist extrem hoch, die Mieten ebenfalls. Mit dem Central Park hat die Metropole ein grünes Herz.

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