Wenn Ärzte sich zusammentun

Zur Managed Care Vorlage
31.05.2012, Schweizer Familie
Am 17. Juni stimmen wir über die Managed-Care-Vorlage ab. Doch was heisst das überhaupt? Das Schlossberg-Ärztezentrum in Frauenfeld arbeitet schon lange nach diesem Prinzip und zeigt, wie die Zukunft aussehen könnte.Text Markus Schneider Fotos René RuisAls das Schlossberg-Ärztezentrum gegründet wurde, war «Managed Care» noch ein Fremdwort. Ein traditioneller Hausarzt führte an der Bahnhofstrasse in Frauenfeld im ­Bürohaus der Mobiliar-Versicherung eine Einzelpraxis. Er suchte einen Nachfolger und fand gleich drei, die zu dritt starten wollten. Das war vor 21 Jahren.

Seither hat sich die Gemeinschafts­praxis kontinuierlich weiterentwickelt, erzählt Andreas Schneider, einer der drei Gründer. «Der vierte Arzt stiess hinzu, als die nächste Wohnung im Haus frei ­wurde.» Wohnung für Wohnung ging die Expansion weiter, Etage für Etage. Ab­gesehen vom Polizei­posten unten im ­Parterre ist heute der ganze Bürobau ein Zentrum mit 17 Ärzten.
Der «Schlossberg» ist seither ein Musterbeispiel für «Managed Care». Auch wenn das immer noch ein Fremdwort ist. Und das, obschon das Schweizervolk am 17. Juni über dieses neue System abstimmen muss, das so amerikanisch, abstrakt und abschreckend tönt. Immerhin neun bis zehn Prozent der Behandlungskosten liessen sich in Ärztenetzen einsparen, formuliert Gesundheitsminister Alain Berset in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung».
In Frauenfeld wird aber nicht am Gesundheitswesen der Zukunft gearbeitet, dort wird es gelebt. «Wir haben unsere Gruppenpraxis nicht gegründet, um Kosten zu senken», stellt Andreas Schneider klar. «Wir sind einfach überzeugt, als Team erfolgreicher zu sein.» Die moderne Medizin sei zu komplex geworden für den einzelnen Arzt. Der «Halbgott in Weiss» habe ausgedient.

Heute arbeiten im Schlossberg-Zen­trum zehn Allgemeinpraktiker zusammen mit Orthopäden, einer Handchirurgin, einem Kardiologen, einem Kinderarzt, einer Wundmanagerin. Bald stossen ein Urologe hinzu und eine Dermatologin. Eine Gynäkologin ist nicht dabei, auch kein Augenarzt, kein Magen-Darm-­Spezialist oder Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Für all diese Bereiche ist die private Auswahl in Frauenfeld gross und gut genug. «Das müssen wir nicht auch anbieten», sagt Andreas Schneider. Die Schlossberg-Ärzte weisen ihre Patientinnen an eine Frauenfelder Frauenärztin.

Bangen um die freie Arztwahl

In diesem Sinn wird das Fremdwort «Managed Care» meist auf Deutsch übersetzt: Es handle sich um eine «koordinierte ärztliche Versorgung aus einer Hand». Das tönt noch immer theoretisch. Und An­dreas Schneider weiss, warum praktisch alle Leute Angst haben, wenn sie das Wort «Managed Care» hören: dass sie die freie Arztwahl verlieren.

Im Schlossberg muss niemand darauf verzichten. Zunächst darf man den Hausarzt innerhalb des Zentrums frei wählen – und frei wechseln. Das kommt öfter vor, nicht jeder Arzt hat hier den gleichen Stil. Gerade bei Zeugnissen für die Arbeits­unfähigkeit oder fürs Autofahren reagieren Patienten sensibel.
Und wenn sie mit dem Spezialisten innerhalb des Schlossberg-Zentrums nicht auskommen? «Dann weisen wir sie weiter an einen externen Facharzt ihrer Wahl.» Ungern sieht Andreas Schneider nur Patienten, die von Spezialist zu Spezialist hüpfen – ohne dass sie das Schlossberg-Team informieren. Dies wäre auch mit der geplanten Managed-Care-Vorlage so: Erste Anlaufstelle ist – abgesehen von Frauen- und Augenarzt – immer der Hausarzt, und dieser koordiniert das weitere Vorgehen mit allen Beteiligten.
Jeden Freitagvormittag treffen sich die Schlossberg-Ärzte zur Teamsitzung. Sie präsentieren konkrete Fälle, diskutieren offene Fragen, zeigen Laborwerte oder Röntgenbilder. Der Orthopäde nimmt ­direkt Stellung, ob eine Operation angezeigt sein könnte. Oder bei welchem auswärtigen Spezialisten eine Zweitmeinung einzuholen sei. Eine Allgemeinpraktikerin fragt in die Runde: Was kann ich tun gegen eine hartnäckige Allergie, die meiner Patientin keine ruhige Minute mehr lässt?
Solch regelmässige Diskussionen steigern die Qualität der ärztlichen Betreuung, hoffen die Befürworter von «Ma­naged Care». Es diene den Patienten, wenn sich Ärzte gegenseitig über die Schulter schauen und ein Netz bilden.
«Ärztenetz» – so lautet ein weiterer Versuch, das Wort «Managed Care» auf Deutsch zu übersetzen. In Frauenfeld und dem übrigen Thurgau sind Ärztenetze nichts Neues. In diesem Kanton haben sich 37 Prozent der Bevölkerung für ein Ärztenetz entschieden. Das ist Schweizer Rekord. Fast 90 000 Patienten machen freiwillig mit und beschränken sich auf diejenigen 150 Hausärzte und 30 Spezialisten, die sich einem von fünf Ärztenetzen angeschlossen haben.
Ein Ärztenetz ist also keine G ruppenpraxis wie der Schlossberg, sondern ein mehrfach grösserer Verbund von Doktoren in Einzelpraxen. Umgekehrt ist jeder einzelne der 17 Schlossberg-Ärzte Mitglied in einem Ärztenetz. Dort werden tatsächlich auch die Kosten zum Thema. «Budget-Mitverantwortung» nennt sich das, und das ist das nächste grässliche Wort in der aktuellen Debatte. Die Budget-Mitverantwortung gehört zu «Managed Care» wie das Pflaster auf die offene Wunde.
Jedes Ärztenetz muss ein Gesamt­budget einhalten. Stellt sich am Ende des Jahres heraus, dass das Sparziel erreicht worden ist, erhält jede beteiligte Ärztin, jeder beteiligte Arzt einen Bonus. So etwas ist vielleicht unter Bankiers üblich, aber in der Gesundheitsbranche bisher nicht. Deswegen wehren sich viele Allgemeinpraktiker und noch mehr Spezia­listen gegen «Managed Care»: weil sie Kosten-Nutzen-Abwägungen und eine Zweiklassenmedizin befürchten. Daniel Bracher, Präsident des Vereins für freie Arztwahl, spricht abschätzig von «Budget-Medizin» (siehe Interview unten).

Darf der Arzt einen Bonus bekommen?

Die vielen Thurgauerinnen und Thurgauer, die sich heute schon für ein Netzwerk entschieden haben, erweisen sich als auffällig treue Kunden. Sie fühlen sich nicht schlechter behandelt als früher. Sondern sie sind froh, etwas weniger Versicherungsprämie zu zahlen.

Und was ist mit dem Bonus, der jährlich an die Ärzte geht? Der bewegt sich im tiefen vierstelligen Bereich und hat für den Einzelnen «sicher keine existenzielle Bedeutung», sagt Andreas Schneider. Entscheidend für den Schlossberg sei, dass die Gemeinschaftspraxis unabhängig von den Krankenversicherungen ist – und unabhängig bleibt. «Sobald sich die bezahlenden Kassen direkt an Ärztenetzwerken beteiligen, kommt es zu Interessenkonflikten.» Nach dem neuen Managed-Care-Gesetz, das zur Abstimmung steht, ist das auch kaum mehr möglich. Ärztenetze müssen von den Kassen sauber getrennt sein.
Die Debatten zeigen: Es ist selbst für die direkt Beteiligten nicht immer klar, was «Managed Care» ist, soll und darf. Und darum möchte sich Andreas Schneider am liebsten ganz aus dem Abstimmungskampf heraushalten. Ihm ist es eigentlich auch egal, wie das Volk am 17. Juni abstimmt. Sein Team macht so oder so weiter wie bisher. Denn, sagt Andreas Schneider, es geht im Schlossberg nicht darum, Kosten zu sparen. Sondern Qualität zu bieten.

Interview-Box

Antworten von Daniel Bracher, 71. Er war 32 Jahre Kinderarzt in Bern und ist heute Präsident des Vereins für freie Arztwahl.

SCHWEIZER FAMILIE: Herr Bracher, leider haben wir nur wenig Platz für das Interview.

Daniel Bracher: Das macht nichts. Sie müssen nur einen Satz von mir hinschreiben, dann bin ich zufrieden.

Wie lautet dieser Satz?

Nicht nur für Versicherte im Standardvertrag mit freier Arztwahl, sondern auch für diejenigen in Hausarztmodellen oder mit Telemedizin wird durch «Managed Care» Kranksein künstlich verteuert, und nur Versicherte in Netzen mit Budgetmitverantwortung werden geringfügig besser gestellt. Das führt zur Zweiklassenmedizin, Dann erhalten nicht mehr alle Versicherten alle bisherigen Leistungen.

Was verstehen Sie unter «Budget-Medizin»?

Die Tatsache, dass der Arzt am Gewinn und am Verlust beteiligt sein soll. Das ist falsch. Man geht davon aus, dass ein Arzt immer zu viel unternimmt. 97 Prozent der Ärzte machen aber nur, was vernünftig ist. Weiss der Hausarzt nicht weiter, schickt er seine Patienten zum Spezialisten. Erst dann. Das ist heute schon so.

Und wenn die Vorlage angenommen wird?

Dann übernimmt der Manager des Ärztenetzwerks die entscheidende Rolle. Er handelt mit den Krankenkassen das Budget aus. Und die Ärzte, die beim Netzwerk Mitglied sind, müssen achtgeben, dass sie dieses Budget einhalten. Im guten Fall erhalten sie einen Bonus, im schlechten Fall einen Malus. Also wird sich der Hausarzt einmischen, ob bei seinen Patienten der Spezialist eine MRI-Untersuchung veranlassen soll oder nicht. Vielleicht darf ein Patient auch nicht mehr in die Physiotherapie, nur weil der Arzt Angst hat, dass das Budget nicht eingehalten und darum sein Bonus gekürzt wird.

Ärzte sollen in Zukunft besser kooperieren und gemeinsam entscheiden. Was haben Sie dagegen?

Nichts, im Gegenteil. Die heutigen Hausarztmodelle finde ich grossartig; ich bin bei Tele-Medizin versichert, da spare ich Prämien. Ich muss zuerst telefonieren, bevor ich zum Arzt darf. Aber solch vielfältige Modelle werden in Zukunft verschwinden. Man muss sich der einheitlichen «Budget-Medizin» unterordnen, will man Prämien sparen.

Die freie Arztwahl wird nicht generell abgeschafft. Sie kostet einen zusätz­lichen Selbstbehalt von maximal 500 Franken.

Man muss nicht nur mit einem höheren Selbstbehalt rechnen, sondern auch eine höhere Prämie zahlen. Das macht für Leute, die nicht auf Rosen gebettet sind, einen Unterschied.

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