Eine Lanze für die IV

Die IV tut zu viel, kritisieren die einen. Sie tut zu wenig, reklamieren andere. Für mich tat sie das Richtige.

14.06.2012, Schweizer Familie

Also betrat ich den modischen Bau der Sozialversicherungsanstalt (SVA) in Zürich, der jeweils abgebildet wird, wenn eine Zeitung einen neuen «IV-Missbrauch» aufdeckt. Hier erschleichen sich, lautet die mediale Vermutung, sogenannte Scheininvalide ihre Rente.Der Mann, der mich empfing, war mir auf Anhieb sympathisch. Er sei Psychologe, arbeite hier als Berufs berater und werde versuchen, mir zu helfen. Unser Gespräch begann so:
Er: «Was erwarten Sie von mir?»
«Ich möchte einfach nicht voll invalid werden.»
Er: «Warum nicht?»
«Ich möchte nicht mein Leben lang zu Hause sitzen bleiben. Ich will am Morgen aus dem Haus gehen und etwas zu tun haben.»
Er: «Da müssen Sie keine Angst haben, das wird Ihnen die IV nie verbieten. Sie müssen uns nur belegen, was Sie tun und wie viel Geld Sie damit verdienen.» Beispielhaft erklärte er mir, wie sich ein IV-Grad berechne. Würde etwa Novartis-Präsident Daniel Vasella einen schweren Hirnschlag erleiden wie ich, hätte er auch keine Wahl: Dann würde man den Lohn, den er auf zumutbare Weise noch verdienen könnte, vergleichen mit seinem vorherigen Salär. Daraus ergäbe sich eine Lücke, die in seinem Fall notgedrungen riesig sein muss. Daniel Vasella würde mit Sicherheit eine ­IV-Vollrente von 2320 Franken monatlich erhalten.

Als Hirngeschädigter bin ich langsamer von Begriff. Trotzdem verstand ich: Auch bei mir wird sich eine Lücke auftun. Selbst wenn ich als Journalist nie so gross verdient hatte wie Daniel Vasella, hatte ich genug verdient. Mehr als andere. Bei der IV meldete ich mich an, weil man das von mir verlangt hatte. Zwölf Mo nate war ich zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Den Lohn zahlte mir die «Welt woche», mein dama­liger Arbeitgeber. Das nötige Geld dafür überwies die Krankentaggeldversicherung an die «Weltwoche». Die Lösung aus dieser Konstellation war so durchsichtig wie plausibel: Die private Krankentaggeldversicherung wollte meinen teuren Fall abschieben – an die staatliche IV.

Mein IV-Berater dagegen verfolgte höhere Ziele: «Integration vor Rente». Freundlich übergab er mir einen farbigen Prospekt. Für mich komme nur eine Institution in Frage: das ZBA in Luzern, das Zentrum für berufliche Abklärung von Menschen mit einer Hirnverletzung. Ein Aufenthalt dort koste Geld. Er nannte einen Preis pro Tag, höher als eine Nacht im Hotel. Aber in meinem Fall würde die IV investieren.

Also pendelte ich drei Monate lang 80 Minuten hin, 80 Minuten zurück. Mit Tram, Zug und Bus von Zürich zum Kantonsspital Luzern. Hundert Schritte davon entfernt das ZBA. Mein Gang war noch unsicher, aber dank meinen Wanderstöcken kam ich an.

Zum ersten Mal in meinem Leben arbeitete ich mit Stempeluhr. 10.15 bis 12 Uhr, 12.45 bis 15.30 Uhr. Lustig wars nicht. Wie in der Schule musste ich Aufsätze schreiben, Dreisatzrechnungen lösen oder ein mal einen Fahrplan analysieren: Fahrzeiten, Busliniennum mern, Abfahrts­zeiten, Haltestellen? «Herr Schneider konnte diese verschiedenen Informationen nicht sinnv oll zusammenbringen», hiess es im Schlussbericht. «Er fühlte sich von solchen Mehrfach-Aufgaben überfordert.» Viel besser ging es mit der Sprache. Mir wurde ein «sehr hohes Niveau» attestiert. Bald war klar: Eine Umschulung bringt nichts. «Herr Schneider ist durch und durch Journalist.»

Im ZBA gibt es eine Metallwerkstatt, eine Schreinerei, eine Elektronik- und eine Büroabteilung. Hier können Hirnverletzte «schnuppern», sich auf eine Lehre vorbereiten oder den Wiedereinstieg planen. Denn die IV ist mehr als eine Renten­maschine. Vorher bietet sie Hilfe zur Integration. Sie bezahlt die intensive Betreuung in einer Institution wie dem ZBA, inklusive der Taggelder für die Teilnehmer. Damit wurde meine Krankentaggeldversicherung entlastet. Wir waren zwanzig. Der Wirt aus der Altstadt von Bern hatte eine Bierflasche auf den Schädel bekommen. Warum, weiss er bis heute nicht. Im ZBA übt er als Elektriker. Der 20-Jährige, der sein zu Schrott gefahrenes Auto auf Face book furchterregend zur Schau stellt, wird am Mittagessen in der Kantine dafür getadelt. Von seiner Kollegin, die lieber nach vorn blickt. Sie will im Büro des Geschäfts ihres Vaters unterkommen. Der Sek-Lehrer, der von der Treppe herunter auf den Kopf fiel, wird den Stress im Schulzimmer kaum mehr aushalten. Mit ihm sprach ich über die Nebenwirkung von antiepileptischen Medikamenten. Sie machen müde und hässig. Deswegen will sich der Sek-Lehrer nun weiterbilden: zum Bibliothekar.

Und wo waren die Drückeberger, die Schmarotzer? Eine Abklärung im ZBA ist eine Massnahme zur Integration. Wer keine Integration will, erscheint hier nicht. Wer sich hier keine Mühe gibt, fliegt raus. Und die «eingebildeten Kranken»? Sie fehlten auch. Ein Hirnschaden ist eine objektive Diagnose. Legt man uns in die Röhre, wird alles sichtbar. Ich bekam keinen einzigen der umstrittenen IV-Gutachter zu Gesicht. Die bestehenden Röntgenbilder zeigen genug: Meine ganze linke Hirnhälfte ist fast voll intakt; nur der rechte Rest ist weg.

Das oberste Ziel des ZBA ist der erste Schritt in die Praxis ausserhalb des ZBA. «Wo wäre das möglich?», wollte mein Betreuer wissen. Mir war schon damals bewusst gewesen, dass ich mit Zahlen weniger gut um gehen und auch nicht mehr so logisch denken kann wie früher. Zudem brauche ich für alles viel mehr Zeit. Der harte Wirtschaftsjournalismus wird künftig zu hart für mich sein. Aber ich hatte alte Freunde bei der Zeitschrift «Schweizer Familie». Und die machten mit.

Also wurde ich «Hilfsproduzent». Nachdem man mir mit viel Geduld das Computersystem hatte erklären müssen, durfte ich mal hier eine Bildlegende schreiben, mal dort einen Text kürzen. Am Freitag der ersten Woche gelang es mir, eine Autoseite samt Titel zu produzieren. Ein paar Ungenauigkeiten auf der linken Seite gab es, weil mein Gesichtsfeld seit dem Hirnschlag eingeschränkt ist. Aber sonst war alles tipptopp. Ziemlich stolz spazierte ich nach Hause. Am nächsten Montag machte ich mich ohne Wander­stöcke an die Arbeit. Aus dem Arbeitsversuch wurde ein Arbeitspraktikum, dann ein Tausend-Fran ken-Job und zum Schluss eine offizielle Anstellung als richtiger Journalist mit stark reduziertem Pensum. 30 Monate nach meinem Antrittsbesuch im Bau der SVA in Zürich erfolgte der grosse Moment: Mein IV-Berater erschien zusammen mit meinem ZBA-Betreuer auf der Chefredaktion der «Schweizer Familie», um meine Arbeitssituation zu besprechen.
Also habe ich mein Ziel erreicht. Zwar beziehe ich eine IV-Rente, aber ich bin nicht voll invalid. Mein IV-Grad beträgt exakt 83 Prozent. Zu 17 Prozent immerhin bin ich «valid». Das ist wie beim Flugticket. Dort steht auch «valid» drauf. Auch ich bin «gültig»: zu 17 Prozent. Und diese 17 Prozent setze ich nun voll ein, noch valider zu werden.

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