Bald schreiben wir alle alles klein

Wie sich die Kleinschreibung in die deutsche Sprache einschleicht
09.09.2012, NZZ am Sonntag
Früher war es wilder. Wir wollten noch alles. Und weil wir realistisch waren, forderten wir das unmögliche. Was natürlich falsch ist, grammatikalisch gesehen. Grammatik jedoch kümmerte uns zuletzt. Regeln wollten wir abschaffen oder umschreiben. Radikal. Demonstrativ. Damit es alle sahen. Haarwuchs. Sex. Musik. Endlich durfte es lang, frei und laut sein.Buchstaben schrieben wir, soweit wir denn geschrieben haben, klein. Latein war trotzdem nichts für uns. De gustibus non est disputandum, so viel war uns schon vorher klar. Und wir waren nicht einmal allein. Schriftsteller liebäugelten damit, etwa der junge Max Frisch. Firmen fanden es chic und die modischen labels sowieso. Die erste Swatch war eine swatch und keine Swatch Group wie heute. Klein war anglizistisch, avantgardistisch, politisch korrekt. Small is beautiful.Ernst nahmen es freilich die wenigsten. Und die, die es ernst nahmen, ahnten nicht, dass es richtig war, ernst klein zu schreiben. Sonst könnte doch jemand anders gemeint gewesen sein. Ernst Jünger, Ernest Hemingway, jeder andere Ernst.

Neulich war ich eingeladen zum apéro. Viele waren da, nur ich kannte niemanden. Der small talk war harzig. Wie üblich erzählte man sich, was man so tut, rein beruflich. Einer offenbarte vage, dass er sich engagiere. Als ich nachfragte, antwortete er: www.kleinschreibung.ch.

Hotzpotz. So etwas hatte ich längst vergessen. Dabei hatten schon die brüder grimm dafür gekämpft. Einschlafend wälzte ich mich hin und zurück und dachte an Max. Max ist streng: Korrektor. Ausgerechnet dieser Max teilte mir neulich mit: «entschuldige, ich schreibe in e-mails immer alles klein. so macht man weniger fehler.»

Wenn Max fehler kleinschreiben darf, träumte ich, dürfen es andere auch. Schüler könnten aufatmen. Lehrer müssten um ihre jobs fürchten. Journalisten brauchten keinen Max mehr, der dafür sorgt, dass ich recht haben gross schreiben muss. Max hat immer Recht.

Nun sitze ich da und versuche, richtig klein zu schreiben. Dabei habe ich mich gar nie für die kleinschreibung engagiert. Ich halte sie für typografisch monoton, politisch bedeutungslos, optisch störend. Ein Fehler war und bleibt für mich ein Fehler. Über fehler stolpere ich.

Bis hierher habe ich bewiesen, was unschwer zu erkennen ist: Ich muss nicht. Ich darf. Ich darf heute schon alles kleinschreiben, wie es in den USA, Frankreich oder Italien üblich ist. Damit bleibt auch auf deutsch alles lesbar. Zwar musste ich kurven und immer schön achtgeben. Manchmal schaffte ich es nicht, aber das zeige ich demonstrativ. Darum habe ich das wenige falsche kursiv gesetzt. Der berüchtigte Small Talk etwa wird auf deutsch vorderhand grossgeschrieben. Warum, weiss Max.

Korrekt geschrieben ist leider nicht farbig getextet. Satzanfänge darf ich gross schreiben, auf italienisch oder englisch kommt das uns auch nicht spanisch vor. Auf deutsch wird’s diffiziler. Substantive müssen grossgeschrieben sein. Substantive musste ich darum konsequent voranstellen, da jedes substantiv mittendrin ein fehler wäre. Satzanfänge werden dadurch überbetont. Sie erschallen rhythmisch militärisch.

Namen wie Kandinsky oder Max Bill dürften wohl auch in der deutschen kleinschreibung gross bleiben, schön konform mit Duden, der auch ewig gross erscheinen darf, da Konrad Duden real existiert hat. Und der mahnt uns heute via Google: «Wer vom Hundertsten ins Tausendste kommt, verzettelt sich leicht. Verzetteln kann man sich aber auch bei der Schreibung der Zahlwörter hundert und tausend.»

Fassen wir zusammen: Ich hab’s versucht. Habe bis hierher fast alles klein und trotzdem fast alles richtig geschrieben, mal abgesehen vom kursiven. Korrektor Max hat alles überprüft, alles stimmt mit dem neuen Duden überein. Selbstverständlich musste ich manchmal nachdenken, um deutsch und deutlich klein und kursiv falsch zu schreiben. Hirntraining war es, nichts weniger. Sprachspielerei, nichts mehr. Aber sie hat etwas bewirkt: Sie hat mich bekehrt. Jetzt bin ich realistisch und fordere das mögliche: Das kleine substantiv muss erlaubt sein. Schliesslich haben wir uns längst daran gewöhnt.

Also beginne ich nochmals von vorn, kein problem. Kurze worte sind entzifferbar. Werden die buchstabenreihen länger, beginnt das augenflimmern. Werden die inhalte in haupt- und nebensätze zerlegt, braucht’s etwas konzentration, aber die kann man üben.

Sie, liebe leserin, lieber leser, sind auf jeden fall mitgekommen. Sie sind das kleine derart gewohnt, dass ich das du anbiete. Du bist jünger als ich, du simst schneller. Beim simsen machst du zwar ab und zu einen punkt. Danach geht’s gross weiter. Automatisch. Sprache lebt. Sprache verändert sich, technologie bestimmt unser ganzes leben samt der kultur. Die SMS zum glück ist noch nicht verschwunden. Das hat sogar eine innere logik. Wenn wir eine short message versenden, können wir bequem zwischen GROSS und klein switchen.

(Achtung: Die Erfassung der Kursiv-Schrift ist mir womöglich nicht vollständig gelungen. Dadurch haben sich vermutlich fehler eingeschlichen!)

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