Hauptsache gesund

Warum wird unser Gesundheitssystem immer teurer? Fragen und Antworten

11.10.2012, Schweizer Familie

Warum steigen die Kosten im Gesundheitswesen von Jahr zu Jahr?Weil Qualität ihren Preis hat. Die Schweiz besitzt vermutlich das beste Gesundheitswesen der Welt. Grober Indikator dafür ist die statistische Lebenserwartung: Sie hat sich seit 1900 verdoppelt. Heute hat ein neugeborener Knabe 80,3 Jahre vor sich, ein neu geborenes Mädchen 84,7 Jahre.

Ist damit die maximale Lebens­erwartung erreicht?

Noch nicht. Vor allem bleiben die älter werdenden Leute gesünder; das beschwerdefreie Leben verlängert sich also. Gemessen in Jahren wird die Lebenserwartung aber nicht mehr gross wachsen.

Werden sich in der Folge die Gesundheitskosten verflachen?

Diesen Herbst steigen die Prämien nur sanft. Aber das hat buchhalterische Grün de: Weil die Krankenkassen nicht mehr so viele Geldreserven halten müssen, gewähren sie Rabatte. Ein einmaliger Effekt, keine Trendumkehr. Im Gegenteil. Die demografische Entwicklung bringt mit sich, dass mehr ältere Menschen nachrücken. Demnächst erreicht die geburtenstarke Babyboomer-Generation das Pensionsalter. Das bekommen AHV und Pensionskassen zu spüren – und auch die Krankenkassen.

Sind ältere Menschen generell kränker als jüngere?

Es gibt kerngesunde Senioren. Doch im Durchschnitt verursachen 90-Jährige bei den Krankenkassen fünf Mal höhere Kosten als 50-Jährige, und 50-Jährige doppelt so hohe wie 20-Jährige. Das sehen wir in Apotheken und Wartezimmern bestätigt: Ältere müssen öfter zum Arzt, sie benötigen mehr Medikamente. Und sie brauchen mehr Pflege.

Müssen alte Menschen Angst haben, dass sie nicht mehr die gleichen Leistungen erhalten wie junge?

Nur bei den Zusatzversicherungen. Hier müssen sie höhere Prämien zahlen. Viel besser steht es bei der Grundversicherung. Sie garantiert die gleiche gute Versorgung für alle. Darin ist fast alles inbegriffen: künst­liche Hüftgelenke, künstliche Kniegelenke, künstliche Herzklappen. Die Grundversicherung ist keine Minimalversicherung. Gerade bei Senioren sorgt die Medizin für immer bessere Lebensqualität.

Wie lange ist Spitzenmedizin für alle noch bezahlbar?

Das ist nicht nur eine wirtschaftliche Frage, sondern auch eine politische. Fünf Regierungsräte, die es wagten, ein Regionalspital zu schliessen, sind abgewählt worden. Seither will sich keiner mehr an der Frage die Finger verbrennen. Bis jetzt forderte auch niemand, eine Lebertransplantation solle es ausschliesslich für Leute unter 70 Jahren geben ­– weil sie fast 150 000 Franken kostet. In ähnlichen Dimensionen bewegen sich die jährlichen Kosten für die Dialyse bei Nierenpatienten. Wer soll in den Genuss kommen, wer nicht? Darüber diskutieren höchstens Ethiker offen. Im Alltag sprechen die behandelnden Ärzte mit den ­Patienten oder ihren nächsten Angehörigen, ob ein Eingriff nötig und sinnvoll ist.

Welche Rolle spielen die Medikamente?

Medikamente sind in der Schweiz teurer, unser Markt ist weiterhin abgeschottet. Zwanzig Prozent der Einnahmen benötigt die Krankenkasse für Medikamente. Medikamente schaffen auch immer mehr Nutzen. Viele Arten von Krebs sind inzwischen heilbar, dank Chemotherapien. Auch Aids ist zum Glück kein Todesurteil mehr, doch die Arznei ist kostspielig.

Gibt es andere «neue» Krankheiten, die ins Geld gehen?

Grösste Sorge bereitet die Fettleibigkeit. Die Schweiz wird «amerikanisiert». Bei Schulpflichtigen gilt jeder sechste Knabe und jedes siebte Mädchen als übergewichtig. Unter den Erwachsenen ist bereits jeder Dritte betroffen. Das führt zu orthopädischen Problemen und später zu chronischen Krankheiten. Das Ende kann ein Leben im Rollstuhl sein. Vorher kommt hoffentlich eine Physiotherapeutin. Sie ist ebenfalls nicht gratis. Die Zahl der Physiotherapeuten steigt stärker als die Zahl der praktizierenden Ärzte.

Welche Rolle spielen die vielen deutschen Ärzte, die in der Schweiz hohe Löhne verdienen?

Die Löhne in den Spitälern sind für Schweizer und Ausländer gleich, und die frei schaffenden Ärzte müssen sich wie Schweizer an die offiziellen Tarife halten. Umgekehrt sind wir auf gut ausgebildete Spezialisten, Pflegerinnen und Therapeutinnen aus dem Ausland angewiesen. Nur mit ihnen können Schweizer Spitäler ihre hohe Qualität garantieren. Das einheimische Personal allein wäre total überlastet. Wegen des Numerus clausus an unseren Universitäten gibt es in der Schweiz nicht zu viele, sondern zu wenige Doktoren.

Warum unternehmen die Politiker nichts gegen steigende Gesundheitskosten?

Weil sie gewählt werden wollen. Politiker richten sich nach den Wünschen des Volks. Reiche Länder können und wollen sich mehr leisten als arme Länder. Was ist uns das Wichtigste? Auf diese Frage antworten Schweizer in der Regel mit «Ge sundheit». Uns ist eine umfassende Grund versorgung wichtig. Wir fordern, wie Abstimmungen immer wieder zeigen, die freie Wahl des Arztes, des Spitals und vermutlich auch der Krankenkasse.

Können wir Patienten etwas tun? Hilft etwa Prävention?

Wer nicht raucht, gesund isst, sich viel bewegt, lebt viel besser – und meistens auch länger. Aber damit werden keine Kosten gesenkt, im Gegenteil. Im Laufe eines langen Lebens fallen mehr Arztbesuche an. So makaber es klingt: Ausgerechnet starke Raucher sind aus Sicht des Staats ein «gutes Geschäft». Sie sterben im Durchschnitt zu früh, als dass sie das medizinische Angebot voll beanspruchen könnten. Ausserdem zahlen sie erst noch Tabaksteuern. Das Beispiel zeigt aber, Gesundheits­fragen dürfen nicht allein unter dem Kosten­aspekt diskutiert werden.

Gibt es gar keine Lösung, um die Kosten in den Griff zu bekommen?

Es werden dafür vor allem zwei Wege be schritten: In Spitälern wird neu mit Fall­pauschalen abgerechnet – die ökonomischen Auswirkungen sind dabei noch offen. Und es wird versucht, die Medikamentenpreise zu senken. Aber auch wir Patienten können einen Beitrag leisten: indem wir nicht wegen jeder Bagatelle zum Arzt gehen. Oft kann schon eine Apothekerin helfen. Vor allem müssten wir nicht sofort zum Spezialisten rennen, ­sondern zuerst den Hausarzt aufsuchen. Und jederzeit dürfen wir uns in der Praxis ­Fragen erlauben. Wie zum Beispiel die: «Ist diese Untersuchung wirklich ­nötig?» Oder wie auch diese: «Würden Sie diese Operation auch Ihrer eigenen Frau oder Ihren eigenen Kindern empfehlen?» Im Vertrauen geben viel Ärzte nämlich zu, dass «keine Operation» oft die beste ­Operation wäre.

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