Mein Wille geschehe

Was ist einePatientenverfügug? Sechs Missverständnisse.
15.11.2012, Schweizer Familie
Herr Thomas A., 53 , erhält die Dia­gnose ALS (Muskelschwund). ­Erste Symptome zeigen sich beim Gehen, Sprechen, Schlucken. Tho mas A. weiss, dass er an ALS sterben wird. Aber er weiss nicht, wie er sterben wird. «Womit muss ich im schlimmsten Fall rechnen?», fragt er seinen Neurologen.Als er hört, dass er ersticken könnte, ist für ihn sofort klar: Das will er um jeden Preis vermeiden. Sollte er in Atemnot geraten, will er davon nichts spüren. Falls Komplikationen auftreten, möchte er «nicht reanimiert» werden. Was das bedeutet, weiss er, weil er alles mit seinem Arzt bespricht. Nach zwei Nächten Ab­wägen hält er seinen Willen mit Datum und Unterschrift fest. Er übergibt dieses Blatt Papier dem Neurologen, seinem Hausarzt und den nächsten Angehörigen. Jetzt ist Thomas A. leichter ums Herz.
So traurig die Geschichte von Herrn A. ist: Sie zeigt eine typische Situation für den sinnvollen Einsatz einer Patientenverfügung. A. weiss, was auf ihn zukommt. Er ordnet an, wie zu reagieren ist. Er ist jetzt noch fähig, selbst zu bestimmen, was in der letzten Phase seines Lebens medizinisch unternommen werden soll – und was nicht. Vor allem informiert er die richtigen Leute, damit sie seinen Willen umsetzen, wenn er das nicht mehr kann.
Am 1 . Januar 2013 tritt das neue «Erwachsenenschutzrecht» in Kraft (siehe Box S. 78 ). Damit ist auch juristisch geregelt: Ärzte müssen sich an die Vorgaben ihrer Patienten halten. Alte und Jüngere, Todkranke und Kerngesunde dürfen verlangen, die Medizin möge im letzten ­Moment nicht «zu viel» für sie tun.Illustrationen Christophe Badoux

Missverständnis Nr. 1

Gleichzeitig wünschen vermutlich die glei chen Leute, die Medizin möge auch nicht «zu wenig» für sie tun. Insbesondere im Fall eines Notfalls. Das ist kein Widerspruch, sondern das Missverständnis Nummer eins rund um die Patientenverfügungen. In der Schweiz kursieren viele vorgedruckte Formulare mit einigen Varianten – aber keine einzige verhindert die medizinische Not­hilfe. Es gäbe wohl auch keinen Arzt im Land, der auf einer Unfallstelle zuerst nach einer Patientenverfügung suchen würde. «Im Notfall wird das Leben gerettet, solange es gerettet werden kann», sagt Melanie Kuhn von der Sterbehilfe-Organisation Exit.

Missverständnis Nr. 2

Exit ist die radikalste Kämpferin für Patien tenverfügungen. Sie hat dieses Instrument in der Schweiz eingeführt. Jede Person, die Exit beitritt, erhält eine zugeschickt. Der Name Exit sorgt für Missverständnis Nummer zwei. Wer im Voraus verfügt, dass in einem hoffnungslosen Fall auf gewisse medizinische Massnahmen zu verzichten sei, wählt damit nicht den Freitod. Die Patientenverfügung wird erst dann angewendet, wenn man selbst nicht mehr zum Entscheid fähig ist, eine medizinische Massnahme zu bejahen oder abzulehnen.

Der Verzicht auf medizinische Massnahmen zur Erhaltung des Lebens ist ­weder unethisch noch unchristlich. «Wir können das schlimme Leiden nicht verhindern, aber wir müssen es auch nicht verlängern», sagt Beat Vogel von der Caritas. Darum gibt das katholische Hilfswerk vorgedruckte Formulare ab: 3000 bis 5000 Patientenverfügungen werden im Jahr bestellt für 15 Franken inklusive einer persönlichen Ausweiskarte, die ins Portemonnaie passt.
Die Caritas gibt auf ihrer Hotline Rat rund um die Patientenverfügungen. Das Thema bewegt, die Frage trifft ins In­nerste, also sind persönliche Antworten gesucht. Wie soll ich meinen letzten Willen in Worte fassen? Wie können die behandelnden Ärzte später nachvollziehen, was ich heute meine?
Ohne solche schriftlichen Anweisungen hat bis jetzt der Arzt entschieden. Damit wurde er zum «Halbgott in Weiss». Zum Richter über Leben und Tod, der in Zeiten des medizinischen Fortschritts eine immer wichtigere Rolle übernommen hat. Dabei hat er sich hoffentlich mit den nächsten Angehörigen abgesprochen. Dank dem neuen Gesetz wird er nun dazu verpflichtet.
Doch auch dann bleiben Unsicherheiten. Angehörige können sich überfordert fühlen und wollen sich nicht einmischen. Angehörige sind sich auch nicht immer einig. Um das zu vermeiden, müssen sich Patienten zu Wort melden. Direkt. «Patienten-Autonomie» heisst das Zauberwort, das heute in aller Munde ist. Dazu gehört auch die Patientenverfügung.

Missverständnis Nr. 3

Und wie reagieren die Ärzte? Hier verbirgt sich Missverständnis Nummer drei. Schweizer Ärzte haben gegenüber Patientenverfügungen keine Berührungsängste. Die offizielle Ärzteverbindung FMH gibt seit langer Zeit kostenlos Formulare ab. Früher stand ein einziger Satz zuoberst: «Mein Leben soll sich in Würde und Stille vollenden.» Mit dieser offenen Formulierung konnten Ärzte und Pflegende allerdings wenig anfangen. Die FMH suchte darum eine bessere Lösung. In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften entstand ein Formular mit klaren Aussagen, die für Betrof­fene und das medizinische Personal verständlich sind. «Das war eine ­lange, spannende Auseinandersetzung», sagt Lucia Rabia, Juristin bei der FMH.

Der neue Text wird seit letzten Sommer in einer ausführlicheren und einer kürzeren Version gratis angeboten. Wörtlich lautet die kürzere Patientenverfügung so: «Für den Fall, dass ich urteilsunfähig werde, möchte ich, dass vorerst alle medizinisch indizierten Massnahmen zwecks Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit und Wiederherstellung meines Vorzustandes getroffen werden. Erweist es sich jedoch nach sorgfältigem ärztlichem Ermessen als unmöglich oder unwahrscheinlich, dass ich meine Urteilsfähigkeit wieder ­erlange, so verlange ich den Verzicht auf alle Massnahmen, die nur eine Lebens- und Leidensverlängerung zur Folge haben.»
Man muss noch klar denken können, um das Dokument unterschreiben zu können. Sollte man aber jemals so krank werden, dass keine Aussicht mehr besteht, klar denken zu können – dann wird dieser Entscheid umgesetzt.

Missverständnis Nr. 4

Ist damit alles erledigt? Muss man jetzt nur noch ein Häkchen aufs Blatt setzen samt Datum und Unterschrift? – Man könnte. Aber dies ist das Missverständnis Nummer vier. Auf jedem vorgedruckten Formular gibt es offene Fragen mit Weissraum für eigene Worte. Auf dem Caritas-Formular wird am Schluss sogar ausdrücklich eine persönliche Erklärung verlangt, hand schriftlich. «Mindestens einen Satz soll jede Person selber formulieren», sagt Beat Vogel. «Wir wollen Näheres über die Haltung und das Anliegen erfahren.» Nur so kann man sicher sein, dass der geäusserte Wunsch dem tatsächlichen Willen entspricht.

Selbstverständlich darf man auch die komplette Patientenverfügung in eigene Worte fassen. Freilich stellt sich dann die Frage, ob sich Laien genau genug aus­drücken können, damit Doktoren später die richtigen Konsequenzen ziehen. «Ich möchte nicht an Apparaten und Schläuchen hängen», ist in der Umgangssprache oft zu hören. Just dieser Satz taugt wenig, weil er in der medizinischen Praxis nicht eindeutig interpretiert werden kann.
Ist das Thema damit ein Fall für den ­Patientenschutz? Tatsächlich offeriert die Schweizerische Patientenorganisation SPO Hilfe: in Form eines eigenen Formulars. Pro Senectute bietet ebenfalls eine Variante an. Gerade bei Betagten ist der Bedarf gross. Was ist zu tun – respektive: nicht mehr zu tun – bei schwerer Demenz? Wenn bei Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium eine Lungenentzündung auftritt? Wird nun ein «natürlicher» Tod zugelassen?
Die Antwort dürfen Betroffene, so­lange sie urteilsfähig sind, selber geben. Man darf sich von den vielen Formularen nicht ver wirren lassen. Den besten Rat gibt der Haus arzt. Mit ihm soll man alles in Ruhe besprechen. Das ist auch nötig. Schliesslich dürfen, wie es im neuen Gesetz verlangt wird, «keine Zweifel bestehen, dass die Patientenverfügung auf ­freiem Willen be ruht». Gerade ältere Personen könnten von künftigen Erben unter Druck gesetzt werden. Käme es dazu, würden Betroffene am ehesten mit dem Hausarzt darüber reden.
Sind damit alle Fragen geklärt? Nie. Eine Patientenverfügung ist eine «lebenslängliche» Aufgabe, die immer wieder neu zu überarbeiten ist. «Alle zwei Jahre», empfehlen die Fachleute. Je frischer das Datum der Unterschrift, umso besser wirkt sie. Je nach Verlauf des Gesundheitszustands stellen sich auch andere Fragen. Zum Beispiel Krebs. Krebs kann im Endstadium wehtun. Sehr weh. Auf die Frage: «Welchen Tod wünschen Sie sich?» antwortet der bekannte Onkologe und frühere Politiker Franco Cavalli: «Ich möchte zu Hause sterben. Mich von meiner Familie verabschieden. Kommen die Schmerzen, soll man mir helfen, dass ich eher früher als später sterbe.»

Missverständnis Nr. 5

Hier zeigt sich Missverständnis Nummer fünf: Eine Patientenverfügung verdrängt die sogenannte Palliativ-Medizin nicht, im Gegenteil. Dank der Patientenverfügung kann der «schmerzlose» Tod eingefordert werden. Dazu verhelfen Medikamente. In praktisch jeder vorgedruckten Patientenverfügung wird dieser Punkt geklärt. Die Kurzvariante der FMH endet mit den Worten: «Ich wünsche in jedem Fall die wirksame Behandlung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen wie Angst, Unruhe, Atemnot und Übelkeit.»

Abschliessend wird auf den meisten Formularen nach der künstlichen Ernährung gefragt. Doch was bedeutet es konkret, wenn man dazu Nein sagt? Was passiert dann mit schwer Dementen, wenn sie zum Beispiel eine Essenshilfe durch das Pflegepersonal nötig haben? Werden sie in einem solchen Fall im Stich gelassen?
Zum Glück muss da niemand Angst haben. Lucia Rabia, die Juristin bei der FMH, stellt klar: Die Essenshilfe ist ­keine medizinische Massnahme, die man verweigern oder einfach so «abstellen» ­könnte. Die Essenshilfe ist eine intensive Be­treuung. «Darauf hat in der Schweiz jede Person einen Grundanspruch.»

Missverständnis Nr. 6

Damit ist auch Missverständnis Nummer sechs aus dem Weg geräumt. Die Patientenverfügung ist kein Mittel, um Kosten zu sparen. Niemand kann zu einer Patientenverfügung gezwungen werden, niemand muss sich unter Druck gesetzt ­fühlen, im Gegenteil: Die Patientenverfügung ist ein Instrument zur Freiheit und Selbstbestimmung.

Diese Institutionen bieten eine

vorgedruckte Patientenverfügung an: Caritas, 041 419 22 22, www.caritas.ch FMH, 031 359 11 11 , www.fmh.ch Pro Senectute, 044 283 89 89, www.pro-senectute.ch Exit, 043 343 38 38 , www.exit.ch

Was bringt das neue Gesetz?

Neu kann jeder mit der Patientenverfügung einen Stellvertreter einsetzen für den Fall, dass er nicht mehr «urteilsfähig» sein sollte. Der ist berechtigt, ambulan ten oder stationären Massnahmen zuzustimmen oder sie zu verweigern.
Wenn keine Verfügung vorliegt, muss der Arzt eine der folgenden Personen (je nach Vorhandensein) einbeziehen:

1 . Den Beistand, sofern die Behörde einen solchen eingesetzt hat.
2 . Den Ehegatten bzw. den eingetragenen Partner oder die eingetragene Partnerin.
3 . Diejenige Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemein­samen Haushalt führt und die ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet.
4 . Kinder.
5 . Eltern.
6 . Geschwister.

Künftig soll der Hinweis, dass eine Patientenver­fügung vorliegt, auf dem Chip der Krankenkassen-Versicherungskarte vermerkt sein. So steht es zumindest im Gesetz. In der Praxis funktioniert ­diese Technik noch nicht.

In jedem Fall empfiehlt es sich, eine Kopie der unterzeichneten Patientenverfügung dort zu hinterlegen, wo sie hingehört: beim Hausarzt, bei den nächsten Angehörigen und beim selbst eingesetzten «Stellvertreter».

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