Der amerikanische Traum lebt – in der Schweiz!

30.10.2012, Bulletin Credit Suisse

Es war einmal der Traum aller Eltern, dass es ihre Kinder weiter bringen als sie selber. Besonders schön erfüllte sich dieser Traum in den goldenen Sechzigern. 1973 folgte ein kurzer Ölschock, alsbald lief es wieder wie geschmiert und gewünscht. Aber heute? Können es die in den Neunzigern Geborenen immer noch weiter bringen als ihre Eltern?Alles deutet darauf hin. Die Schweizer Jugend ist vielleicht nicht so hungrig wie die chinesische, aber auch nicht so kulturpessimistisch eingestellt wie manch ein satter Schweizer Erwachsener. Die Mehrheit der Jugend verwirklicht sich sogar selbst, ohne davon zu schwadronieren. Sie rennt ihrem Traumjob nicht bloss hinterher, sie ist nah dran. Von den Unter-25-Jährigen, die in der Schweiz eine Lehre abgeschlossen haben, erklären rund 52 Prozent, dass ihre jetzige Stelle «ihren Träumen entspricht». Und wenn sie sich nach ihrem Lehrabschluss weiterbilden, steigt diese «Traum-Quote» auf sagenhafte 57 Prozent, wie das neue Credit Suisse Jugendbarometer zeigt.Dieses Resultat ist im internationalen Umfeld überwältigend. Andernorts träumen die Unter-25-Jährigen davon, überhaupt einen Job zu finden. In Frankreich oder Italien ist jeder Dritte arbeitslos gemeldet, in Spanien oder Portugal sogar jeder Zweite. So etwas wirkt gespenstisch, deprimierend, hoffnungslos. Dort bleibt nichts offen als die Hintertür: auszuwandern! Und zwar in die Schweiz! Hier gibt’s Jobs, wenn nicht sogar Traumjobs. Und das Schönste kommt erst. In der multikulturellen Schweiz lockt eine Aussicht, die es in dieser Form nicht einmal mehr in den USA gibt: dass es die Kinder weiter bringen als ihre Eltern.

Das ist kein schönfärberischer Patriotismus. Laut einer gross und international angelegten Studie der OECD darf die langfristige Integration in der Schweiz als «Erfolgsgeschichte» bezeichnet werden. Wörtlich heisst es: «Die in der Schweiz geborenen Kinder von Migranten sind ihren Eltern hinsichtlich Ausbildungsniveau und beruflicher Position überlegen. Sie sind sozial mobil, innovativ und schneiden häufig besser ab als gebürtige Schweizer».
Am besten ergeht es den Secondos aus Spanien. Sogar wenn sie aus einem Elternhaus tiefster Bildungsstufe stammen, erreichen sechs von zehn Jugendlichen in der Schweiz ein deutlich höheres Niveau, wie eine Untersuchung der Universität Basel gezeigt hat. Das ist ein überraschend schönes Resultat. «Die Schweiz bietet ausgezeichnete Startmöglichkeiten für die Kinder der Immigranten», resümiert der Basler Forscher Philipp Bauer, der heute beim Wirtschaftsverband Economiesuisse arbeitet.
Brisantes Detail: Gebürtige Schweizer Jugendliche, die ebenfalls aus einem Haus tiefster Bildungsstufe stammen, «überholen» ihre Eltern weniger oft als eingewanderte Spanier.

Früher musste man Oberst im Generalstab sein, um bei einer Bank Karriere zu machen. Vor fünfzehn Jahren hat der aus der Osttürkei in die Schweiz geflüchtete kurdische Küchenjunge Erdogan Gökduman an der Langstrasse seine erste Imbissstube eröffnet. Daraus wurde New Point, eine Kebabkette mit elf Filialen, 15 Millionen Franken Umsatz und 150 Mitarbeitern.
«Gesellschaften, in denen die Kinder der ärmeren Schichten leichter nach oben kommen können, sind viel toleranter gegenüber Ungleichheiten», sagt der international führende Forscher für soziale Mobilität Gary Solow von der University of Michigan in den USA.

Wo auf dieser Welt ist der Aufstieg von unten nach oben am besten möglich? Wo eher nicht? Welche Gesellschaften sind durchlässiger als andere? – Es gibt inzwischen einige internationale Vergleiche, das Resultat immer dasselbe. Schweden, Dänemark und Holland mit ihren ausgebauten Sozialstaaten sind vorn. Und am Ende der Ranglisten stehen ausgerechnet die USA, früher einmal der Traum aller Auswanderer und Neuanfänger. «Die wichtigste Ursache dafür ist unser untaugliches Schulsystem», analysierte der Ur-Liberale Milton Friedman in seinem letzten Interview vor seinem Tod.
«Fast ein Drittel aller Schüler, die mit der High School beginnen, verlassen sie ohne Abschluss. Die sind sozusagen zu einem Leben in der Unterschicht verdammt». Und Joseph Stiglitz, der Wirtschaftsnobelpreisträger, schreibt in seinem eben erschienenen Buch «The Price of Inequality» über die USA: «We are no longer the land of opportunity that we once were… Der amerikanische Traum ist nur noch ein Mythos».

Rudolf Strahm wuchs im Emmental auf, absolvierte eine Lehre als Laborant, besuchte anschliessend die Ingenieurschule Burgdorf, welche er als dipl. Chemiker abschloss. Zwei Jahre lang arbeitete er in der chemischen Industrie, erst hinterher sah er eine Universität von innen. Er wurde Ökonom, Nationalrat (SP), eidgenössischer Preisüberwacher und amtiert heute – im besten Rentenalter – als einflussreichster Publizist im Land. Er schreibt etwa: «Die meisten Politiker und Meinungsführer sind Akademiker und wissen überhaupt nicht, was Berufsbildung heisst».

Gemünzt ist seine Kritik auf Vertreter der Elite wie Philipp Sarasin, Geschichtsprofessor an der Universität Zürich. Der meint: «Die Schweiz bildet zu wenig Akademiker aus». Professor Sarasin diagnostiziert eine «Bildungsverachtung», die Zulassungshürden zum Gymnasium seien zu hoch.

Scheitern die Kinder an der Gymi-Prüfung, leiden immer öfter ihre Eltern – vor allem wenn sie selber eine Matur im Sack haben. Die Jungen nehmen solche Niederlagen hoffentlich locker und bleiben cool. Denn sie ahnen: Etwas Praxis kann nicht schaden, im Gegenteil. Das Gymnasium allein wäre doch gar nichts wert. Danach müsste man Jahre lang studieren – mit vorerst offenem Ausgang. «Ein Universitätsabschluss lohnt sich kaum mehr», stellt Silvio Borner, Ökonomieprofessor an der Universität Basel, nach seiner Pensionierung nüchtern fest.
Die übliche Berufslehre dagegen – sie ist der erste Schritt zum ersten Lohn. Und das Wichtigste folgt danach. Wer mit möglichst wenig zusätzlichem Aufwand möglichst viel zusätzlichen Lohn herausholen will, macht nach der Lehre die Meisterprüfung oder noch besser: studiert dank einer Berufsmatur an einer Fachhochschule. Mit solchen Laufbahnen resultieren in der heutigen Schweiz die höchsten Bildungsrenditen, hat Stefan C. Wolter, Bildungsökonom der Universität Bern, mehrfach dargelegt.

Der traditionelle «Königsweg» beginnt im Gymnasium. Dorthin gelangt die grosse Mehrheit der Jugendlichen tatsächlich nie. Frappant sind die Unterschiede nach Herkunft. Von den Albanern, Türken, Portugiesen schaffen es weniger als vier Prozent, von den Spaniern fast neun, von den Griechen etwas mehr als zehn Prozent. Das ist erbärmlich. Von den Schweizern sind es immerhin 30 Prozent. Auch das ist erbärmlich im Vergleich zu den Jugendlichen mit amerikanischem oder deutschem Migrationshintergrund. Von denen machen 56 Prozent den Sprung ans Schweizer Gymnasium. – Warum? Sind Deutsche so viel klüger als Schweizer? Natürlich nicht. Aber die Deutschen, die in die Schweiz auswandern, sind in der grossen Mehrheit sehr gebildet. Und je gebildeter die Eltern sind, umso leichter lernen ihre Kinder in der Schule.

Der Zürcher Bildungsforscher Urs Moser hat einmal die Menge der Bücher im Haus der Eltern erfasst, Regal für Regal, Zentimeter für Zentimeter. Prompt entpuppte sich die Länge der Buchreihen in der Bibliothek der Eltern als «recht zuverlässiger» Indikator für die schulischen Leistungen von Primarschülern. Das Endprodukt dieser Entwicklung versammelt sich in den Hörsälen der zehn Universitäten und der beiden ETH. Dort bilden Akademiker die Kinder von Akademikern zu neuen Akademikern aus. «Sie reproduzieren sich selbst», nennt man das in der Bildungsforschung. In Zahlen: Die heutigen universitären Studenten in der Schweiz haben mit 60 Prozent Wahrscheinlichkeit einen Vater oder eine Mutter mit Matur. Mit gut 40 Prozent Wahrscheinlichkeit haben der Vater, die Mutter oder gar beide bereits einen Universitätsabschluss.

Aus dieser speziellen Warte gesehen haben es die Nachkommen der «unteren» Schichten fast einfacher. Sie müssen keine Angst vor dem Absturz haben, sie dürfen die Chance zum Aufstieg nutzen. Diese Chance ist voll intakt: der «soziale Aufstieg» klappt in der heutigen Schweiz so gut wie nie zuvor.
Seit 1980, als die Berufsmatur gesetzlich verankert wurde, ist eine wahrhaftige «Bildungsexpansion» in Gang gekommen. Dabei fand der grösste Fortschritt abseits der Elfenbeintürme statt. Jeder fünfte Lehrling schafft inzwischen die Berufsmatur – und erhält damit freien Zugang zu einer Fachhochschule. In den dortigen Hörsälen versammelt sich denn auch ein ganz anderes Publikum, das sozial viel besser durchmischt ist. Unter ihnen gibt es auffallend viele Secondas – und daneben erfreulich viele Schweizerinnen und Schweizer aus tieferen, sogenannt «bildungsfernen» Schichten.
Selbstverständlich ist die moderne Schweiz noch kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber wir haben absolut keinen Grund zum Jammern. Wir müssen nur etwas tun. Und das wissen manche Kinder besser als die meisten Eltern.

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