Die Gratis-Gsellschaft

Vom Handy über die Lebensmittel bis zur Hypothek: Alles ist so billig wie nie. Sogar das Geld kostet nichts.

17.01.2013, Shweizer Familie

Zwei für eins zum Preis von Franken eins. Das war kein Witz, und gemeint war keine abgestaubte Ware. Sondern Smartphones, nigelnagelneu. Als ob jemand zwei auf einen Schlag brauchen könnte. Aber für so etwas hat man Göttikinder oder Schwiegereltern.
Willkommen im Schlaraffenland. Fast alles ist fast gratis und noch mehr inklusive. Das iPhone ist auch eine Fotokamera, ist auch ein Navigationsgerät, ist auch ein Lexikon, ist auch ein Dictionnaire, ist auch ein Musikplayer. Sogar die Kopfhörer werden mit- geliefert.
Leisten wir uns wie anno dazumal den Luxus eines Telefons via Festnetz, erhalten wir im Paket den Internetanschluss samt TV-Box für 160 Sender. Verpassen wir einen Film, nehmen wir ihn auf. Die Harddisk hat mehr Platz, als wir je Zeit haben werden, uns alles anzuschauen.
Ins Kino brauchen wir nicht mehr zu gehen. 3-D geniessen wir daheim mit bester Akustik rundum. Ein tadelloses «Home Cinema» kostet weniger als zwei Tausender. Die Filme laden wir uns frei im Internet herunter. Das ist nicht ganz legal, aber auch nicht unbedingt illegal. Und wenn wir das Herunterladen nicht selber schaffen, hilft jeder unter 18-Jäh­rige gegen ein Sackgeld.
Gierige GratiskonsumentenVon A bis Z, vom Morgen bis zum Abend: Die Gratis-mentalität verändert unser Leben. Seit es Telefonie via Internet (Skype) gibt, dauern die Ferngespräche mit dem Onkel in Amerika länger. Wir hören uns bestens und sehen uns sogar dank einer eingebauten Kamera im Computer. Seit wir wissen, was eine App ist, nutzen wir «WhatsApp» und senden Fotos rund um die Welt. Das Geknipste speichern wir auf unseren Computern, ihr Speicher hat Platz genug. Fraglich ist höchstens, ob wir die Musse haben werden, die Flut der Fotos zu ordnen, in ein digitales Buch zu «kleben», um uns das physisch ausgedruckte Album schicken zu lassen. Tun wir das nicht, werden unsere Enkel nie sehen, wie wir gelebt haben.
Der tiefere Charakter unserer Gratisgesellschaft entpuppt sich am Buffet des All-inclusive-Hotels: Gratis macht gierig. Die Leute stürzen sich auf ­ das Angebot wie beim Weihnachtsessen der Firma: Sobald der Wein nichts kostet, fliesst er in Strömen.
Nur die Dummen legen draufBeginnen wir nochmals von vorn: Seit zwei neue Smartphones einen einzigen Franken kosten, liegen die Handys nur so herum. Leider nicht haufenweise, sondern verstückelt. Gemäss der Recycling-Gesellschaft Swico handelt es sich um acht Millionen Geräte in der Schweiz, die nicht mehr benutzt und leider nicht wiederverwertet werden. Konkret: Wir alle haben ein Handy im Sack und eines in einer Schublade – fabriziert von Billigstarbeitern in China. Was nichts kostet, ist nichts wert.
Finanziert wird diese Verschwendung durch eine krasse Fehleinschätzung. Zu viele Leute leisten sich ein zu teures Mobil-Abo, das sie nie ausnützen. Weil die einen zu viel zahlen, zahlen die andern gar nichts.Nach dem gleichen Prinzip laufen in unseren Bergen Skilifte und Sesselbahnen. Wer in der richtigen Herberge übernachtet, kriegt den Skipass gratis. Und wer legt drauf? Die letzten «Dummen», die noch volle Preise zahlen. Und die angelockten Gäste, die sich sonst kein teures Schweizer Hotel leisten würden, also dem Gaul nicht ins Maul schauen.
Bei den Gratiszeitungen «20 Minuten» und «Blick am Abend» sehen wir wenigstens auf den ersten Blick, wer das Portemonnaie zückt: die Inserenten. Schon im Facebook ist die Werbung besser versteckt. Sie hat den Gründer Mark Zuckerberg trotzdem reich gemacht. Ganz zu schweigen von Google. Dank der totalen Gratismaschine ist selbst guter Rat nicht mehr teuer.
Doch das Beste kommt erst: In der reichen und stabilen Schweiz gehen selbst grösste Geschäfte praktisch zum Nulltarif über die Bühne. Ein Haus gefällig? Eine Eigentumswohnung? Die Hypothek ist so billig wie nie. Der Jahreszins beträgt 1 Prozent für kurzfris tige Libor-Modelle. Wünschen wir etwas mehr Siche r­heit? Bitte sehr, eine Festhypothek für die nächsten acht Jahre kostet weniger als zwei Prozent Zins. Auch das ist kein Witz, sondern das Angebot der beiden Schweizer Grossbanken.
«Lustig ist das Schuldnerleben, faria, faria, ho», lautet die erste Strophe eines Volkslieds. «Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben, faria, faria, ho», gehts weiter. Und auch wenn bald alle in dieses Lied einstimmen, so ahnen wir doch: Ewig weitergehen kann das nicht. Schliesslich müssen Gratisschulden von jemandem beglichen werden. Von wem eigentlich?
Von Gratissparern. Legen wir unsere Franken auf unser Sparheft, erhalten wir noch 0,25 Prozent Zins. Demnächst offerieren wir dem Schalterbeamten ein Trinkgeld, damit er unsere Groschen überhaupt in Empfang nimmt.
So lassen wir uns verführen

Was zynisch klingt, ist politisch erwünscht. Geld, das keinen Wert hat, wird umso schneller ausgegeben. Das kurbelt den Konsum an. Das löst Investitionen aus. Das steigert das Bruttosozialprodukt. Mit Gratisgeld wollen uns die Politiker aus der Finanzkrise verhelfen. Weltweit. Die Schweizer Nationalbank, die Europäische Zentralbank, die japanische, die amerikanische – alle peilen dasselbe Ziel an: einen Zinssatz zwischen 0,0 und 0,75 Prozent.
Man muss nicht Wirtschaftswissenschaft studiert haben, um zu wissen: Wir kaufen, als wären wir Schlaraffen. In der heutigen Schweiz ist zu vieles fast gratis. Gerade noch sieben Prozent unseres Einkommens geben wir für Lebensmittel aus. Wen kümmerts da, wenn Tomaten nicht mehr nach Tomaten riechen und Fertigpizzas nach Kaugummi? 30 Prozent unserer Lebensmittel landen ohnehin im Müll. So lassen wir uns verführen – und betrügen uns damit selbst.
Der Endpunkt dieser Entwicklung ist nicht mehr fern. Tiefer als null kann der Zins nicht sinken. ­Billiger als gratis geht auch nicht. Sonst streikt der Bäcker im Dorf. Und dann gibts kein frisches Brot mehr, das wir uns schenken lassen könnten.
Der tiefere Charakter unserer Gratisgesellschaft entpuppt sich am Buffet des All-inclusive-Hotels: Gratis macht gierig.

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