Einer schaut für viele

Portrait von Kristian Widmer (Condor Films)

24.01.2013, Schweizer Familie

Kristian Widmer hatte letztes Jahr stets einen jungen Hund an seiner Seite: Padjo. Zu jeder Sitzung nahm er ihn mit, auch wenn er mit Bankiers am Paradeplatz zu verhandeln hatte. Sogar in Restaurants mit Hundeverbot war das Duo geduldet. Denn Padjo trug eine Weste: «Blindenhund in Ausbildung».
Kristian Widmer, 45, ist nicht blind. Bloss kurzsichtig, aber dank seiner Brille sieht er weit und klar. Das muss er auch, denn jeden Tag schaut er mehrere Filme, sieht schier unendlich viele Bilder. Hollywood kennt er nicht nur vom Hören­-sagen. Und berühmten Leuten begegnet er von Angesicht zu Angesicht, darunter Schauspielerlegende John Malkowich, Tennisstar Roger Federer und Kultregisseure wie Dani Levy oder Michael Steiner.
Wo das Fernsehen geboren wurdeWelch wichtige Rolle Widmer im Schweizer Filmschaffen spielt, zeigt allein seine Geschäftsadresse. Tritt er vom Büro hinaus auf die Strasse und überquert den Zebrastreifen, steht er direkt am Zürichsee – inmitten einer Postkartenschweiz. Falls das Wetter mitspielt, ist die Sicht frei über den See bis zu den Alpen.
Hier übte Kristian Widmer in seiner Mittagspause mit dem angehenden Blindenführhund Padjo, einen Zebrastreifen als Zebrasteifen zu erkennen oder eine Tür als eine Tür. Padjo lernte schnell. Hörte er am Zürcher Utoquai den Befehl «Porta», Tür, führte er seinen Herrn durch eine Türe hinauf in ein wahrhaftiges Grossraumbüro. Einst war es die erste Indoor-Tennis-Halle Europas. Dann ein TV-Studio mit Namen «Studio Bellerive». Hier wurde 1952 das Schweizer Fernsehen geboren, bevor es in den Zürcher Vorort Leutschenbach hinauszügelte.
Heute logiert Kristian Widmer im Studio Bellerive – als Chef der 1947 gegründeten Filmproduktionsfirma Condor Films. Was Condor Films tut, wissen nur Eingeweihte: Die Firma produziert bewegte Bilder – von kurzen Werbespots bis zum langen Spielfilm und ganzen Fernsehserien. Zu seinem Beruf kam Widmer wegen der Liebe. Seine erste Freundin arbeitete als Model. So kam der Jus-Student erstmals mit der Film- und Werbeszene in Kontakt. Dann aber war die schöne Freundin weg, und niemand in der Filmbranche wollte ihn mehr kennen. «Jetzt erst recht», sagte er sich, widmete sich dem Schnitt von Fil men und drehte eine Reportage über einen Weltrekordversuch. Als er bei Condor Films einen Termin bekam, war er sicher, eine Stelle im Film geschäft zu bekommen. Stattdessen sagte man ihm: «Vom Film hast du keine Ahnung. Aber als Assistent geben wir dir eine Chance.» Während seine ehemaligen Studienkollegen in Anwaltskanzleien Kar riere machten, begann er wieder ganz unten. Innert zwölf Jahren arbeitet er sich zum Geschäftsführer bei Condor Films hoch, machte an der Hochschule St. Gallen den MBA und kaufte mit 37 seine eigene Arbeitgeberin Condor Films. Eine steile Karriere.
Widmer könnte, wenn er sich wichtig machen wollte, einen echten Oscar hervor ­holen. Gewonnen wurde der Preis 1991 von Xavier Koller für seinen Film «Reise der Hoffnung», produziert von Condor Films. Doch Widmer lässt den Oscar in der Vitrine neben all den anderen Film- und Fernsehauszeichnungen. Stattdessen zückt er sein iPhone und zeigt stolz ein Foto. Zu sehen ist der dunkelbraune La­brador Padjo, behangen mit einem Schild: «Eidg. Dipl.». Die von der Invalidenversicherung IV überwachte anspruchsvolle Prüfung ist bestanden, und Padjo ist ab sofort bereit zum Einsatz als offizieller Führhund.
Mit dieser Geste demonstriert Kristian Widmer, wie er die Welt sieht: aus zwei Perspektiven. Sein Beruf ist das harte Geschäft rund um Filme, Stars, Werbung und TV. Seine zweite Leidenschaft aber gilt den angehenden Blindenhunden, die bei ihm, seiner Frau und fünf Katzen aufwachsen.
Das private Engagement ist aus dem geschäftlichen entstanden. 2006 beurteilte Kristian Widmer als Mitglied einer Jury Filme. Zu sehen bekam er ein Porträt ­ über die Stiftung Schweizerische Schule für Blindführhunde in Allschwil BL. Abends erzählte er seiner Frau davon. Seither hat das Ehepaar fünf angehende Blinden­hunde aus Allschwil aufgezogen, jedes Jahr einen neuen.
Zuständig für die Erziehung ist in der Regel Widmers Frau, da jeder Welpe eine klare Bezugsperson braucht. Letztes Jahr aber wollte es Kristian Widmer selber wissen und selber erfahren. Von morgens früh bis abends spät betreute er Padjo, denn ein zukünftiger Blindenhund muss mit jeder Situation umgehen lernen. Zum Beispiel muss er trainiert sein, sein Häuflein auf Befehl zu hinterlassen, sodass es eine blinde Person kontrolliert und ohne Mühe aufnehmen kann.
Als Kristian Widmer sich mit Blindenhunden zu beschäftigen begann, ist ihm aufgefallen, dass das Schweizer Fernsehen keine eigene Tiersendung hat. «Warum nicht?», wollte er von der damaligen Unterhaltungschefin Gabriela Amgarten wissen: Sie freute sich über die Frage – und beauftragte Widmer, ein Konzept zu erstellen. Bisher 45 Folgen sind daraus geworden: Jeden Sonntag um 18.15 Uhr auf SRF 1 läuft die Serie «Tierische Freunde».
Eine prominente Rolle darin spielt der Tierarzt Rico Hauser vom Tierheim Strubeli in Volketswil ZH. Von ihm hat Kristian Widmer die meisten seiner fünf Katzen, darunter Marylin, einen Kater mit dreiein halb Beinen. «Alle andern Leute wollen ein herziges Büsi», sagt er. Kristian Widmer hat auch andere gern.
Erzählt er von seinen Tieren, strahlen seine Augen Mitgefühl aus – und Glück.
Spricht er hingegen von seinem Beruf, tönt es kontrolliert. «Produzent» nennt er sich, im Wissen, dass sich die meisten Leute kein Bild dieses Berufs machen können. Schliesslich produziert er kein Fleisch und keine Schrauben. Sondern Filme. Und das ist eine Arbeit, die er emotionslos wie folgt definiert: «Der Film beginnt im Kopf des Regisseurs und endet im Kopf des Zuschauers. Wir bauen die Brücke dazwischen.»
Ein «tierischer Freund» gebliebenMit Roger Federer hat Condor Films schon drei «Brücken» gebaut. Im jüngsten Werk, einem Werbespot, fragt Roger Federer in einer noblen Airport-Lounge nach seinem verlorenen Koffer. Das zuständige Personal fragt ihn, was in seinem Koffer drin ist. «Schokolade», sagt er. Schnell wird der Koffer gefunden. Dieser ist tatsächlich voll mit Lindor- Kugeln. Doch die Flughafen-Aufseherinnen streiten dies ab. Sie wollen den Koffer nicht aushändigen und die Süssigkeiten lieber selber essen.
Gezeigt wird der lustige Spot auf der ganzen Welt. Gedreht wurde auf keinem Flughafen, sondern hoch über der Stadt Zürich im Fünfsternehotel Dolder Grand. Dort konnten ohne komplizierte Auflagen alle kreativen und logistischen Vorgaben unter einen Hut gebracht werden. «Kunst braucht das Handwerk ebenso wie das Handwerk die Kunst», sagt Widmer, der diese schwierige Balance mit Condor Films immer wieder findet. Auch, als ­ er mit John Malkovich einen Spot für ­ den Schweizer Luxusuhren-Hersteller IWC drehte – in Dübendorf auf dem Flugplatz.
Privat verkehrt Widmer nicht in den gehobenen Jet-Set-Kreisen. Zu ihm passt der Name seiner Serie auf SRF 1: Er ist ein «tierischer Freund» geblieben. Ein Bodenständiger, der auch die ersten Staffeln der Serie «Bauer, ledig, sucht» produziert hat. Kristian Widmer, verheiratet, ist glücklich. Er, der vom Sehen lebt, freut sich, dass sein Padjo nun einer sehbehinderten Person durch den Alltag hilft.
www.condorfilms.ch

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