Die Formel des Beifalls

Der Applaus-Messer vom Theater Winterthur

21.03.2013, Schweizer Familie

Der Applaus ist das Brot der Künstler, heisst es. Marc Baumann, 55 , nimmt sich das Sprichwort zu Herzen: Der kaufmännische Direktor am Theater Winterthur misst, wenn der Vor hang fällt, das Klatschen. Akribisch. «Die Länge mit der Stoppuhr, die Lautstärke mit ­einem Mikrofon», erklärt er. ­Daraus errechnet er einen «Applaus-Koeffizienten». Und stellt die Quoten ins Internet – für jede einzelne Vorstellung.
Früher verteilte Marc Baumann Abstimmungszettel. Alle Besucherinnen und Besucher durften am Ende einer Vorstellung zwischen zwei Varianten wählen: Daumen rauf, Daumen runter, «hat mir gefallen» oder eben «hat mir nicht gefallen». «Das empfand ich gegenüber den Künstlern als brutal», sagt Baumann. Als die Wahlbeteiligung auch noch auf zwanzig Prozent sank, erfand der Zahlenmensch den Klatschometer.
Ein Jahr lang interessierte sich niemand dafür. Via «Zürcher Landbote» und « 20 Minuten» rückte die eigenwillige Messmethode kürzlich aber ins deutsche Feuilleton. Spott und Hohn schwappten in die Ostschweiz rüber. Das «Hamburger Abendblatt» ernannte Baumann zum «Deppen der gesamten Theaterszene». Die «Frankfurter Rundschau» ortete «Idiotie». Und grosse Bühnen in Wien und Berlin waren sich einig: Die Qualität einer Aufführung lasse sich nicht ermitteln wie die Reiss­festigkeit eines Schuhbändels.
Tatsächlich taxiert Marc Baumann mathematisch streng. Er multipliziert die Anzahl Dezibel (Lautstärke) mit der Anzahl Minuten und Sekunden, dann dividiert er das Ganze durch die Anzahl Besucher. An dieser Formel hat er einen Sonntag lang getüftelt, gerechnet, korrigiert. Zum Beispiel hat er erkannt, dass die Zuschauerzahl für sich allein wenig aussagt. Ist ein Saal halb leer, kommt auch beim Klatschen keine Stimmung auf. Ist das Haus proppenvoll, reissen die einen die andern mit. Prompt passte der Hobby-Rechner seine Formel an – und baute die Saal-Auslastung in Prozent ein.
So kompliziert das Kalkül tönt, so simpel ist das Fazit. Die Hauptrolle spielt immer noch der Inhalt einer Aufführung. Die sozialkritische «Dreigroschenoper» von Bertolt Brecht macht nachdenklich, ein Musical fröhlich. «Der kleine Horrorladen», ein Musiktheater rund um Blu men und Blut, erreichte im Thea ter Winterthur mit 7 Minuten und 15 Sekunden den bisher längsten gemessenen Applaus. Das lauteste Klatschen erschallte nach dem Tanztheater «Blaubarts Geheimnis»: 100 Dezibel. Das entspricht in etwa dem Lärm einer Motorsäge und könnte – bei Dauerbelastung – zu Gehörschäden führen.
Spricht Marc Baumann über seinen Klatschometer, lacht er oft. Auf Kritiker, die ihm «Pseudo- Objektivität» vorwerfen, pfeift er gern. Er weiss auch, dass Schau spieler oder Regisseure den Applaus des Publikums am besten einschätzen können. Er hat es erlebt: An einer Diskussion über Wohlstand und Wirtschaft stand er auf der Bühne seines Theaters und referierte über exponen­tielles Wachstum. «Der Applaus war kurz, aber herzlich», sagt er.Wichtiger als Beifall ist Marc Baumann aber die Begegnung mit einem Mathematiker. Dieser fragte ihn, ob er auch Mathematik studiert hätte. Darüber amüsiert sich der Betriebsökonom bis heute.
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