Ich war das Restrisiko

06.05.2013, Bulletin (Credit Suisse)

Am Anfang war der Verdacht auf eine Hepatitis B. Ins Spital wurde ich eingeliefert und unter Quarantäne gesetzt. Kein unnötiges Risiko eingehen, im Gegenteil: Zero Risk. Ich hätte doch andere Leute anstecken können. Wenige Stunden danach stellte sich heraus, dass es keine akute Hepatitis B war. Sogleich war die Quarantäne abgebaut. Dafür nahm ich, als ich das Spital verliess, eine andere Diagnose mit auf den Weg: Meine Aortenklappe ist nicht ganz dicht, vermutlich von Geburt an. Ob das noch nie einem Arzt aufgefallen sei?
Das war vor fünfundzwanzig Jahren. Von nun an ging ich regelmässig zur kardiologischen Kontrolle. Mit Ultraschall wurde gemessen, was mit Ultraschall zu messen ist, zentimetergenau bis auf zwei Stellen hinter dem Komma. Eine Operation war nötig, keine Frage, mein Herzmuskel wurde strapaziert, das hält der nicht so lange aus (Zero Risk). Aber man wollte diese Operation so weit wie möglich hinaus schieben, nur schon um vom medizinischen Fortschritt zu profitieren. Laufend kommen neue künstliche Klappen auf den Markt.Angst musste ich keine haben. So eine Operation ist zwar keine reine Routine, aber hospitaler Alltag. Damals schon und heute erst recht. Allein in Zürich werden im Universitätsspital und im Stadtspital Triemli jährlich hundert künstliche Aortenklappen und drei hundert organische Aortenklappen vom Schwein in einen Menschen eingepflanzt.

Dass es trotzdem kein Zero Risk sein wird, bestätigte mir die Krankenkasse, als ich eine kleine Zusatzversicherung (freie Spitalwahl in der ganzen Schweiz) abschliessen wollte. Die Kasse konterte mit einem Vorbehalt auf Herzoperationen. was ich nicht akzeptieren wollte. Als ich meine Pensionskasse wechselte, reagierte die neue Kasse ebenso abwehrend: Für den Fall, dass „die Erwerbsunfähigkeit oder der Tod durch die uns angezeigte Aortenklappen-Insuffizienz und deren Folgen verursacht ist“, garantierte sie mir lediglich die BVG-Minimalleistungen. Was ich akzeptieren musste.

Vor sechs Jahren war es so weit. Meine Aorta, also die Hauptschlagader, hatte sich im oberen Teil so stark ausgeweitet, dass sie hätte platzen können. Das würde man in der Atomindustrie einen GAU nennen. Es war kurz vor den Sommerferien, und mein Herzchirurg riet mir kühl: Auf keinen Vulkan steigen. Wenn ich spazieren wolle, dann dem See entlang (Zero Risk).

Sachlich, mit wenigen Fremdworten nur, klärte er mich auf, welche Komplikationen bei der Operation nicht auszuschliessen sind. Fünf Minuten lang referierte er, obschon ich es nicht so genau wissen wollte. Zum Schluss musste ich ein Blatt Papier unterschreiben. Beim Wort „Hirnschlag“ zuckte ich auf. „Ja“, erklärte er mir, das habe er vorhin erwähnt. „Aber das Risiko ist kleiner als ein Prozent“.

Also Ein Restrisiko, das ich Kauf nahm, locker. Wer sich in der Dämmerung auf eine befahrene Strasse wagt, kann überrollt werden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit geringer ist als 1 Promille. Ich hingegen wollte nicht bei Dämmerung eine Strasse überqueren – ich liess mir im Universitätsspital Zürich am offenen Herzen während einer vier- bis fünfstündigen Operation eine mechanische Herzklappe aus Titan implantieren. Zusätzlich liess ich mir den oberen Teil der Aorta, der der sich so gefährlich ausgeweitet hatte, hinaus schneiden und durch einen Goretex-Schlauch ersetzen.

Die Operation gelang. Sieben Tage danach wurde ich entlassen in eine Rehabilitations-Klinik im Prättigau. Dort jedoch lief am ersten Morgen schief, was schief laufen kann.

Nach einem ersten kleinen Hirnschlag wurde ich mit Blaulicht ins Kantonsspital Chur gefahren. Dort folgte eine grosse Hirnblutung. Jetzt war ich ein Notfall. Im Notfall werden keine Risiken mehr hin und her gewogen, im Notfall wird auch nach keiner Patientenverfügung gesucht. Im Notfall läuft es wie am Schnürchen. Da wird gerettet, solange gerettet werden kann.

Mit dem Helikopter wurde ich zurück ins Universitätsspital Zürich geflogen. So schnell wie möglich wurde mein Schädel geöffnet, um die das viele Blut abzusaugen, das meine rechte Hirnhälfte überflutet hatte. Das wollte man so sorgfältig wie möglich erledign, damit keine intakten Hirnzellen „erwischt“ werden. So oder so war die Gefahr unendlich. Ich hätte halbseitig gelähmt sein oder meinen ganzen Verstand verloren haben können. Wie gut so eine komplizierte Hirnoperation glückt, erkennt man immer erst „danach“.

Just beim Aufwachen aus der Narkose trat das nächste Restrisiko ein. Ich erlitt einen epileptischen Anfall unheimlicher Stärke. Die Intensiv-Mediziner reagierten, wie es erprobt ist. Sie versetzten mich ins künstliche Koma (Zero Risk).

Hätte ich die darauf folgenden 48 Tage und 48 Nächte nicht verschlafen, wäre mir vermutlich ein Licht aufgegangen: dass mein Vergleich mit dem Überqueren einer Strasse bei Dämmerung eine Dummheit war. Nun stellte sich heraus, dass selbst das Eintreten eines doppelten Restrisikos noch nicht das Ende bedeuten muss. In der modernen Medizin wird aus jeder Komplikation ein Anstoss zur nächsten Aktion.

In der Rehabilitations-Klinik in Baden, wo ich mich von der Herz- samt der Hirnoperation gleichzeitig erholen musste, sagte mir der Neurologe einen Satz, den ich nie mehr vergessen werde: „ Von jetzt an fahren wir eine Zero-Risk-Strategie“. – Was hatte nun das zu bedeuten?

Dass man die Blutverdünnung so exakt wie möglich messen wollte. Damit deutete der Neurologe an, worauf die beiden Hirnschläge zurückzuführen sind. Wegen meiner künstlichen Herzklappe muss mein Blut verdünnt werden, lebenslänglich. Das funktioniert mit Medikamenten, deren Dosis bei meinem Eintritt in die Herz-Rehabilitations-Klinik im Prättigau noch nicht „richtig“ eingestellt war. Zuerst war das Blut „zu dick“, es kam zur Hirn-Embolie. Danach war das Blut „zu flüssig“, es kam zur Hirnblutung.

Nun wollte man diese Aufgabe in den Griff bekommen. Täglich wurde mir eine Ration Blut entzogen, ins Labor geschickt und analysiert. Täglich telefonierte mein Neurologe mit einem Professor in Deutschland, einem „Gerinnungsspezialisten“, um die weiterhin unerklärlich schwankenden Werte zu diskutieren. Bald war meine Armkehle verstochen wie bei einem Fixer, die Krankenschwestern fanden fast keine Venen mehr.

Diese Zero-Risk-Strategie diente nicht „nur“ mir als Patient, sie schützte auch meine Ärzte. Kommt es nach ihren Handlungen zu juristischen Komplikationen, drehen sichdie unschönen Streitereien um Schadenersatz auffallend oft um die Frage der richtigen „Antikoagulation“, wie die Hemmung der Blutgerinnung im Jargon heisst.

Im Normalfall jedoch ist das pure Routine. Die Blutverdünnung richtig einstellen, das kann jeder Hausarzt. Das klappt inzwischen auch bei mir. Alle fünf Wochen sticht mir die Praxis-Assistentin einen Tropfen Blut aus dem Finger, danach folgt eine dreiminütige Besprechung mit dem Arzt. „Quick“, nennt man diese Prozedur treffend, dank der sich Tausende von älteren Menschen vor Schlaganfällen schützen (Zero-Risk)

Bei mir droht eine zweite Gefahr. Ich könnte, wie beim Aufwachen nach der Hirnoperation, einen epileptischen Krampf erleiden. In den letzten vier Jahren ist das drei Mal geschehen. Was genau passiert ist, weiss ich nicht. Ich sackte zusammen, wo ich gerade war, zum Beispiel auf dem Perron im Bahnhof oder mitten auf der Strasse. Und ich erwachte, weil die Leute rundum richtig reagieren und die Nummer 144 anrufen hatten, auf einer Intensiv-Station.

Gegen Epilepsie gibt es Medikamente, die Anfälle verhindern. Allerdings wirken sie nicht in jedem Fall. Vor allem ist deren Dosierung, wie im medizinischen Alltg üblich, nicht eindeutig. In der Praxis kommt es zum Trial-and-Error. Jeder Anfall ist ein Error, den man mit einer Steigerung der Dosis oder mit Hinzufügen einer andern Substanz verhindern will.

Selbstverständlich wartet man nicht einfach bis zum nächsten epileptischen Krampf. Deswegen muss ich alle sechs Monate zum EEG, mit dem man meine Hirnströme elektronisch misst. Je nach Resultat werden die Medikamente neu justiert: von diesem Präparat ein wenig weniger, von jenem Präparat ein wenig mehr. Was mir wegen der Nebenwirkung der Medikamente nicht egal ist. „Antiepleptika machen müde und hässig“, wurde mir der Beipackzettel einmal kurz und bündig erklärt.

Beim letzten EEG im Universitätsspital Zürich fragte mich die Neurologin, welche Dosierung ich selber vorschlagen würde. Ich meinte, das hänge wohl vom Resultat des EEG ab. Sie antwortete nüchtern und ehrlich: „Ein EEG sagt so viel aus wie wenn ich einmal alle sechs Monate zum Fenster hinaus schaue und aufgrund dessen eine Wetterprognose für die nächsten sechs Monate wage.“

Und die Moral von meiner langen Krankengeschicht? Mein Herzchirurg ist „traumatisiert“. Das sagte er mir neulich, als ich ihn zufällig auf der Strasse traf. Darum habe er inzwischen sogar seine Praxis geändert. Seither pflanzt er auch bei jüngeren Patienten nur noch biologische Klappen ein, weil dadurch keine Blutverdünnung nötig ist. (Zero Risk).

Ich hatte damals nach einer Diskussion mit ihm anders entschieden, und zwar aus gutem Grund: Eine organische Klappe vom Schwein hält im Menschen fünf, zehn, maximal fünfzehn Jahre. Ich hingegen war bei meiner Herzoperation 47 Jahre jung. Ich hatte keine Lust, mich so bald wieder auf das Risiko einer Herzoperation einzulassen. Ich würde heute,wenn ich nochmals die Wahl hätte, nochmals eine künstliche Klappe wählen. Ich war einer von hundert. Das ist und bleibt ein Restrisiko. Da muss sich mein Herzchirurg nicht schuldig fühlen.

Meine Pensionskasse dagegen beurteilt meinen Fall versicherungstechnisch. Sechs Jahre nach der Kaskade von Komplikationen bin ich nicht mehr voll leistungsfähig, sondern teil-invalid und auf ihre Rente angewiesen. Das ist aus Sicht meiner Pensionskasse keine Folge der Hirnverletzung, sondern eine Folge der Aortenklappen-Insuffizienz, womit sie jeden Monat ein paar wenige hundert Franken Rente spart.

Ich selber sehe das nicht so eng. Ich bin schlicht dankbar, dass ich noch lebe. Und dass ich noch fähig bin, zum Beispiel diesen Text zu formulieren. Um folgendes Fazit zu ziehen: Die Spitzenmedizin hat ihre Spitze noch nicht erreicht. Der Trial-and-Error-Prozess ist nie zu Ende. Selbstverständlich wird das Zero Risk nie menschenmöglich sein. Aber die weiteren Fortschritte sind messbar. Die statistische Lebenserwartung steigt nach wie vor an: jedes Jahr um einen nächsten zusätzlichen Monat. Zur Zeit hat ein neugeborener Knabe in der Schweiz 80,3 Jahre vor sich, ein neu geborenes Mädchen 84,7.

(Original-Text. Publiziert wurde eine gekürzte Version)

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