Die Diagnose gegen das Schicksal

Der Fall Angelina Jolie

06.06.2013, Schweizer Familie

Angelina Jolie war gesund. Aber weil sie fürchtete, dass sie krank werden könnte, wollte sie es schwarz auf weiss wissen. Alles sei eine Frage der Wahrscheinlichkeit, erklärten ihr die Ärzte, veranlassten einen Gentest und lieferten nackte Zahlen.
Das Resultat kennt inzwischen die halbe Welt: 87 Prozent. So hoch war bei Angelina Jolie das Risiko, dass Brustkrebs ausbricht. Anschliessend hätte sie vielleicht eine Chemotherapie retten können, vielleicht nicht. In ihrem Fall ist die statistische Erfolgsquote nicht exakt, aber auch nicht hoch.
Zumal ihre Mutter und ihre Tante an Krebs gestorben sind. Aufgrund der beiden Krankheitsverläufe rieten ihr die Ärzte: Variante A (abwarten und regelmässig kontrollieren) kommt eher nicht in Frage. Da müsse man etwas tun. Eine Massnahme ergreifen. Die moderne Medizin stellt zwei Alternativen zur Wahl: Eine medikamentöse Hormontherapie (Variante B), die mit happigen Nebenwirkungen verbunden ist und deren Erfolgsaussichten auch nicht genau bekannt sind. Oder die radikale Variante C: Amputation.
Also trennte sich Angelina Jolie von ihrem natürlichen, allseits bewunderten Busen. Vorsorglich. Und selbst wenn jetzt nach allen Regeln der Schönheitschirurgie zwei künstliche Organe aufgebaut werden, so hat Angelina Jolie das Gefühl in ihren Brüsten verloren. Zusätzlich hat sie Operationsrisiken in Kauf genommen. Freiwillig. Dafür hat sie das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, auf 5 Prozent gesenkt. «Es war meine medizinische Wahl», teilt sie uns via «New York Times» mit.
Willkommen in der schönen neuen Ära der totalen Diagnostik. Immer mehr Krankheiten können wir immer früher erkennen und mit immer mehr Mitteln eindrücklich bekämpfen. Sogar dann, wenn sie noch gar nicht ausgebrochen sind. Das verleiht uns ein Gefühl der Allmacht. Wir dürfen entscheiden zwischen den Varianten A, B, C. Wenn diese Entwicklung so weiter- geht, gibt es bald kein Schicksal mehr. Aber dann gibt es auch keine wirklich Gesunden mehr. Sondern lauter Gesunde, die nur noch nicht gemerkt haben, dass sie krank sind.
Wer soll das bezahlen?So zynisch dieser Satz klingt, er ist nicht neu. Er stammt aus dem Mund von Doktor Knock, einer Figur aus einem französischen Theaterstück vor hundert Jahren. Und es ist heute die wichtigste Aussage des wichtigsten Medizinkritikers der Schweiz: Gianfranco Domenighetti, Professor an der Universität Lugano. Er sagt für die nahe Zukunft voraus, «dass dank genetischer Diagnosen praktisch jede Person kurz nach ihrer Geburt für krank erklärt werden kann».
Als Ökonom fragt Domenighetti: «Wer soll das bezahlen?» Als Mensch sorgt sich Professor Domenighetti weniger um volkswirtschaftliche Fragen, sondern mehr um Fragen der Ethik und Verantwortung: Wer darf all die medizinischen Tests, Check-ups und Screenings veranlassen? Die Ärzte? Die Patienten? Wer entscheidet danach über die zu treffenden Massnahmen? Die Ärzte? Oder die Patienten? Und welche Rolle bleibt den ­Krankenkassen, wenn Gesunde nur noch nicht gemerkt haben, dass sie krank sind?
Angelina Jolie hat mit ihrem Auftritt eine Antwort präsentiert. Wir müssen alles tun, um herauszufinden, woran wir erkranken könnten. In ihrem Fall gab es ein besonders starkes Motiv: Angelina Jolie litt während der Chemotherapie ihrer Mutter mit. Das wollte sie ihren eigenen Kindern ersparen, schreibt sie in der «New York Times».
Gratis war der Gentest nicht. Und er ist auch kein Wundermittel zur Früherkennung aller Krebsarten. Noch nicht. Bis jetzt können erst zwei Gendefekte diagnostiziert werden, die das Risiko für Brustkrebs klar und deutlich erhöhen. Das ist ein Anfang. Die Pharma-Industrie wird weitere Fortschritte erzielen. Im Internet gibt es Angebote für Analysen des Mundspeichels ab tausend Franken, die noch wenig taugen. «Aber was ist, wenn die grossen Pharmakonzerne feinere, exaktere Tests anbieten mitsamt den dazu passenden Arzneien?», fragt Domenighetti, der weiss, wovon er spricht. Als langjähriger Verantwortlicher des Regierungsrats im Kanton Tessin war er für das Gesundheitsdepartement zuständig. Mit der Verbindung von Diagnose und Behandlung kommt leicht ein Kreislauf in Gang, getrieben vom Profit. Wer sucht, der findet. Wer einen künftigen Kranken entdeckt, entdeckt damit einen künftigen Kunden.
Beleg für diese kommerzielle Dimension ist auch Angelina Jolie. In ihrem «Bekenntnis» in der «New York Times» nennt sie prominent das Pink Lotus Breast Center in Kalifornien, wo sie behandelt wurde. Eine bessere Reklame für eine teure Privatklinik gibt es nicht.
Die Gefahr zum kollektiven TestzwangNeue Tests, neue Diagnosen, neue Massnahmen: In welche Abgründe die Reise führt, zeigt die pränatale Diagnostik. Ein offener Rücken? Wird heute vor der Geburt erkannt und vor der Geburt operiert, leider verbunden mit Risiken, die bei Operationen nie auszuschliessen sind. Das Downsyndrom? Kann vor der Geburt diagnostiziert, aber nicht «repariert» werden. In der Folge sehen sich immer mehr Eltern von behinderten Kindern dem Vorwurf ausgesetzt, warum sie nicht ab­getrieben hätten.
Auf diese Weise läuft der spitzenmedizinische Fortschritt, der uns eine freie Wahl zwischen verschiedenen Massnahmen verspricht, Gefahr, zum kollektiven Zwang zu werden. Wir dürfen nicht, wir müssen uns testen lassen. Sonst werden die Kranken der Zukunft zu Angeklagten, die sich zu rechtfertigen haben: «Warum nur wolltet ihr, als ihr noch zu den Gesunden gezählt habt, nicht herausfinden, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Krankheit ausbricht? Warum nur habt ihr euren Kindern eine Mutter mit Brust- und einen Vater mit Prostatakrebs zugemutet?»
Solche Fragen überfordern uns. Wir werden in Situa­tionen und zu Entscheiden gedrängt, in denen es kein «richtig» und kein «falsch» gibt. Wir fühlen uns nicht nur, wir sind den medizinischen Experten ausgeliefert. Wir selber wissen nur noch, was ganz am Ende unserer Tage eintreffen wird. Das aber zu 100 Prozent.

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