Vorwärts in die Vergangenheit

Die neue Direktorin auf dem Ballenberg: Katrin Rieder

06.06.2013, Schweizer Familie

Unmittelbar nach der Wahl zur Direktorin im Sommer 2011 spazierte Katrin Rieder durch das Freilichtmuseum Ballenberg. «Da hat eine Gans nach mir geschnappt», erzählt die 44 -Jährige. Es war zwar ungefährlich, aber sie empfand es als «kein freundliches Willkommen».
Die Begegnung mit Tieren im Freilichtmuseum ist ihr dennoch wichtig. «Gerade gestern wurde eine Stute mit einem Fohlen zu uns gebracht, herzallerliebst!»
Der Ballenberg – das ist das altehrwür dige Monument «Schweiz», das jedes Schul kind kennt. Ein Idyll der Vergangenheit, bestehend aus den schönsten Bauernhöfen aller Landesgegenden im Original samt ihren Requisiten. «Unberührt», seit ewiger Zeit. Und Katrin Rieder – das ist die frische Direktorin mit einem Kopf voller Ideen.
Aufgewachsen ist sie in Hindelbank im Berner Mittelland, am Eingang zum Emmental. «Leider nicht auf einem Bauernhof», sagt sie. Mit 20 lernte sie in Irland neben der englischen Sprache das «Melken von Hand», mit Betonung auf «Hand». Denn genau das gehört zu ihrem künftigen Programm auf dem Ballenberg. Die Besucher aus aller Welt sollen nicht nur zuschauen, sie dürfen anpacken. «Handwerkerleben – Handwerk erleben» lautet das Jahresthema 2013 .
Sägen, bohren, hobeln, stricken, weben, spinnen, klöppeln – alle dürfen im Museum Hand anlegen. Wer intensiv lernen will, bucht einen Kurs. Glasblasen, Korbflechten, Drechseln, Schmieden, Trockenmauern, Uhrmachen, Kumihimo (japanisches Gürtelflechten): Die Liste zum «Schnuppern» ist lang.
Forsch und direktAktiv geht die neue Direktorin voran. Sie hat sich zum Schuhmacherkurs angemeldet, als ganz normale Teilnehmerin. «Ich freue mich unglaublich auf meine ersten selber hergestellten rahmengenähten Schuhe.»
Katrin Rieder sprüht vor Energie. Dass sie Grosses vorhat, merkt man. Ein «Gesamtkonzept» für die Ausstellungen will sie entwickeln. Dass sie damit hohe Erwartungen weckt, spürt sie. Also stapelt sie bewusst tief: Sie brauche Zeit für die Realisierung. «Mindestens zehn Jahre, viel leicht zwanzig.» Dafür redet sie schnell, sehr schnell. Und sie lässt sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen, nicht einmal wenn draussen die Kampfjets der Schweizer Armee vorbeidonnern.
Auch dagegen setzt sie sich aktiv ein. «Wir können doch nicht die Kultur aus dem 18 . und 19 . Jahrhundert vermit teln, während lautstark die F/A- 18 starten.» 70 Prozent der Besucher fühlen sich durch den Lärm «gestört» bis «sehr gestört», zeigt die Umfrage der Vereinigung «Pro Flugplatz Meiringen». Bereits ist Katrin Rieder im Gespräch mit dem Verein und den Verantwortlichen des Flugplatzes. Ihr Ziel ist klar: Von April bis Oktober, während der Museumssaison, sollen die Flugbewegungen des Militärflugplatzes Meiringen aufs absolute Minimum beschränkt oder besser ganz ein gestellt werden. Das sei keine übertriebene Forderung, findet sie. Ihre Vorgänger hätten dasselbe verlangt.
Aber sie tritt forscher auf. Gibt Gas. Kommuniziert direkt. Sie bleibt ihrer Linie treu, indem sie den Widerspruch sucht, findet und zulässt. Das tut sie ihr Leben lang. Als ausgebildete Primarlehrerin in der «Provinz» zügelte sie in die Hauptstadt Bern und studierte Geschichte und Soziologie an der Universität. Wie viele andere Intellektuelle rümpfte sie früher über den «Landi-Geist» oder die «heile Ballenberg-Schweiz» auch mal die Nase.
Vor zehn Jahren begann sie bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia zu arbeiten, wo sie ein Programm zur Volkskultur leitete. Das war neu für sie, span nend, faszinierend. «Welche Bedeutung hat die Volkskultur im 21 . Jahrhundert? Wie bringen wir die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammen?», fragte sie sich.
Auf der Suche nach einer Antwort lan dete sie, im Alter von 38 Jahren, zum ersten Mal in ihrem Leben im Freilichtmuseum Ballenberg. Dass sie hier rund 5 Jahre später Direktorin werden sollte, hätte die damalige Programmleiterin der Pro Helvetia nie gedacht.
Heute ist Katrin Rieder «Frau Ballenberg», die mit alten Klischees aufräumt. «Wir orientieren uns nicht nur rückwärts, auch vorwärts», sagt sie. Das Zeitgenössische will sie mit dem Eidgenössischen verbinden.
Was das bedeuten könnte, illustriert sie am Beispiel Volksmusik: «Die Kummer­buben spielen alte Lieder rockig», sagt sie. «Jodel, das sind Jodellieder und Naturjutz, insbesondere aber ist es eine Gesangstechnik, die von jungen Musikerinnen wie Nadja Räss weiterentwickelt wird.» Beim Rapper Bligg klingt auch eine Handorgel mit. Mani Matter gehört inzwischen zum kulturellen Erbe der Schweiz, «Polo Hofer bald auch».
Neu ist das alles nicht, weiss die Historikerin. «In der Volksmusik der 1920 er- und 1930 er-Jahre kommen auch Autos vor, nicht nur Chüeli und Berge.» So wie es auf dem Ballenberg schon immer mehr zu sehen gab als bluemeti Trögli.
Eines der Vorzeigeobjekte ist das «Haus Matten». 1977 wurde es von Matten BE ins Museum verpflanzt und in den Original zustand von 1580 zurückversetzt. Von aus­ sen gesehen sind sämtliche Kriterien des Denkmalschutzes erfüllt.
Innen jedoch präsentiert sich das Haus Matten in einem völlig neuen Design: ­modern, bequem, nachhaltig. Das Holzblockhaus hält mit seinen isolierten ­Fenstern und Wänden die strengen ­Minergie-Standards ein. Die Architektur ist grosszügig, der Raum luftig. Im Zen­trum befindet sich eine offene, zweigeschossige Küche – die alte Rauchküche. Dank der neuen Verglasungen im Dach und auf dem Estrichboden strahlt das ­Tageslicht direkt in den Kochtopf.
Auch in den andern Zimmern müssen sich heutige Menschen nicht unbedingt bücken: Die Raumhöhe beträgt mindestens zwei Meter. Das Holzblockhaus ent hält eine abgetrennte, akustisch gedämpfte «Ruhezelle». Hier liesse sich eine Bibliothek einrichten. Oder warum kein Home- Cinema? Das Theater findet auf dem Ballenberg seit zwanzig Jahren draussen statt. Es nennt sich «Landschaftstheater», passt in die liebliche Umgebung und gleich­- zeitig zur Moderne. Dieses Jahr wird die Brienzer Sage «Vehsturz» aufgeführt, geschrieben vom Glarner Autor Tim Krohn. Mona Petri spielt die Hauptrolle, ihr Vater Daniel Fueter hat die Musik komponiert.
Trotz des Bezugs zur Moderne: «Der Ballenberg bleibt der Ballenberg.» Diesen Satz sagt Katrin Rieder so oft, dass man es ihr kaum glaubt. Mit Sicherheit wird sie Volkskultur ein bisschen anders vermitteln. Noch werden die Gäste – eine Viertelmillion im Jahr – bei ihrem Museumsbesuch etwas allein gelassen. Es gibt Tafeln mit nüchternen Angaben zu den Häusern. Die Aufseher beant worten Fragen. Die Besucher dürfen in die Häuser eintreten. Sie sehen Küchen, Kostüme, Heugabeln, Webstühle.
Aber sie erfahren wenig. Sie erfahren «zu wenig» in den Augen der kritischen Historikerin Katrin Rieder. Nur wenige der Gäste haben noch direkten und persönlichen Bezug zur Landwirtschaft und bringen das entsprechende Vorwissen zu den Gerätschaften mit. Katrin Rieder will mehr vermitteln, sie will Zusammenhänge herstellen zwischen Arm und Reich, Mann und Frau, Jung und Alt. Sie möchte grosse Themen wie Ernährung, Ökologie oder die Kindersterblichkeit aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. «Dafür müssen wir eine neue Sprache finden.»
Deswegen wird der Ballenberg nicht digitalisiert, keine Angst. Tasten drücken, Bildschirme berühren, das bietet inzwischen fast jedes Museum. Der Ballenberg dagegen bleibt eine Open-Air-Galerie von Häusern, Wäldern, Ställen, Werkstätten, Gärten, Weiden, Kühen, Kälbern, Kaninchen zum Anfassen.
Doch im Mittelpunkt stehen Menschen mit ihren Geschichten. «Diese Geschichten müssen wir unseren Besucherinnen und Besuchern erzählen», sagt Katrin Rieder.
Gegenprogramm zu HollywoodIn diesem Jahr, das dem Handwerk gewidmet ist, wurden temporäre Kinos in die Landschaft gestellt, kleine Kinos in farbigen Kuben. Dort drinnen läuft zurzeit ein helvetisches Gegenprogramm zu Hollywood: Stummfilme in Schwarz-Weiss über Handwerker.
Ein altes Mittel, um Geschichten zu erzählen, ist der professionell begleitete Rundgang. «Auf Führungen erfahren un­sere Besucher heute sehr viel», lobt Rieder. Selbstverständlich werden keine Horden durch die 66 Hektaren gelotst. Maximal 25 Personen sind pro Führung zugelassen, für 16 Personen belaufen sich die Kosten auf 180 Franken. Das können sich 3, 4 Familien zusammen leisten. Womit Katrin Rieder beim Geld angelangt ist. Vom Geld redet sie nicht gern, aber sie muss immer wieder darauf zurückkommen. Die meisten Leute meinen, der Ballenberg sei so etwas wie eine Bundesanstalt. Doch der Bund zahlt gegenwärtig keinen Rappen. 90 Prozent des Budgets erwirtschaftet das Museum selber – dank seinen jährlich 250 000 zahlenden Gästen. Der Kanton Bern steuert die restlichen 10 Prozent bei, nur reicht das eben überhaupt nicht. «Wir müssten mindestens eineinhalbmal so viel Geld zur Verfügung haben wie heute», fordert Katrin Rieder.
Und wer sie kennt, ahnt, was sie vorhat: Katrin Rieder wird weibeln, bis sie genug Leute in unserem kleinen Land überzeugt hat, dass es ohne Ballenberg keine Ballenberg-Schweiz mehr geben wird.

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