Wortführer der Schwächsten

CVP-Nationalrat Christian Lohr: Ein Portrait

27.06.2013, Schweizer Familie

Ein Politiker muss sich hinstellen und notfalls auch das Unangenehme ansprechen.
Christian Lohr, 51, CVP-Nationalrat aus Kreuzlingen im Thurgau, beherrscht diese Kunst wie kaum ein anderer. Obschon er im Rollstuhl sitzt.
Seit einem guten Jahr sitzt er als Nationalrat auch im Bundeshaus. Dort kennt man ihn und seine Handicaps. Darüber spricht er in der Wandelhalle ohne jede Scham: «Ich habe einen missgebildeten Körper. Das ist so. Meine Beine sind missgebildet, die Arme fehlen komplett.» Trotzdem tut Christian Lohr, was jeder andere Politiker den lieben Tag lang tut: Hände schütteln. Er streckt sein rechtes, arg verkürztes Bein. Sein Fuss vorn ist beileibe nicht so gross wie eine Hand. Das sieht man, weil er keine Socke trägt. Wer zieht schon Hand schuhe an zur Begrüssung?
Will man mit Christian Lohr in Kontakt treten, schüttelt man mit der Hand seinen nackten Fuss. Dabei schaut Lohr seinem Gegenüber direkt ins Gesicht. «Die einen Leute haben mehr Berührungsängste als andere», hat er gemerkt. Nur etwas sei immer gleich: «Beim ersten Mal sind alle irritiert.» Aber das könne er gut verstehen.
Der grosse AuftrittDaheim in der Wohnung wird der angemeldete Gast anders empfangen. Die Tür ist offen, Christian Lohr bittet herein. Jetzt sitzt er nicht, jetzt steht er. Dann bewegt er sich. Von oben herab sieht das aus, als «humple» er auf seinen Knien. Von unten blickt Christian Lohr zum Gast hoch – und staunt nicht, dass der Gast staunt. Sondern er sagt, was er in solchen Momenten zu sagen pflegt: «Ich stehe mit beiden Füssen auf dem Boden, auch wenn ich sonst im Rollstuhl sitze.»
Seit einem guten Jahr amtiert Christian Lohr im Bundeshaus. Inzwischen haben wohl alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier mindestens einmal seinen Fuss geschüttelt. Aber so richtig kennengelernt haben sie Lohr erst am 12. Dezember 2012.
Beraten wurden damals die geplanten Sparmassnahmen bei der Invalidenversicherung IV, mit denen Lohr grundsätzlich einverstanden war. Nur ein Punkt bereitete ihm Mühe: Wer mehr als 70 Prozent invalid ist, erhält heute noch eine ganze Rente. In Zukunft hätte man mindestens 80 Prozent invalid sein müssen, um berechtigt zu sein für die monatliche Auszahlung von 2340 Franken. Die Sache schien beschlossen.
Doch dann fuhr Nationalrat Christian Lohr mit seinem Rollstuhl in die Mitte des Saals, stellte einen «Minderheitsantrag» und sprach: «Ich habe hier in diesem Rat vor gut einem Jahr den Eid auf die Bundesverfassung abgelegt. In der Präambel steht, dass die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst. Dieses Versprechen möchte ich heute einlösen.»
Eindringlich fragte er: «Wollen Sie wirk lich auf die Schwächsten losgehen? Wollen Sie wirklich die Schwerstbehinderten, die kaum eine realistische Chance auf einen Platz im Arbeitsmarkt haben, bestrafen und plagen?»
Ruhig wurde es im grossen Saal. Für den Politiker Lohr ist das Rednerpult aus architektonischen Gründen nicht erreichbar, seine «Spickzettel» liegen auf einem Notenständer, das Mikrofon steckt am Revers. Aber alle hörten zu, wie er die drohende IV-Sanierung in der reichen Schweiz mit dem rigorosen Sozialabbau «in den Bankrottstaaten Griechenland und Spanien» verglich.
Der «Lohr-Effekt»

Der Coup gelang, Christian Lohrs Antrag wurde angenommen. Letzte Woche hat der Nationalrat sogar sämtliche Sparmassnahmen bei der IV beerdigt. Nach Lohrs Rede im Dezember waren gestandene Journalisten verdutzt und sprachen vom «Lohr-­Effekt». Erfahrene Politiker waren konsterniert. Zum Beispiel Lohrs Parteikollegin Ruth Humbel, Aargauer CVP-National­rätin. Sie hatte an vorderster Front für die IV-Sparmassnahmen geweibelt. Vor der Debatte hatte sie noch gemeint, die klare Mehrheit auf sicher zu haben. Nach der Debatte missbilligte sie Lohrs Auftritt als «Betroffenheits­politik», wie sie gegenüber der «Aargauer Zeitung» klagte.
Jetzt sitzt der «Betroffene» Christian Lohr daheim auf einem Holzstuhl am Tisch in seiner Stube und stellt klar: Es sei ihm nicht um sich selber gegangen. Er beziehe doch gar keine IV-Rente: «Weil ich keine brauche. Ich kann mein Leben selber finanzieren, also hätte ich auch gar keinen Anspruch auf eine Rente.» Aber es gebe Menschen in diesem Land, die auf­ IV-­Renten angewiesen sind. «Für ­diese ­Menschen setze ich mich ein – nicht aus Betroffenheit, sondern aus Überzeugung.»
Zur Demonstration seines normalen Lebensstils kreist er mit dem rechten Fuss zu den Möbeln in seiner Stube. Ein Sofa, etwas in die Jahre gekommen. Ein wunderbar alter Schrank aus Kirschbaumholz. Ein Tisch, vier Stühle. «Ich brauche keinen Luxus», sagt der Berufspolitiker.
In einem Block in Kreuzlingen wohnt er seit seiner Geburt vor 51 Jahren. In unmittelbarer Nähe «sein» Schulhaus, «sein» Kindergarten. Hinter dem Block befindet sich heute noch «sein» Sandkasten, in dem er mit seinen Gschpänli Burgen und Seen baute. Mit dabei war Markus, sein vier Jahre älterer Bruder. Offen sprachen sie in der Familie darüber, was geschehen war: Ihre Mutter hatte vor Christians Geburt an Keuchhusten gelitten. Der Arzt verschrieb ihr Contergan. Sie schluckte nur zwei von elf Tabletten, die in der Verpackung lagen. Trotzdem wurde Christian Lohr zu einem von 80 Contergan-Opfern in der Schweiz.
Markus half Christian, wie jeder ältere Bruder seinem jüngeren hilft. Bald erlebten alle Kinder im Quartier, dass Christian zwar einen andern Körper, aber trotzdem Freude am Leben hat. «Kein einziges Mal», sagt Christian Lohr heute, sei er ge­hänselt worden.
Mit 6 Jahren besuchte er die Primarschule. Mit 19 schaffte er die Matur, dann studierte er Wirtschaft an der Universität Konstanz mit einem klaren Berufsziel: Jour nalist wollte er werden. Sportjournalist. Bereits als 14-Jähriger tippte er mit dem Fuss auf einer elektrischen Schreibmaschine seinen ersten Matchbericht: ausgerechnet über Handball. Der armlose Lohr blieb dieser Sportart treu. Drei Jahre war er Präsident des HSC Kreuzlingen, und auch heute trifft – und hört – man ihn in der Halle. Lohr dient als Speaker, ehrenamtlich.
Als aktiver Sportjournalist brachte es Christian Lohr zu einer 60-Prozent-Stelle beim «St. Galler Tagblatt». Die grosse Kar riere machte er in der Politik. Mit 37 wurde er Gemeinderat der Stadt Kreuzlin gen, mit 38 Kantonsrat, mit 46 avancierte der Schwerstbehinderte zum offiziell höchsten Thurgauer. Er übernahm das Präsidium des Kantonsparlaments. Mit 49 rückte er in den Nationalrat nach.
Der Sportler

Wie ist ein solcher Aufstieg ohne Arme möglich? Antwort: Weil Christian Lohr mit seinen winzigen Zehen am rechten Fuss eine Fingerfertigkeit entwickelt hat, die man erst glaubt, wenn man sie mit eigenen Augen sieht. Er hält den Rasierer, die Zahnbürste, die Brille, das Telefon, blättert in der Zeitung, tippt auf dem Laptop. Auch die Füllfeder hält er mit den Zehen, das ist ihm wichtig. Privates teilt er in seiner Handschrift mit.
Dank dem rechten Fuss kann er auf den Knopf drücken, mit dem er den von der IV bezahlten elektrischen Rollstuhl in Gang setzt. Und auf die Taste, mit der er im Nationalrat seine Stimme abgibt.
Fairness, Toleranz, Respekt, persön­liche Verantwortung – für diese Werte setzt er sich ein. Er will Brücken schlagen zwischen den Generationen und zwischen Reich und Arm. Zudem engagiert er sich für Sport, nicht «nur» in Behinderten- Sport-Verbänden, er ist selber aktiv. Rechts füssig steuert er seinen Rollstuhl ins ­öffentliche Schwimmbad, wo er zu al len Öffnungszeiten ins Bassin steigt. In Kreuzl ingen gafft niemand. «Alle Leute kennen mich», sagt er. Auf dem Rücken schwimmt er, und wie alle andern Rückenschimmer gibt er acht, dass er niemandem in die Bahn kommt. Im Sommer wagt er sich in den See – begleitet von Freunden.
Dank dem Schwimmen hat er schon als kleiner Bub das Selbstvertrauen gewonnen, die Freude und einen Sinn fürs Gleichgewicht. Beim Schwimmen aktiviert er auch das linke Bein, das nicht so stark und nicht so flexibel ist wie das rechte. Aber er braucht beide Beine – sonst käme er im Wasser nicht vorwärts. Sonst könnte er daheim nicht humpeln. Sonst könnte er in seiner Stube auf keinen Stuhl «klettern» und wieder hinuntersteigen. «Das Gleichgewicht ist für mich das Wichtigste», sagt Christian Lohr. Und fügt als Politiker der Mitte, der zwischen links und rechts ein Brückenbauer sein will, hinzu: «Ich bewege, weil ich mich bewege.»
Als der Dalai Lama im April Bern besuchte, schüttelte seine Heiligkeit ihm nicht den Fuss. Der Dalai Lama umarmte Christian Lohr und sagte zu ihm: «Der gesunde Geist vollbringt eine Verbindung zwischen Körper und Seele.»

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