Chor der Sprachlosen

Zu Besuch bei Aphasikern in Luzern

11.07.2013, Schweizer Familie

Sie haben durch einen Hirnschlag die Sprache verloren. Singend finden sie die Wörter wieder: Die Sänger des Luzerner Aphasie-Chors erleben die Heilkraft der Musik.Text Markus Schneider
Fotos Fabian Biasio

Alle drei Wochen trifft sich um 14 Uhr in Luzern ein Chor. Dreissig Leute begrüssen und freuen sich, lachen und schwatzen. Sie sprechen miteinander und verstehen sich untereinander. Danach singen sie. Alle zusammen im Chor.
Dabei versammeln sich hier dreissig «Aphasiker». Also dreissig Menschen, die ihre Sprache verloren haben, zumindest teilweise. Manche stottern, die meisten legen Pausen ein, um sich zu konzentrieren, alle ringen – mit sich selbst und um Worte. Das Singen im Chor aber bringt ihnen die Sprache zurück.
«Ganz einfache Sätze schaffe ich», sagt Monika Felder und ergänzt vielsagend: «Hier schon.» Denn hier sind sie unter sich. Hier haben alle dasselbe Problem, da fällt vieles ein bisschen leichter. Doch was passiert in der Bäckerei, wenn sie plötzlich zuvorderst in der Reihe stehen und ein Gipfeli bestellen möchten?
Bruno Häusler hat eine schöne, tiefe Stimme. Alle im Chor loben ihn. Beim Singen stimmt er den Bass an. Beim Sprechen jedoch bringt er keinen einzigen Ton heraus. Geht man auf ihn zu, fragt man ihn, ob das tatsächlich zutreffe, nickt er. Lautlos, aber freudestrahlend.
Hermenegild Heuberger sagt: «Ich habe acht Hirnschläge gehabt.» Das tönt rekordverdächtig. Er schweigt, dann ergänzt er: «Seither funktioniert nichts mehr wie früher.» Lobt man ihn nach diesen beiden ersten Sätzen für seine deut­liche und klare Aussprache, stockt das Gespräch.
Mindestens einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung haben alle hinter sich, die sich hier versammeln. Und bei allen ist das gleiche Areal verletzt: die linke Hirnhälfte. Mal weniger, mal mehr.

Die linke Hand zum Gruss

Dort, links im Hirn, befindet sich das Sprachzentrum. Und vieles andere auch. Das merkt, wer den Mitgliedern des Aphasie-Chors die Hand schüttelt. Dann reichen auffallend viele Sängerinnen und Sänger ihre Linke. Sie sind, weil ihr Hirn linksseitig lädiert ist, rechtsseitig handi­capiert. Bei manchen ist «nur» die Hand gelähmt, bei andern der Arm – im schlimmsten Fall der ganze Körper.
Gerda Löw sitzt im Rollstuhl. Keine Probe lässt sie aus. Jedes Mal reist sie mit dem Zug von Romanshorn nach Luzern. Allein, selbständig, hin und zurück. In Zürich Flughafen steigt sie um, dieser Bahnhof ist übersichtlich und rollstuhlgängig. Nach fast drei Stunden, wenn sie in Luzern eintrifft, rollt sie vom Bahnhof den kurzen Weg zum Pfarreizentrum Barfüsser. Dort singt Gerda Löw – zusammen mit den andern Sprachlosen im Chor.
Wie ist das möglich?
Weil beim Musizieren, anders als beim Sprechen, vor allem die rechte Hirnhälfte aktiv wird und dabei die geschädigte linke Hirnhälfte unterstützt. Beides zusammen führt zum verblüffenden Resultat, dass Aphasiker oft singen können.
Diese Spannung, diese Freude

Rudolf Zemp ist kein Neurologe. Er ist ein renommierter Innerschweizer Chorleiter. Als er von der Betroffenenorganisation Aphasie Suisse angefragt wurde, ob er «das Experiment» wagen wolle, zögerte er. «Singen mit Menschen, die die Sprache verloren haben?», dachte er sich. «Bin ich dieser Aufgabe gewachsen?»
Nach der ersten Probe sagte Zemp: «Wow!» Diese Atmosphäre, diese Spannung, diese Freude, dieser Einsatz, diese Gemeinschaft – so etwas hatte er in seinem Beruf noch nie erlebt.
Und die dreissig Sängerinnen und Sänger erfahren, was sie sonst kaum mehr erleben: dass sie keine Angst haben müssen. Angst davor, eine Silbe nicht zu schaffen oder einen falschen Ton zu erwischen. Hier im Chor werden keine Fehler korrigiert, hier wird nicht therapiert. Hier darf man Freude haben. Jeder für sich und alle zusammen. «Wir sind ein Plausch-Chor», sagt Rudolf Zemp.
Cornelia Kneubühler, die Geschäftsleiterin von Aphasie Suisse, bestätigt das: «Ganz wichtig bei der Probe ist die Pause.» Eine halbe Stunde Kaffee, Kuchen, Gespräche, Gelächter. Alle duzen sich. Cornelia Kneubühler hat den Leuten eine Papieretikette mit ihrem Namen aufgeklebt, damit niemand in Verlegenheit kommt. Die meisten sind schon ein wenig älter, da vergisst man Namen schnell. Erst recht nach einem Hirnschlag.
Thomas König, jung und glücklich, ist frisch zurück von der Hochzeitsreise aus Jamaika. Einer Insel mit heissen Rhythmen und weissen Stränden. Was er dort erlebt hat und wie schön es dort war, kann Thomas nicht erzählen. Aber er hat ein iPad dabei mit Fotos drauf.
«Wenn ich mit Thomas spreche», erzählt Cornelia Kneubühler, sei dies oft eine Art Ratespiel. «Ich muss geschlossene Fragen stellen.» Denn Thomas König hat nur drei Worte, mit denen er reagieren kann: «Nein.» «Ja.» «Okay.»
Fragt man ihn, ob er einen weiten Weg bis zur Chorprobe hier in Luzern habe, nimmt er sein iPad zur Hand und tippt «Richterswil». Ist seine neue Frau auch Aphasikerin? «Nein.» Wird das Zusammenleben dadurch schwierig? Er antwortet mit einem kurzen Blick, der mehr sagt als tausend Worte. Dann sagt er «Okay».
Mit iPhone und iPad geht er locker um. Wie alle Jüngeren chattet er, natürlich auch mit seiner Frau. Aber nur, wenn einer von beiden unterwegs ist. Daheim kommunizieren sie direkt, soweit es eben möglich ist. Kann er ein Wort nicht sagen, schreibt er es auf. Oder er macht eine Zeichnung, Thomas König ist ein guter Zeichner. Auch hier im Chor ist es für ihn nicht möglich, voll und ganz mitzumachen. Warum kommt er trotzdem? Stolz macht er vor, wie er sich einbringt: Er summt. Sagt «Okay». Und lacht.
«Wenn de Senn go mälche goht»

Er ist nicht der Einzige, der nur summt. «Jeder tut, was er kann», sagt der Chorleiter Rudolf Zemp. Manche machen zum ersten Mal in einem Chor mit, andere waren früher Profis. Martin Kellerhals aus Zofingen sang Bariton in einem Quartett. Er hat sogar eine CD herausgegeben. Bis er im KKL in Luzern in einem klassischen Konzert sass. Als Zuhörer. In der Pause bekam er Kopfweh, unheimlich starkes Kopfweh. Mit Blaulicht wurde er ins Kantonsspital eingeliefert. Diagnose: Hirn­blutung. Sofort wurde die Operation eingeleitet.
Als Martin Kellerhals aufwachte, sprach er nur noch Englisch. Das überraschte ihn nicht weiter, aufgewachsen ist er in Südafrika. Inzwischen spricht er auch wieder Deutsch, nur ganz wenig stockend. «Mein Wortschatz ist aber noch eingeschränkt.»
Rudolf Zemp lässt in der heutigen Probe die CD des Quartetts laufen, auf der Martin den Bariton singt. «Oh when the saints go marching in.» Zemp verteilt den Text und die Noten. «Was heisst das auf Deutsch?», fragt er in die Runde. Einer antwortet: «Und wenn de Senn go mäl- che goht.» Lautes Lachen. Auch Aphasiker wissen, wer da einmarschiert: die «Saints», die Heiligen.
Der Chorleiter singt die Melodie vor, mal höher, mal tiefer, mal mit Wieder­holung, mal im Kanon. Rudolf Zemp dirigiert, fordert auf zum Mitmachen und zum Mitwippen. «Musik und Bewegung gehören zusammen, vor allem bei diesem Lied, das ist Gospel.» Zum Schluss fragt er, ob sie den neuen Song ins Repertoire aufnehmen wollen. Klar wollen sie, einstimmig.

Aphasie-Chöre

Der erste Aphasie-Chor der Schweiz wurde vor fünf Jahren in Luzern gegründet. Inzwischen gibt es Chöre in Baden, Basel, Bellinzona, Bern, Chur, Lausanne, St. Gallen, Solothurn. www.aphasie.org
Am Samstag, 7. September, um 15 Uhr geben alle Aphasie-Chöre der Schweiz ein Konzert in der Lukaskirche in Luzern.

Was ist Aphasie?

Das Wort Aphasie stammt aus dem ­Griechischen. Es bedeutet «ohne Sprache» und wird mit «Sprachverlust» übersetzt. Eine Aphasie ist eine Sprachstörung, meist infolge eines Schlaganfalls oder einer ­Hirnblutung. In der Schweiz erleiden ­jährlich rund 5000 Menschen eine Aphasie.

Sprachzentrum im Gehirn

Neurologe Lutz Jäncke – Über die Lernfähigkeit Bis ins Alter

«Ich würde sofort mitmachen»

Der Hirnforscher Lutz Jäncke erklärt, wie das Musizieren die Funktion des Gehirns verbessert. Allen, die durch einen Hirnschlag die Stimme verloren haben, empfiehlt er das Singen in einem Aphasie-Chor.

Haben Sie schon einen Schweizer Aphasie-Chor singen gehört?
Direkt nicht, aber viel darüber gelesen. Solche Chöre gibt es inzwischen fast überall auf der Welt. Und das Erstaun­liche ist: Die Ergebnisse sind sehr, sehr gut. Wenn ich persönlich ein Aphasiker wäre, ich würde sofort mitmachen.
Warum?
Sprache ist in unserer Gesellschaft ungeheuer wichtig. Verliert man Sprachfertigkeiten, dann verliert man schnell den gewohnten Kontakt zu den Mitmenschen. Die Folgen sind dramatisch. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ohne Sprache kann man gar nicht kommunizieren, und man wird isoliert. Ein Teufelskreis. Insofern sind alle Möglichkeiten, um seine Sprache zu trainieren und im Falle einer Aphasie zu verbessern, wichtig und erstrebenswert. Die herkömmlichen Aphasie-Therapien sind leider nicht so erfolgreich.
Sollten die Betroffenen in einem Chor mitmachen?
Genau! Neben dem Singen kommen die Aphasiker dann noch unter Menschen. Sie treffen andere Leute, die auch unter ähnlichen Problemen leiden. Das ist vor allem für Aphasiker wichtig. Endlich haben sie einen Ort, wo sie sich nicht schämen müssen, wenn sie sich mit ihrer Stimme «zu Wort» melden. Das Wichtigste aber ist: Sie lernen etwas Neues – und verbessern dadurch ihre Sprache.
Funktioniert das automatisch?
Musizieren ist ein sehr komplexer Vorgang. Im menschlichen Gehirn gibt es kein eigentliches «Musikzen­trum». Dafür werden mit Klängen, Melodien, Rhythmen, Noten alle andern Hirnfunktionen aktiviert, sogar Gefühle werden geweckt. Musik wirkt auf das ganze Gehirn. Das ist anders als beim Schachspielen oder beim Kopfrechnen – da bleiben die Hirnaktivitäten lokal sehr begrenzt.
Wie konkret wirkt Musik auf die Sprache?
Es ergeben sich neue Verbindungen zwischen den Hirngebieten. Dank der Musik verlagert sich die Sprachfunktion von der gesunden rechten Hirnhälfte in die verletzte linke Hälfte. Konkret: Die erhaltenen neuronalen Netzwerke rechts rütteln die verlorenen Netzwerke links wach. In der Hirnforschung nennen wir das «Plastizität»: Sobald man einzelne Hirnareale aktiviert, verbessern sich die Leistungen der andern Areale ebenfalls. Das gilt für Hirnkranke wie für Gesunde. Auf Englisch nennt man das «Use it or lose it». Brauche dein Hirn, oder du verlierst es.
So gesehen müssten sich alle älteren Menschen mit Musik therapieren.
Unser Gehirn ist lernfähig, und zwar bis ans Ende des Lebens. Es muss nicht Musik sein. Aber Musik stimuliert, regt an, berührt, weckt Emotionen und Erinnerungen. Das ist doch wunderbar!
Da muss man nur noch hinhören?
Auch das blosse Musikhören tut gut, aber selbstverständlich ist das aktive Musizieren noch besser. Es gibt Studien, da haben Patienten nach Schlaganfällen zur Therapie Schlagzeug gespielt. Danach machten diese Patienten messbare Fortschritte in der Motorik. Finger, Hände oder Arme, die vorher gelähmt waren, konnten sie wenigstens teilweise wieder bewegen.
Wirkt Schlagzeugspielen in einer Band ähnlich wie Singen im Chor?
Ja. Man schafft etwas in der Gruppe. Das bringt die Leute vorwärts, sie haben neue Ziele, wenn sie Lieder lernen oder gar ein Konzert geben. Ziele halten die Menschen am Leben.

Lutz Jäncke, 56, ist Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Er gilt als einer der renommiertesten Hirnforscher der Welt. Sein neues Buch: «Macht Musik schlau?» Hans Huber Verlag. 456 Seiten, 49.90 Franken.

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