Wohnen im Denkmal

09.09.2013, Schweizer Familie
Wer möchte nicht gern in einem Denkmal wohnen? Wo es ur­chig ist, idyllisch, echt? Zum Beispiel in einem alten Bauerngut? Auf einem Schloss? In einer geschichtsträch­tigen Villa? Und warum nicht in einer ­Fabrik, die neu als Loft genutzt wird? Oder wenigstens in einer Scheune, die nur von aussen ewig gestrig ausschaut?All das gibt es. Doch nicht in jedem Fall ist das Wohnen im Denkmal ein teurer Lifestyle, Luxus. Es ist vielmehr ein Wunsch, ein Traum, der mehr als Geld verlangt: Herzblut.
Kaspar Rhyner, 80 , kennt das gut. Als Berufsmann, Politiker und Privatmensch. Er war einmal Bauunternehmer, 27 Jahre lang Regierungsrat im Kanton Glarus, acht Jahre FDP-Ständerat in Bundesbern.
Eines Abends fuhr Kaspar Rhyner mit seiner Frau nach Glarus. Ins Kino wollten sie. Da winkte ein Bauer mit der Heugabel. Endlich erhalte seine Genossenschaft die lang ersehnte Milchannahmestelle: im baufälligen Suworowhaus.
Sofort wendete Kaspar Rhyner sein Auto und fuhr zurück nach Elm direkt zum Gemeindepräsidenten. Resultat: Rhy­- ner selber kaufte das Suworowhaus, und zwar aus einer einzigen Motivation: «Damit es nicht abgerissen wird.»
Seither wohnt er hier, restauriert alte Schränke, empfängt Gäste, auch solche, die nur zufällig vorbeiwandern. Zudem vermietet er drei Wohnungen zu Preisen, für die man in Zürich keine Abstellkammer bekäme. Auch hat er die früheren Rauchöfen wieder zum Funktionieren ­gebracht. Jeden November räuchert er Schinken. Das ist eine Reverenz an General Suworow, der sich mit den letzten seiner 14 000 ausgehungerten Soldaten in diesem Elmer Haus selber bedient hatte: damals im Jahre 1799.Baudenkmal mit 2500 PersonenAber nicht jedes Gebäude, das heute unter Schutz gestellt ist, muss historisch alt sein und nicht einmal besonders vornehm. Das grösste Baudenkmal der Schweiz besteht aus fünf Hochhäusern zu 20 Etagen, acht vertikal dazugestellten Blöcken zu acht Etagen, drei Mehrfamilienhäusern zu vier Etagen und 18 Einfamilienhäuschen, die in zwei Reihen platziert sind.

Es handelt sich um das Tscharnergut in Bern-Bethlehem. Eine Siedlung, die vor 55 Jahren hochgezogen wurde. Das «Tscharni», wie es von seinen Bewohnern freundschaftlich genannt wird, war für seine Zeit einmalig. «Revolutionär», wie es der oberste Berner Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross sagt. Just darum ist das Tscharni als Ganzes «schützenswert». Denn auch künftige Generationen sollen sehen und erleben, wie die Schweiz in den späten Fünfzigerjahren auf die Wohnungsnot und die neuen Ansprüche an Badezimmer und Küchen reagiert hat.
Heute wohnen und leben immer noch 2500 Personen im Tscharni, darunter viele Familien mit Kindern dank zahlbaren Mieten. Das Umfeld passt bis heute zur Bewohnerschaft: Die Schule, die Kinderkrippen, das Restaurant, der Laden, die Bibliothek, der Jugendtreff, die Poststelle – all das gibts im Tscharni inklusive.

Kein Fassadenschwindel

Selbstverständlich bietet die Stadt Bern ein anderes Quartier, das in den Augen von Touristen und der meisten Einheimischen schon eher als schützenswert gilt: die Altstadt, ausgezeichnet als Welterbe der Unesco. Tatsächlich steht der ganze Teil vom Zytgloggeturm abwärts bis zur Nydeggbrücke vollständig unter Schutz. Jeder Brunnen, jedes Trottoir, jede Laube, jeder Innen- und Hinterhof, jede steile Treppe zum Keller hinunter bis zum letzten Dolendeckel – alles soll auch von künftigen Generationen belebt werden.

«Belebung» – so lautet das Zauberwort der Denkmalpflege. Die Erhaltung einer historisch bedeutsamen Fassade ist zwar bereits eine Leistung. Aber es geht um mehr. Sonst wäre «alles nur Fassade», wie Kritiker monieren. Hinter der sich womöglich nur lauter Anwaltskanzleien, Edelboutiquen, Arztpraxen verbergen.
In der unteren Altstadt von Bern jedoch wohnen weiterhin 2300 Personen. Das sind fast gleich viel wie im Tscharni. Allerdings sind in der unteren Altstadt die Alleinstehenden übervertreten und Familien mit Kindern untervertreten. Aber deswegen steht nicht alles still. Gerade die Denkmalpflege ist kein Bremsklotz, sie kann auch Lokomotive spielen.
Zum Beispiel an der oberen Junkerngasse direkt beim Berner Münster im Herzen des Unesco-Welterbes. Das war einmal Standort für Büros der kantonalen Steuerverwaltung. Ganze Vorder- und Hinterhäuser mit historischer Substanz und prächtiger Aussicht waren zu Arbeitsplätzen umgebaut und damit «zweckentfremdet» worden.
Bis der Kanton verkauft hat. Inzwischen hat der neue private Eigentümer sein Versprechen eingelöst und neuen Wohnraum geschaffen, aktiv unterstützt von der Denkmalpflege samt archäologi scher Beratung. Dabei wurden ­Schätze ge rettet, von denen niemand etwas wusste.

Frische Polenta aus dem ofen

Wie in Bern wird auch andernorts alten Gemäuern neues Leben eingehaucht. An der Gerbergasse in Bischofszell TG hat Pius Biedermann, Inhaber eines früheren Molkerei-Ladens, in derselben Häuser­zeile ein zweites Haus gekauft und soeben frisch umgebaut. Zum Beispiel wurde das Dach vollständig mit jahrhundertealten Mönch- und Nonnenziegeln gedeckt. So gesehen war das eine Rückwärtsrenovation. Aber wer von der Gasse her die an­tike Haustür öffnet, steht in einem nigel nagelneuen Eingang aus Glas. An der Seite werden gerade neue Briefkästen montiert. Warten Besucher auf die ­Stimme in der Gegensprechanlage, haben sie freien Blick auf einen neu installierten Lift, amtlich bewilligt.

All das wird nicht etwa zur privaten Geheimzone erklärt. Ende Juni gab es sieben Tage der offenen Tür. 3000 Besucher strömten herein. Der Hausherr offerierte frische Polenta und Pizza. Und demons­trierte damit, dass die beiden Kachelöfen keine Staffage sind. Ein Möbelhaus nutzte die Gelegenheit zu einer Ausstellung von modernen Design-Sofas, damit der Ofen aus dem Jahre 1684 noch schöner zur ­Geltung kommt.

Jede ecke kennengelernt

Dass die Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutz auch an die Nerven gehen kann, hat Zina Lindemann erlebt. Die 47 -jährige Architektin hat ihr eigenes Haus im zürcherischen Kyburg renoviert – und vor dem Zerfall bewahrt. Sie will nichts beschönigen. Wenn sie durch ihr Haus führt, zeigt sie auch auf die wunden Punkte, um die mit harten Worten gerungen wurde. Zum Beispiel auf den wunderschönen Holzbalken, der das Haus von hinten bis vorn durchquert. Nach der Renovation hätte er leider mitten durch die Stube geführt, sodass alle Besucher darüber gestolpert wären.

So weit kam es nicht. Nach einem Hin und Her lenkte die Denkmalpflege ein. Die Hausherrin durfte gezielt eine Säge zum Einsatz bringen. An andern Stellen jedoch musste sie Rücksicht nehmen «Beim Umbauen habe ich jede kleine Ecke in meinem Haus kennengelernt», sagt Zina Lindemann und sieht das als Gewinn.
Das war aufwendig – und vor allem auch kostspielig. Genau darüber klagt manch stolzer Denkmal-Eigentümer. «Die meisten Leute, die über die Denkmal­pflege schimpfen, haben noch nie einen Denkmalpfleger gesehen», wehrt sich Beatrice Sendner, Leiterin der Denkmalpflege im Kanton Thurgau.
Damit tönt sie an: Beide Seiten müssen aufeinander zugehen. Wer die Amtsstellen früh informiert und direkt involviert, kann konstruktive Lösungen erreichen, die letztlich allen dienen.

Die Kunst des Kompromisses

So war es auch im Tscharni, in Bern-Bethlehem. Dort besitzt die Genossenschaft Fambau unter anderem einen achtstöckigen Block. Die Leitungen waren kaputt, das Abwasser tröpfelte, die zu dünnen Decken waren morsch. «Ich hätte den Block am liebsten abgerissen», sagt Walter Straub, der Geschäftsführer der Genossen schaft Fambau. Doch das durfte er nicht.

Jetzt hat der Genossenschafter Walter Straub mit dem Denkmalpfleger Jean-­Daniel Gross einen «Kompromiss» ausgehandelt. Eine Fassade, die ohne jeden Zweifel total saniert werden muss, darf verschoben werden, immerhin um drei Meter. Womit die kleinsten Wohnungen im Tscharni ein klein wenig grösser werden.
Aber solche Kompromisse braucht es, um denkmalgeschützte Bauten zu bewahren. Geschichte ist schliesslich nichts Totes; sie lebt. Da muss auch ein altes Haus schon einmal mit der Zeit gehen.

Suworowhaus in Elm GL

Baujahr: 1671, Bürgerhaus

Holzdecke, offene Balken an der Wand, schwarzer Schieferboden: Am Inventar des Suworowhauses hat der neue Hausherr nichts geändert. Nur den Teppich hat Kaspar Rhyner hingelegt. Das Suworowhaus prägt mit seiner mit Barockmalereien verzierten Fassade den Elmer Dorfkern bis heute. Das Innere ist zugänglich: Neben der schwarzen Gedenktafel führt eine Treppe hinunter ins Restaurant, das von November bis Ostern geöffnet ist.

Tscharnergut in Bern

Baujahr: 1958–1965, Wohnsiedlung

Walter Straub, 56, ist Präsident der Wohngenossenschaft Fambau, die im Tscharnergut in Bern, dem grössten Baudenkmal der Schweiz, Wohnungen besitzt. Im grossem Stil schuf die Schweiz hier Ende der Fünfzigerjahre günstigen Wohnraum. «Die Bewohner schätzen das viele Grün», sagt Straub. Und die günstige Miete. Heute kosten die billigsten Dreizimmerwohnungen weniger als 700 Franken. Sind sie frisch saniert, steigt der Preis auf über 1000 Franken. Straub wohnt selbst nicht im Denkmal. «Würde ich in meine eigene Siedlung einziehen, wäre ich auch noch Hausabwart.»

Zeilenhaus in Bischofszell TG

Baujahr: 1473

Pius Biedermann, frisch pensioniert, zieht nicht ins Denkmal ein. Er will seine vier renovierten Wohnungen vermieten. Aber er freut sich sehr, dass er dieses Projekt geschafft hat – unterstützt von der Thurgauer Denkmalpflegerin Monika Zutter. Dabei haben sie moderne Akzente gesetzt, zum Beispiel eine Treppenspirale. Die dicke weisse Steinmauer zeigt: Dieses Zeilenhaus war einst Teil der Stadtmauer. Das Haus selber stammt aus dem Jahr 1473, wie eine Untersuchung der Holzbalken zeigte.

Bauernhaus in Kyburg ZH

Baujahr: um 1760

Das Alte schliesst das Moderne nicht aus: Als Architektin wusste Zina Lindemann, wie man beides verbindet. Glas bringt Licht ins Bad. Von der Scheune aus hat man dank Glaswand freie Sicht ins Treppenhaus, von der Stube aus freie Sicht in die Scheune. Während manche urwüchsige Bohlenwand unangetastet blieb, ist Smillas Zimmer hingegen neu. Der Holzschrank hat nichts mit dem Haus zu tun. Er stammt aus dem Appenzell. Zina Lindemanns Mutter war Bauernmalerin.

FRAGEN UND ANTWORTEN RUND UM DAS THEMA DENKMALPFLEGE

Was ist Denkmalpflege?
Die Erhaltung wertvoller Bauten entspricht einem öffentlichen Interesse. Die Kantone und grösseren Städte führen eigene Amtsstellen. Darum gibt es in der Schweiz 26 kantonale und etliche städtische Denkmalpflegen.

Wann wird ein Haus unter Schutz gestellt?
Wenn ein Gebäude baukünstlerisch, sozialgeschichtlich oder bautechnisch interessant und einmalig ist. Dies betrifft nicht nur das Äussere, auch Innenräume können wertvoll sein. Oder ganze Ortskerne.

Wie erfahren die Besitzer davon?
Im Grundbuch steht nichts davon. Wer sich vor dem Kauf informieren will, muss sicherheitshalber die Gemeinde anfragen. Vielerorts gibt es ein Inventar der Denkmalpflege. Dieses ist öffentlich zugänglich, oft im Internet samt Fotos.

Wie mischt sich die Denkmalpflege ein?
Bei jedem Baugesuch prüft das Amt, ob das Objekt im Inventar der Denkmalpflege aufgeführt ist. Falls ja, muss die Denkmalpflege dazu Stellung nehmen. Meist nehmen Bauherrschaft, Architekten und Denkmalpflege aber schon während der Projektierung miteinander Kontakt auf.

Wie sollen die Betroffenen reagieren?
Indem sie selbständig mit der Denkmalpflege Kontakt aufnehmen. Am besten noch bevor sie das Baugesuch einreichen. Dann sind von Anfang an kreative Lösungen möglich, mit denen allen Seiten geholfen ist.

Wirkt eine Unterschutzstellung wertsteigernd?
Nicht unbedingt. Weil der Käufer in seiner Freiheit eingeschränkt wird. Alle Veränderungen am Gebäude müssen im Einvernehmen mit der Denkmalpflege erfolgen.

Wirkt die Unterschutzstellung wertmindernd?
Auch nicht unbedingt. Das Schweizer Volk schätzt den Reiz des Originalen und Historischen hoch ein. Dies zeigen auch die Abstimmungen über die Zweitwohnungs- oder die Kulturlandinitiative.

Gibt es staatliche Fördergelder für besonders teure, aber nötige Renovationen?
Ja, aber nur in Ausnahmefällen. Und die Subventionen fliessen immer spärlicher. Immerhin darf man die meisten Kosten von den Steuern abziehen.

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