Ein Bühnenbild für die Fantasie

Weekendtipp: Das Ruinendorf Prada ob Bellinzona

20.11.2014, Schweizer Famili

In Bellinzona komme ich an, weil ich verpasst habe, in Arth-Goldau aus dem Zug zu steigen. So etwas kann passieren. Wohin jetzt in den Wanderschuhen? Keine Ahnung, aber auf dem Bahnhof wird schwarz auf gelb angezeigt: «Prada, 1 ½ h». Sollte reichen fürs Mit t agessen.Stufe für Stufe gehts aufwärts. Arth-Goldau ist endgültig aus dem Sinn, jetzt grüssen Palmen. Zehn Grad mild ist es, vier Stunden Sonne bietet ein Novembertag in Bellinzona – im Durchschnitt. Heute sind es zwei, drei Stunden mehr.
Die geteerte Treppe mündet in einen Weg aus Pflastersteinen. Ein alter Römerpfad, denke ich, bin aber auf der falschen Fährte. Links rauscht ein Bach. Es wird bergiger und der Kastanienwald dichter. Das Dorf ­Prada müsste gleich hinter der nächsten Ecke liegen.
Tut es nicht. Stattdessen im steilen Gelände mitten im stillen Wald: ein altes Gemäuer, fast hätte ich es übersehen. Daneben weitere Ruinen. Das müssen einst stattliche Gebäude gewesen sein mit drei, vier Stockwerken. Runde Bögen deuten auf grosszügige Fenster und Tore, gewiss keine armen Häuser waren das. Nun dämmern sie im Dorn­röschenschlaf vor sich hin. Kein Efeu überwuchert sie, jemand pflegt diese Ruinen für Gottes Lohn. Als archäologischer Laie bin ich mir zumindest in einem Punkt sicher: Prada ist keine Römersiedlung. Prada ist jünger.

Plötzlich leuchtet ein Gemisch aus Orange und Rot: die Kirche im Dorf. Von der Aussenfassade blicken zwei Männer mit Heiligenschein etwas grimmig. Die ganze Bemalung ist neueren Datums. 12 agosto 2001 ist in die Tafel graviert.

Prada – so viel ist mir inzwischen klar, ist keine grüne Wiese mit heimeligem Grotto. Prada ist ein Geisterdorf plus Kapelle. Schattig, mulmig, leer, mysteriös, geheimnisvoll, sagenhaft. Die Menschen werden dieses Dorf gemeinsam verlassen haben, alle Ruinen sehen gleich alt aus.

Tatsächlich soll im Jahre 1629 die Borromäische Pest in Prada gewütet haben. Das ganze Dorf sei ein einiges Lazarett gewesen, heisst es. Seither ist es nicht mehr besiedelt.

Heute ist immerhin der Platz vor der Kirche neu gestaltet. Mit einer Feuerstelle und Steintischen für Wandergruppen. Bloss: Wann kommen so viele Leute hierher? An genau zwei Tagen im Jahr: Am Pfingstmontag und am ersten Sonntag im August wird in der winzigen Kirche von Prada, die dem heili gen Hieronymus geweiht ist, eine Messe zelebriert. 120 Personen pilgerten jeweils hierhin, meldet das Tourismusbüro von Bellinzona. Ich habe nicht nur den falschen Bahnhof, sondern auch die falsche Jahreszeit erwischt.
Zurück gehts auf direktem Weg Richtung Giubiasco. Vorbei an einem schaurig-schönen Kin derspielplatz im dunklen Wald gelange ich endlich zum Grotto Scarpapè. Allerdings stehe ich vor einem geschlossenen Tor, das Lokal ist nicht mehr in Betrieb. Und das ist denn auch schon das Ende meiner heutigen Zeitreise: Ich stieg zu spät aus dem Zug, landete im 17 . Jahrhundert und verpasste das Mittagessen.
Doch was hätte ich erlebt, wenn ich im richtigen Bahnhof ausgestiegen wäre? Die Rigi ob Arth-Goldau? Die Eggberge ob Flüelen? Beide Destinationen sind meist nebelfrei – dafür total überlaufen. Prada ob Bellinzona jedoch – das ist mein neuer ­Geheimtipp.

Bereits erschienene Weekendtipps finden Sie unter www. schweizer familie.ch/weekendtipps

Hinfahrt: Via Bellinzona.
Der schöne Fussweg: von Bellinzona Bahnhof via die sehenswerte Kirche von Ravecchia nach Prada. Eineinhalb Stunden. Lauschiger Kastanienwald mit Bachtobel. Man darf Pausen machen.
Der bequeme Fussweg: Von Pedevilla (Postautohaltestelle) durch die Weinberge von Scarpapé nach Prada.
Verpflegung: Casa del popolo. Bellinzona. Einer der besten Sonntag-Mittag-Tische im Kanton Tessin.
Telefon 091 825 29 21
Allgmeine Informarmationen:
Bellinzona Turismo
091 825 21 31
www.bellinzonaturismo.ch mit einer Extra-Seite zu Prada
Buchtipp: Pierluigi Piccaluga: Prada, Racolta di Notizie. Nur in italienischer Sprache. Zu beziehen beim Ente Turistico. Im Dezember erscheint eine neue erweiterte Ausgabe

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